Beklatschte Systemrelevanz: eine feministische Perspektive auf die kritische Infrastruktur der Daseinsvorsorge

01. März 2022

Mit den pandemiebedingten Krisen rückten die sogenannten Systemerhalter*innen ins Zentrum öffentlicher Debatten. Und damit die Frage, welche Rolle schlecht bzw. unbezahlte Frauenarbeit in unserem Wirtschaftssystem spielt. Wer zählt als Systemerhalter*in? Und was wird unter dem Begriff einer „kritischen Daseinsvorsorge-Infrastruktur“ verstanden? Wir gehen von einem breiten Verständnis von lebensnotwendiger kritischer Infrastruktur aus und stellen uns die Frage, warum zentrale Wirtschaftsbereiche von Unterfinanzierung, geringer Wertschätzung und schlechten Arbeitsbedingungen geprägt sind.

Auswirkungen der Pandemie auf die Geschlechterverhältnisse in Österreich

Die von der COVID-19-Pandemie ausgelöste Krise am Arbeitsmarkt zeigt deutliche Unterschiede zur Wirtschaftskrise 2008. Während die Arbeitslosenquote von Männern von 2008 auf 2009 um 30,2 Prozent auf 8 Prozent stieg, erhöhte sie sich bei den Frauen nur um 13,4 Prozent auf 6,4 Prozent. Im Rahmen der Pandemie stieg die Arbeitslosenquote der Männer von 2019 auf 2020 um 33,5 Prozent auf 10,1 Prozent, die der Frauen um 36,8 Prozent auf 9,7 Prozent. Während Männer im ersten Lockdown noch stärker von Arbeitslosigkeit betroffen waren, schlug sich die ausbleibende Wintersaison im Tourismus während des zweiten Lockdowns ab Herbst 2020 stärker auf die Frauenarbeitslosigkeit nieder.

Einen sehr großen Einfluss hatten die Folgen der Pandemie zudem auf unbezahlte Arbeit wie Hausarbeit und Kinderbetreuung. Dies war vor allem bedingt durch Lockdowns, Schließungen von Schulen und Kindergärten, der Nichtverfügbarkeit von Großeltern sowie durch Quarantänebestimmungen. Die Krisenbewältigung intensivierte die ohnehin ungleiche Verteilung von unbezahlter Arbeit – weiter zulasten von Frauen. Viele Eltern mussten für die Betreuung ihre Arbeitszeit reduzieren: Mütter könnten dadurch allein im ersten Lockdown 4.440 Euro durch Verdienstentgang verloren haben, Väter im Schnitt ca. 2.160 Euro.

In der Vergangenheit zeigte sich, dass auch die Nachwehen von Wirtschaftskrisen eine Mehrfachbelastung von Frauen nach sich ziehen. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu, die häufig schlechter bezahlt oder befristet sind. Gleichzeitig steigt der Anteil an unbezahlter Arbeit, die Frauen im Privathaushalt leisten müssen, um Einsparungen des Staates in der Sozial-, Familien- und Gesundheitspolitik auszugleichen. Diese Folgen könnten drohen, wenn in Zukunft wieder Austeritätspolitik angewandt wird, um Budgets zu konsolidieren.

Von der kritischen Infrastruktur …

Grundsätzlich wird in Krisen der Blick darauf geschärft, welche Systeme gesellschaftlich und ökonomisch als besonders relevant erachtet werden. Im Rahmen der Wirtschaftskrise 2008 waren die Tageszeitungen gefüllt mit Debatten zur Systemrelevanz von Banken und Finanzinstitutionen. Die Pandemie hat das Narrativ grundlegend verändert: Nun stehen Berufe und Sparten im Fokus, die unsere Wirtschaft am Laufen halten und unser Überleben täglich sichern. In den Zeitungen wird den „Heldinnen des Alltags“ im Gesundheits- und Sozialwesen, an Schulen und im Handel gedankt.

Diese Bereiche können als „kritische Infrastruktur“ zusammengefasst werden. Der österreichische Gesetzgeber versteht unter diesem Begriff u. a. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, Katastrophenschutz und die unmittelbare Funktionsfähigkeit wichtiger Systeme wie Gesundheit, Energie, Abwasser, Lebensmittelversorgung oder des öffentlichen Verkehrs. Uns erscheint dieses Verständnis von kritischer Infrastruktur jedoch verkürzt. Wir schlagen eine Erweiterung des Begriffs hin zu einer „kritischen Daseinsvorsorge-Infrastruktur“ vor, die unser Überleben und unser psychisches und physisches Wohlbefinden sicherstellen und soziale Kohärenz erzeugen soll.

