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Deutlich sichtbar ist bereits jetzt, dass Branchen mit schlechteren Arbeitsbedingungen verstärkt unter einem Mangel an Interessierten an einer Lehre leiden. Ob das auch für die Pflege gilt, die seit Jahren über sehr herausfordernde Arbeitsbedingungen, wie z.B. fehlende Zeit für Praxisanleitung etc. klagt, bleibt damit abzuwarten. Die Erfahrung aus anderen Branchen zeigt zudem, dass ein erfolgreicher Lehrabschluss (LAP) nicht immer gegeben ist. Über die Jahre zeichnet sich ein negativer Trend ab. Seit 2002 sinkt der Anteil bestandener Lehrabschlussprüfungen kontinuierlich mit nur wenigen Ausnahmen. Mittlerweile hat beinahe jeder vierte Lehrling in Österreich einen negativen Abschluss bei der Lehrabschlussprüfung. Ein Grund dafür ist auch die oft mangelhafte Begleitung in Lehrbetrieben.
Laut einer Umfrage in Oberösterreich ist für 27 % der Befragten ein Pflegeberuf in der Altenarbeit sehr bzw eher attraktiv. Rund ein Viertel hat ein grundsätzliches Interesse am Pflegeberuf. Das Potential in Oberösterreich beläuft sich demnach auf rund 44.000 Personen. Eine Studie des Instituts für Jugendkultur im Auftrag der Arbeiterkammer Niederösterreich stellt die Situation etwas anders dar. So konnten sich im Jahr 2021 nur 17 % der befragten Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren auf jeden Fall vorstellen, einen Pflegeberuf zu ergreifen. Immerhin 24 % würden sich die Wahl eines Pflegeberufs vorstellen können, wenn die Rahmenbedingungen verbessert werden. Wie viele (junge) Menschen sich schlussendlich für die Pflegelehre entscheiden, bleibt abzuwarten.
Die (un)endliche Geschichte der Pflegelehre in Österreich
Bereits in den 2000er-Jahren wurde über die Einführung der Pflegeausbildung in Form einer Lehre diskutiert. Besonders die Wirtschaftskammer drängt seither auf die Umsetzung dieser Ausbildungsmöglichkeit, um dem Personalmangel in der Pflege entgegenzuwirken. Es wurden schon konkrete Versuche unternommen, die Pflegelehre umzusetzen. Beispielsweise startete 2011 in Vorarlberg ein Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit dem Land Vorarlberg, der Wirtschaftskammer und der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege. Auch wenn die Modellversuche aufzeigen, dass die Anzahl der Absolvent:innen, die tatsächlich in der Pflege arbeiten, gering ist, wird an dieser Form der Ausbildung festgehalten. Im Programm der aktuellen Bundesregierung taucht die Pflegelehre wieder auf und wurde schließlich Teil der im Mai 2022 präsentierten Pflegereform. Ab Herbst 2023 soll es möglich sein, die Pflegekompetenzen im Rahmen einer Lehrausbildung erwerben zu können. Durch diese Ankündigung wurde die Einführung der Pflegelehre erneut medial und auf Expertenebene diskutiert. Erste Details wurden durch das zuständige Arbeits- und Wirtschaftsministerium skizziert, ohne eine gesetzliche Grundlage geschaffen zu haben. Wie im Rahmen der Pflegereform üblich, erfolgt die Umsetzung des „Projekts“ Pflegelehre in mehreren Etappen. Im Februar fiel etwa der Startschuss für eine Novelle des Berufsausbildungsgesetzes durch die Einleitung des Gesetzesbegutachtungsverfahrens. Am 27. April wurde die Pflegelehre im Nationalrat behandelt und dem Ausschuss für Wirtschaft, Industrie und Energie zugewiesen.
Kritiker:innen weisen seit Beginn der Diskussionen zur Einführung der Pflegelehre auf das Problem des frühen Einstiegsalters von 15 Jahren in der Ausbildung hin. In einer Europäischen Rahmenrichtlinie aus 1973 wird bereits die Empfehlung ausgesprochen, dass junge Menschen in der Pflegeausbildung nicht vor 17 Jahren für Tätigkeiten am Patienten eingesetzt werden sollen.
