In Zeiten von Corona muss die Frage der Systemrelevanz neu diskutiert werden und damit auch die von systemrelevanter Arbeit. Systemrelevante Arbeit findet nicht nur als – oft prekäre und schlecht bezahlte – Erwerbsarbeit, sondern auch als gänzlich unbezahlte Sorgearbeit statt. Das trifft in Zeiten von Home-Office und Home-Schooling umso mehr zu. Die Verantwortung für Sorge obliegt insbesondere Frauen* und Migrant*innen, die nun zusätzlich die psychosozialen und ökonomischen Folgen der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus schultern müssen. Statt Applaus braucht es eine strukturelle Aufwertung von Sorgearbeit.
Feministische Perspektiven auf systemerhaltende Arbeit
Wenn wir uns in diesen Tagen außer Haus begeben, um Lebensmittel einzukaufen, zur Apotheke zu gehen oder um der Betreuungsperson der pflegebedürftigen Großeltern etwaige Besorgungen vor die Tür zu stellen, begegnen wir bei all diesen Gelegenheiten Personen, deren Tätigkeiten gegenwärtig als „systemrelevant“ bezeichnet werden. Bislang wurde der Begriff der „Systemrelevanz“ vor allem in Zusammenhang mit Kredit- und Finanzinstituten verwendet. Seit Corona bezieht er sich neben bereits zuvor gesellschaftlich geschätzten Berufsbildern wie Ärzt*innen oder Apotheker*innen auch auf bisher kaum anerkannte Berufsgruppen wie Supermarktverkäufer*innen, Pflegekräfte, Personenbetreuer*innen, Reinigungskräfte oder Erntearbeiter*innen. Sie sind diejenigen, die das System derzeit in Gang halten. Aus feministischer Perspektive tragen sie damit zur Erhaltung und Reproduktion von Gesellschaft bei.
Die Gesellschaft wird aber nicht nur durch diese Berufe am Laufen gehalten: Auch Kinder müssen geboren und aufgezogen, die Wohnung geputzt und das Essen gekocht werden. Keine Gesellschaft kann ohne diese und andere systemrelevanten Sorgetätigkeiten bestehen. Seit Jahrzehnten fordern Feminist*innen daher, dass Sorge als systemrelevante Arbeit entsprechend sichtbar gemacht und nicht individuell, sondern strukturell aufgewertet wird.
In diesem Artikel gehen wir in drei Aspekten der Frage nach der Verteilung systemrelevanter Arbeit, den Implikationen ihrer Verdrängung zurück in den Haushalt und ihrer Auslagerung an „billige Arbeitskräfte“ in Zeiten von Corona nach. Allerdings sprechen wir von „systemerhaltender“ Arbeit statt von „systemrelevanter“ Arbeit. Wir möchten damit darauf verweisen, dass ein ganz bestimmtes System (bewusst oder unbewusst) erhalten wird, und zeigen gleichzeitig auf, dass dieses System auch grundsätzlich verändert oder nicht erhalten werden kann.
Systemerhaltende Erwerbsarbeit ist ungleich verteilt
Die Held*innen des pandemischen Alltags, für die von Balkonen aus applaudiert wurde, haben dreierlei gemeinsam: Erstens arbeiten sie häufig unter prekären Beschäftigungsverhältnissen. Prekär meint dabei, dass Arbeiter*innen schlecht entlohnt werden, stetig produktiv und flexibel verfügbar sein sollen, dabei jedoch weniger Arbeitsplatzsicherheit und soziale Absicherung haben. Prekär Beschäftigte sind zudem vielerorts einem hohen Arbeits- und Zeitdruck ausgesetzt und arbeiten unter hohen physischen und psychischen Belastungen.
Zweitens erledigen Systemerhalter*innen oft und in Gesundheitskrisen vermehrt unsichtbare Arbeiten, wie beispielsweise den Streit zwischen Kund*innen um eine angemessene Anzahl an Toilettenpapierpackerln zu schlichten oder die Betreuung besorgter Angehöriger. Diese emotionale Arbeit wird nicht vergütet und gerade im Fall von Pflege- und Betreuungskräften als selbstverständlich vorausgesetzt und eingefordert.