… zur kritischen Infrastruktur der Daseinsvorsorge: für eine erweiterte Definition

Aus unserer Sicht muss eine erweiterte Definition von kritischer Infrastruktur der Daseinsvorsorge mindestens folgende Punkte umfassen: Sie sollte die ständig anfallende Care-Arbeit so weit vergesellschaften, dass alle Mitglieder der Gesellschaft ihre intellektuellen, körperlichen und emotionalen Fähigkeiten bestmöglich entwickeln und regenerieren können. Eine kritische Infrastruktur der Daseinsvorsorge sollte so wenig wie möglich marktförmig organisiert werden, da sie der Logik kapitalistischer Rationalisierung zumeist nicht folgen kann. Denn die Bereitstellung von Bildung, Kinderbetreuung oder Altenpflege kann nicht anhand von Profitorientierung, zeitlicher Effizienzsteigerung und Einsparungspotenzialen geplant werden. Neben der herkömmlichen Definition von Infrastruktur als Einrichtungen, Systeme und Technik muss auch das entsprechende Personal – die Systemerhalter*innen – eine zentrale Rolle einnehmen. Eine kritische Infrastruktur der Daseinsvorsorge muss von Menschen getragen werden, die sozial- und arbeitsrechtlich abgesichert sind und sich kollektiv organisieren können.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Uns geht es darum, ein breiteres Verständnis von lebensnotwendiger kritischer Infrastruktur in der öffentlichen Debatte nachhaltig zu verankern. Doch warum sind gewisse Teile unserer Wirtschaft so zentral, gleichzeitig jedoch von Unterfinanzierung, geringer Wertschätzung und schlechten Arbeitsbedingungen geprägt?

Die „Care Penalty“

Mit Care-Arbeit wird die unbezahlte und bezahlte Arbeit mit und für verschiedene Gruppen verstanden: Kinder, Menschen, wenn sie zeitweise krank sind, pflegebedürftige oder auf sonstige Hilfe angewiesene ältere Menschen, Menschen mit längeren oder dauerhaften Beeinträchtigungen. Bezahlte Care-Arbeit ist im Vergleich zu anderen Sektoren schlechter bezahlt. Dafür gibt es viele Gründe. Die feministische Ökonomin Nancy Folbre betont z. B. die Verhandlungsasymmetrie: Arbeitsniederlegungen oder allein die Androhung von Streiks sind wichtige Mittel in Arbeitskämpfen um höhere Löhne. Personen, die Fürsorge-Arbeit leisten, sind hier jedoch sehr zurückhaltend, da eine Arbeitsniederlegung mit einem Entzug von Care-Arbeit für ihre Schützlinge einherginge, mit denen sie oftmals eine enge emotionale Bindung verbindet. In der akademischen Debatte spricht man daher von einer „Care Penalty“, die mit der Spezialisierung auf bezahlte Care-Arbeit einhergeht. Hinzu kommen hohe Teilzeitquoten und eine niedrige gewerkschaftliche Organisierung, die die individuelle und kollektive Verhandlungsposition weiter einschränken.

Zudem senkt die – zumeist von Frauen geleistete – unbezahlte Arbeit sowohl die Kosten von Lohnarbeit für Arbeitgeber als auch die Ausgaben des Staats. Denn ohne die Bereitstellung dieser Leistungen wären ein höherer Reallohn oder mehr staatliche Dienstleistungen nötig, um das gleiche Niveau an Wohlfahrt aufrechtzuerhalten. So gesehen ist unbezahlte Care-Arbeit eine Subventionierung der durch Märkte oder den Staat organisierten Teile der Wirtschaft auf Kosten von Frauen im Haushalt.

Sowohl bezahlte als auch unbezahlte Care-Arbeit sind also systemrelevant, bleiben jedoch entweder unterbezahlt und prekär oder ungleich verteilt. Hier könnte eine gut ausgebaute kritische Infrastruktur der Daseinsvorsorge entgegenhalten, die in ganz Österreich, auch in ländlichen Regionen, bereitgestellt werden müsste.

Systemerhalter*innen in der kritischen Infrastruktur der Daseinsvorsorge

Wer sind die Menschen, die die kritische Infrastruktur der Daseinsvorsorge tragen? In der jüngsten Debatte wurde von ca. 1 Million systemrelevanten unselbstständigen Beschäftigten in Österreich gesprochen, darunter ca. 227.500 Kassierer*innen und Regalbetreuer*innen, 157.500 Reinigungskräfte, 157.500 Lehrer*innen, 108.500 Berufsfahrer*innen und Lieferdienste und 143.500 Personen in der Pflege.