Die Pflegelehre – der aktuelle Stand
Bisher findet sich nur wenig zur konkreten Ausgestaltung der Pflegelehre. Bekannt ist, dass der Ausbildungsversuch im Herbst 2023 starten soll. Hierbei sollen einzelne Bundesländer (Oberösterreich, Vorarlberg, Niederösterreich) als Pilotregionen dienen. Geplant ist eine dreijährige Lehre mit dem Abschluss „Pflegeassistenz“ und eine vierjährige Variante mit dem Abschluss „Pflegefachassistenz“. Der Abschluss soll darüber hinaus den Zugang zur Ausbildung zur / zum diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger:in an einer Fachhochschule ermöglichen. Nach aktuellem Stand ist ein Abschluss als Pflegeassistenz bei Scheitern in der Ausbildung zur Pflegefachassistenz nicht möglich. Für die Tätigkeit an Patient:innen ist ein Mindestalter von 17 Jahren vorgesehen. Erst danach sollen die Jugendlichen Schritt für Schritt an pflegerische Tätigkeiten herangeführt werden. Wie dies in der Praxis gelingen kann, ist mangels vorhandener Ausbildungsverordnungen noch offen. Eine Evaluierung soll erst nach sechs Jahren erfolgen.
Immer wieder wird die Pflegeausbildung der Schweiz als Vorbild herangezogen. Dieses seit 2004 bestehende Ausbildungsmodell unterscheidet zwischen einer dreijährigen Lehre zur/zum „Fachfrau/-mann Gesundheit“ und einer zweijährigen Alternative zum/zur „Assistent:in Gesundheit und Soziales“. Dabei können die Jugendlichen bereits mit 15 Jahren mit der Ausbildung starten. Andere Startwege in die Pflege, sind im Unterschied zu Österreich, nicht möglich. Ihr Abschluss ermöglicht einen verkürzten Zugang zur Diplomausbildung. Dem Modell wird eine hohe Drop-out-Rate zugeschrieben. So sollen drei Jahre nach dem Lehrabschluss nur noch ein Drittel der Ausgebildeten in diesem Beruf tätig sein. Laut der nationalen Dach-Organisation der Arbeitswelt Gesundheit (OdASanté) bleiben aber 80 % der Fachkräfte in Gesundheitsberufen, indem sie sich weiter qualifizieren und in andere Berufe des Gesundheitswesens wechseln.
Am 26.04.2023 „fixierte der Ministerrat die neue Pflegelehre“. Im Herbst soll in kleinen Schritten mit drei Berufsschulklassen gestartet werden. Laut Arbeitsminister Kocher soll es im Vollausbau bis zu 1.000 Lehrlinge geben. Am 27. April wurde die Pflegelehre im Nationalrat intensiv diskutiert und dem Ausschuss für Wirtschaft, Industrie und Energie zugewiesen.
Befürworter:innen und Kritiker:innen
Die geplante Einführung der Pflegelehre wird durchaus kontrovers diskutiert. Teils wird massiv Kritik geübt, aber immer wieder gibt es auch positive Stellungnahmen. SPÖ und Neos äußern Kritik an der geplanten Pflegelehre. ÖVP, Grüne und Freiheitliche sehen hingegen enormes Potential in der neuen Ausbildungsform. Arbeiterkammer und ÖGB lehnen die Pflegelehre ab und fordern eine Verbesserung der Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen. Kritisch äußert sich auch der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband: Die in den Pflegeberufen erforderliche Reife könne bei Jugendlichen im Alter von 15 Jahren nicht vorausgesetzt werden. Er prognostiziert eine hohe Drop-out-Rate, da die Lehrlinge in den ersten Jahren, vor Vollendung des 17. Lebensjahres, lediglich als Hilfskräfte eingesetzt werden könnten. Immer wieder taucht auch die Befürchtung auf, dass junge Menschen durch eine vorschnelle Einführung traumatisiert und dadurch langfristig aus der Pflege gedrängt würden. Die Gesundheitsgewerkschaft (GÖD) führt zudem aus, dass die Beschäftigten in der Pflege aufgrund des Personalmangels bereits jetzt vor großen Herausforderungen stünden und die Anleitung und Begleitung der Auszubildenden sie noch weiter an ihre Grenzen führen würden. Zudem verweist die GÖD darauf, dass die Ausbildungszeit durch die Lehre verdoppelt werden würde. Die Ausbildung in der Pflegefachassistenz soll statt zwei Jahren dann vier Jahre dauern und die in der Pflegeassistenz statt einem Jahr drei Jahre. Ein Vergleich mit dem Schweizer System wäre kaum möglich, da die Pflegelehre in der Schweiz der einzige Weg in den Beruf ist und mehr Geld in die Lehrausbildung investiert werden würde. Auch das Rote Kreuz übt sich in Kritik und sieht die Rahmenbedingungen als noch nicht ausreichend geklärt an. Die Wirtschaftskammer hingegen kann der Pflegelehre einiges Positives abgewinnen. Auch seitens des Seniorenrats kommt Unterstützung für die Pflegelehre. Dieser weist aber gleichzeitig darauf hin, dass es zu keiner Überforderung der Jugendlichen kommen dürfe. Unter den Beschäftigten in der Pflege wird die geplante Einführung der Pflegelehre kontrovers diskutiert. Viele freuen sich auf die Entlastung und sehen es als Chance für junge Menschen, andere können sich die Ausbildung unter den derzeitigen Bedingungen nicht vorstellen und fragen sich, wer die Begleitung übernehmen soll.