Drittens sind Systemerhalter*innen größtenteils weiblich. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung berechnete kürzlich, dass der Frauen*anteil in systemerhaltenden Berufen bei über 70 Prozent liegt. Da Frauen* sowohl den beruflichen Anforderungen als auch der Anforderung an die Erledigung der Sorgearbeit gerecht werden müssen, handelt es sich dabei vorwiegend um Teilzeitbeschäftigung. Das bedeutet nicht nur weniger Gehalt, sondern auch geringe Aufstiegsmöglichkeiten und eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Altersarmut.
Diese drei Gemeinsamkeiten systemerhaltender Arbeit sind kein Zufall. Im Vergleich zu Arbeit im Büro oder in der Fabrik werden sorgende, pflegende und emotionale Arbeiten als nicht gleichwertig angesehen, also gesellschaftlich abgewertet und gleichsam als „Frauenarbeit“ konstruiert. In der feministischen Debatte verweist der Begriff der patriarchalen Geschlechterverhältnisse auf diesen Prozess der andauernden Aufrechterhaltung und Fortschreibung ungleicher Arbeitsteilung.
Die politisch gesetzten Maßnahmen zur Eindämmung von Corona verdeutlichten und verschärften nicht zuletzt die geschlechtshierarchische, ungleiche Verteilung von Arbeit. Denn die prekarisierten, weiblichen Systemerhalter*innen sind auch größtenteils diejenigen, die sich in ihrer Erwerbsarbeit jeden Tag einer erhöhten Erkrankungsgefahr aussetzen und zusätzlich noch die Verantwortung für die Mehrarbeit im Bereich der Sorge tragen müssen.
Im Privaten bleibt systemerhaltende Arbeit unsichtbar
Die zweite Frauen*bewegung hat mit dem Ausspruch „Sie nennen es Liebe, wir nennen es Arbeit“ thematisiert, dass systemerhaltende Arbeit vor allem auch im vermeintlich privaten Bereich stattfindet: der Ehe, dem Haushalt, der Familie. Dort gilt Arbeit eben nicht als Arbeit, sondern ist als solche unsichtbar. In Zeiten von Corona wird dies besonders offensichtlich, wenn Politiker*innen und Arbeitgeber*innen wie selbstverständlich erwarten, dass Kinderbetreuung und Home-Office von nur einer Person, der Frau* und Mutter, vereint werden können.
Eine Aktivistin vom Aufstand der Alleinerziehenden zitiert einen Arbeitgeber, der zu einer alleinerziehenden und Vollzeit angestellten Kollegin meinte, ihr müsse Corona doch gelegen kommen: „Der Arbeitgeber hat zu ihr gesagt, das ist doch total toll, jetzt könne sie endlich Job und Familie unter einen Hut bringen.“ Es fehlt das gesellschaftliche Bewusstsein, dass nicht nur die jeweiligen unterschiedlichen Arbeiten schon für sich eine Belastung sind, sondern auch der Versuch, beide Sphären – also Erwerbsarbeit und unbezahlte Sorgearbeit – im Alltag miteinander zu vereinbaren, mit sehr viel Zeit- und Energieressourcen verbunden ist.
Im Umgang mit Corona wird deutlich, auf welch dünnem Eis die Idee von Gleichberechtigung gebaut ist. Gerade dort, wo Frauen* oder auch beide Partner*innen im Home-Office oder aus Gründen der Kurzarbeit zu Hause sind, wird die Arbeitsteilung innerhalb von wenigen Wochen von der gesellschaftlichen Norm eines männlichen Hauptverdienermodells eingeholt. Das Übereinkommen, dass beide Elternteile berufliche Karriere machen können bzw. die Möglichkeit haben, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, weil der Staat Betreuungsmöglichkeiten bietet, gerät ins Wanken. Mit einer großen Selbstverständlichkeit wird Sorgearbeit als unbezahlte Privatsache akzeptiert und in Zeiten von Corona weiter normalisiert.
Eine gleichberechtigte Aufteilung von Arbeit im vermeintlich Privaten gab es ohnehin nie. Auch wenn der Anteil an Paarbeziehungen wächst, in denen Frauen* erwerbsarbeiten oder gar als Haupt- bzw. Alleinverdienerinnen fungieren, geht dies bei diesen Paaren nicht mit einer veränderten Aufteilung von Sorgearbeit einher. Es wird deutlich, wie persistent konservative Rollenbilder sind, die Frauen* in das Private und Männern ins Öffentliche zuteilen.