Unter der derzeit entlohnten sozialen Daseinsvorsorge können nach ÖNACE die Gastronomie, die öffentliche Verwaltung, die Bereiche Erziehung und Unterricht, das Gesundheitswesen, Heime (ohne Erholungs- und Ferienheime), das Sozialwesen (ohne Heime) sowie die Erbringung sonstiger überwiegend persönlicher Dienstleistungen subsumiert werden. Diese Sektoren beschäftigten im ersten Halbjahr 2021 im Schnitt knapp über 1,1 Millionen unselbstständig Beschäftigte, mit einem Frauenanteil von 64 Prozent.

Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie viel systemerhaltende Tätigkeiten im unbezahlten Sektor geleistet werden. Die letzte Zeitverwendungsstudie, auf Basis derer zuverlässige Schätzungen gemacht werden können, wurde in Österreich 2009 veröffentlicht. Auf Basis dieser Daten wurde der Wert unbezahlter Hausarbeit je nach Rechnungsart (Generalist*innen-, Spezialist*innen- oder Opportunitätskostenansatz) mit 68 Mrd. bis 115,4 Mrd. Euro beziffert.

Ein intersektionaler Blick lohnt sich

Viele Beschäftigte in systemrelevanten Berufen sind mit der Mehrfachbelastung von Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit konfrontiert: Rund ein Drittel hat mindestens ein Kind unter 14 Jahren im Haushalt. Zudem zeigt sich, dass vor allem in Berufen mit hohem Frauenanteil Beschäftigte wesentlich stärker unter Druck stehen, monatlich mit ihrem Gehalt auszukommen: 76 Prozent der Reinigungskräfte geben an, nur knapp oder nicht mehr mit dem Einkommen auszukommen. Bei Kassakräften und Regalbetreuer*innen beläuft sich der Anteil auf 70 Prozent, bei Beschäftigten in der Altenpflege und Behindertenbetreuung auf 53 Prozent. In allen drei Berufsgruppen liegt der Frauenanteil bei über 80 Prozent.

Armutsgefährdung trifft migrantische Beschäftigte häufiger als Beschäftigte ohne Migrationshintergrund. Im Einzelhandel geben beispielsweise über drei Viertel der Beschäftigten mit Migrationshintergrund an, ihr Einkommen reiche nur knapp oder gar nicht aus, ohne Migrationshintergrund sind es um fast 10 Prozent weniger. Das deutet auf eine systematische Benachteiligung von migrantischen Beschäftigten hin. Der Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund ist dabei in diesen Berufsgruppen besonders hoch und liegt bei 29 Prozent aller Reinigungskräfte und 19 Prozent aller Kassakräfte und Regalbetreuer*innen.

In einer besonderen Situation sind 24-Stunden-Betreuer*innen: In diesem Bereich sind fast nur migrantische Frauen tätig, insbesondere aus Rumänien und der Slowakei. Häufig kämpfen sie mit Problemen mit Agenturen, fehlender sozialer Absicherung, niedrigen Pensionen und Scheinselbstständigkeit. Die in Österreich arbeitenden Betreuerinnen sind Teil einer globalen Betreuungskette, die häufig wieder bei unbezahlter Arbeit in den Herkunftsländern der Betreuerinnen endet, in denen Verwandte die Betreuungspflichten in der Familie übernehmen müssen.

Investitionen in den Care-Bereich sind gefordert

Eine gut ausgebaute öffentliche Daseinsvorsorge unterstützt unser Überleben, besonders in Krisen. Dabei bringen Investitionen im Care-Bereich vielfältige Vorteile mit sich, die über die Bewältigung der Care-Krise weit hinausgehen. Berechnungen zeigen, dass Investitionen in den Care-Bereich höhere Beschäftigungsimpulse als Infrastrukturinvestitionen mit sich bringen. Zudem schaffen sie mehr Jobs für Haushalte mit niedrigen Einkommen.

Spätestens jetzt muss die Lehre aus der COVID-19-Krise sein, dass es in Österreich einer Aufstockung der Mittel bzw. Investitionen im Sozialbereich in mehrfacher Milliardenhöhe bedarf – etwa für Kinderbetreuung, Schulen und Langzeitpflege. Der Ausbau sozialer Dienstleistungen in hoher Qualität ist zentrale Voraussetzung für eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, um Branchen mit hohem Frauenbeschäftigungsanteil gesellschaftlich und ökonomisch aufzuwerten und um eine kritische Infrastruktur der Daseinsvorsorge sicherzustellen. Aufgrund der Verteilung der unbezahlten Care-Arbeit sowie des hohen Frauenanteils in den systemrelevanten Berufen kämen Investitionen in den Sozialbereich zunächst Frauen besonders zugute, letztlich würden sie jedoch dazu beitragen, das Leben der meisten Menschen zu verbessern.

Dieser Beitrag ist stark gekürzt und als Vollversion in der Zeitschrift„Kurswechsel“ zum Schwerpunkt „Politische Ökonomie kritischer Infrastruktur“ (4/2021) erschienen.

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