Offene Fragen
Aus den derzeit bekannten Fakten lassen sich nur wenig Schlüsse auf die konkrete Ausgestaltung der Pflegelehre ableiten. Fraglich ist unter anderem, welche Aufgaben die Auszubildenden vor Vollendung des 17. Lebensjahres übernehmen können oder dürfen. Die „Alterslücke“ zwischen dem Ende der Pflichtschulzeit und dem Einstieg in die Pflegeausbildung ist zwar mit Einführung der Pflegelehre geschlossen, da aber das Arbeiten am Patienten erst ab 17 Jahren möglich sein soll, ergibt sich hierbei keine zufriedenstellende Lösung. Außerdem fehlt die Möglichkeit, bei Scheitern in der Ausbildung „Pflegefachassistenz“ auf die Ausbildung „Pflegeassistenz“ umzusteigen. Dies führt in der Praxis dazu, dass der Lehrling entweder von vorne beginnen müsste oder ohne Abschluss als Hilfskraft eingesetzt werden könnte. Diese Sackgasse bringt die Gefahr eines frühen Ausbildungsabbruches mit sich. Fraglich ist, ob dies einem Pflegenotstand tatsächlich entgegenwirkt.
Auch ist unklar, ob sich das duale System der Lehre überhaupt auf Pflegeberufe übertragen lässt. In einer klassischen Lehrausbildung nimmt der praktische Teil rund 80 % des Gesamtumfangs der Ausbildung in Anspruch. Die verbleibenden 20 % bilden den theoretischen Teil, der damit verhältnismäßig gering ist. In der aktuell möglichen Ausbildung der Pflegeassistenz und Pflegefachassistenz muss mindestens ein Drittel der gesamten Ausbildungsdauer auf die praktische und mindestens die Hälfte auf die theoretische Ausbildung entfallen. Eine direkte Übertragung des klassischen Systems der Lehrausbildung auf die Pflegeberufe ist somit nicht möglich. Die vorhandenen Informationen geben keinen klaren Aufschluss auf eine mögliche Lösung dieses Umstandes. Aus dem Entwurf kann jedenfalls abgelesen werden, dass eine relativ umfangreiche Sonderregelung geschaffen werden soll, die für das Erlernen der Pflegeberufe erforderlich scheint. Dies wirft die Frage auf, ob bei der Notwendigkeit einer solchen Vielzahl von Ausnahmen vom Grundmodell die Lehre wirklich eine geeignete Ausbildungsform für Pflegeberufe darstellt. Ebenfalls ist nicht abschließend geklärt, wo der schulische Teil der Ausbildung stattfinden soll. Denkbar wäre die Schaffung einer eigenen Berufsschule oder die Nutzung der bestehenden Schulen der Kranken- und Gesundheitspflege. Dies wirft weitere Fragen hinsichtlich der verlangten Kompetenz des Lehrpersonals auf, denn auch in diesem Arbeitsfeld ist seit Jahren ein Mangel zu verzeichnen. Im praktischen Teil der Ausbildung drängen sich ebenfalls Fragen nach der kompetenten Begleitung der Auszubildenden auf.
Herausforderungen und Chancen für die Zukunft
Wesentlich für die Zukunft ist die Frage der Eignung der Einrichtungen als Lehrbetriebe. Im aktuellen Entwurf sind konkrete Anleitungen, welche Kriterien bei der Feststellung der Eignung einer Einrichtung als Lehrbetrieb herangezogen werden oder zu erfüllen sind, ausständig. Vor allem im Bereich der mobilen Pflege und Betreuung bleibt offen, wie hier eine Umsetzung der vorgegebenen praktischen Lerninhalte möglich sein soll. Die ersten Ausbildungen sind bereits für Herbst 2023 geplant und die Einrichtungen wissen nicht, welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um sich überhaupt als Lehrbetrieb bewerben zu können. Auch der konkrete Finanzierungsplan für die Ausbildungsstätten und Lehrlinge ist noch ausständig.
In Hinblick auf die angespannte Situation im Pflegebereich und den Pflegefachkräftemangel sehen einige Parteien und Arbeitergeber:innen in der Pflegelehre einen ersten Ansatz, diesem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Fraglich bleibt jedoch, ob ohne konkrete Verbesserungen der Arbeits- und Rahmenbedingungen in diesem Arbeitsfeld eine wirkliche Attraktivitätssteigerung des Pflegeberufs erreicht werden kann. Die Pflegelehre wird nicht das Wundermittel sein. Es braucht weitere Pflegereformen, die jetzt eingeleitet werden müssen.