Die Auslagerung systemerhaltender Arbeit an Migrant*innen hat System
Die Möglichkeit und der Umstand, dass auch Frauen* arbeiten gehen konnten, brachte nicht zuletzt eine teilweise Verlagerung von Sorge- und Pflegetätigkeiten mit sich, die entlang von Klasse, aber vor allem entlang von Herkunft organisiert wird. In den globalen Versorgungsketten verschränken sich soziale Ungleichheiten: Pflegekräfte und Personenbetreuer*innen übernehmen hierzulande Sorgearbeit, haben dabei in Österreich aber wenig bis gar keine Rechte. Gleichzeitig stehen die Familien in ihren Herkunftsländern vor erschwerten Herausforderungen, die eigene Sorgearbeit zu organisieren. Der fragile Konsens der Gleichberechtigung baut also unter anderem auf der Auslagerung von Arbeit auf billige, migrantische Arbeitskräfte auf. „Gerade heute machen dieselben Frauen*, die zu Hause die Hausarbeit für kein Geld verrichten, diese auch außerhalb des Hauses für wenig Geld – und oft sind es Migrantinnen“, sagt die feministische Theoretikerin und Aktivistin Silvia Federici.
Am Beispiel der 24-Stunden-Personenbetreuung wird besonders deutlich, wie sich Krisen der Sorgearbeit verlagern. Vor allem wird sichtbar, wie der Staat diese privatisiert und mit bewusster Auslagerung an Migrant*innen die heimische Versorgung zu sichern versucht. Diese Politik führt dazu, dass Personenbetreuer*innen ihre Arbeitsstellen nach vielen Wochen durchgängiger Arbeit nicht verlassen konnten oder als Krisenmaßnahme vom Staat eingeflogen wurden. Personenbetreuer*innen wurden dann beispielsweise dazu gezwungen, unbezahlt zwei Wochen in Quarantäne zu bleiben, wie Aktivistin Flavia Matei schreibt.
Gerade jetzt müsste die Schieflage in der Organisierung von Sorgearbeit besonders deutlich werden. Stattdessen spitzt sich während der Corona-Krise die Situation zulasten der Personenbetreuer*innen zu, und der Staat importiert sie im wahrsten Sinne des Wortes als billige Arbeitskräfte. Anstatt die eigentliche Krise der Pflege und die Abwertung von Sorge politisch zu bearbeiten, stellt dieser Umgang mit den Personenbetreuer*innen die nationalstaatliche Normalität und Akzeptanz sozialer Ungleichheit dramatisch zur Schau.
Sie nennen es Liebe, wir nennen es immer noch Arbeit!
Die Pläne, die Finanzminister Blümel schon jetzt für eine austeritätspolitische Post-Corona-Zeit hegt, wird wieder diejenigen treffen, die es schon immer getroffen hat. Denn es sind nicht nur in Zeiten von Corona insbesondere Frauen* und Migrant*innen, die die Corona-Maßnahmen deutlich zu spüren bekommen. Sie waren es auch bereits vor Corona, und wenn sich nichts ändert, werden sie es auch nach Corona bleiben.
Anerkennung und Applaus allein reichen nicht aus, um die ungleiche Verteilung beruflicher und vermeintlich privater Sorgearbeit aufzulösen. Eine materielle Aufwertung der unbezahlten bzw. schlecht bezahlten, systemerhaltenden Tätigkeiten und eine grundlegende Neustrukturierung der ungleichen Arbeitsteilung dagegen haben das Potenzial, das System als solches infrage zu stellen.
Die aktuelle Verdrängung ins Private erschwert den persönlichen Austausch, mit von ähnlichen Umständen Betroffenen ins Gespräch zu kommen, eigene Erfahrungen als gemeinsame zu begreifen und sich schließlich politisch zu organisieren. Jedoch bergen Krisen auch immer die Möglichkeit, dass etwas Neues aus ihnen hervorgeht. Es gilt daher, die Spielräume, die sich nun entlang systemerhaltender Arbeit öffnen, für feministische Kämpfe zu nutzen und dafür einzutreten, dass das Private politisch bleibt.
Eine gekürzte Version dieses Beitrags wurde vorab in der Tageszeitung Die Presse als Gastkommentar veröffentlicht:
Die Presse: Sie nennen es Liebe, wir nennen es Systemerhaltung (17.05.2020)