Draghi-Bericht: Fortschrittliche Ansätze, verpasste Chancen und notwendige Kritik

11. Oktober 2024

Licht und Schatten bringt ein Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit Europas, den der frühere EZB-Chef Mario Draghi im Auftrag der EU-Kommission erstellt hat. Neben positiven Aspekten wie der Schaffung einer EU-Industriestrategie und einer Investitionsoffensive gibt es auch Vorschläge, die Arbeitnehmer:innenvertretungen in höchstem Maße alarmieren: Über den „Gold Plating“-Ansatz stellt der Bericht Standards für Beschäftigte infrage, die über die in EU-Vorschriften vorgesehenen Minimumregeln hinausgehen. Die weiteren Schritte der Kommission müssen daher mit Argusaugen verfolgt werden.

Ein fortschrittlicherer Ansatz zur Wettbewerbsfähigkeit

Im Vergleich zu den bisher verfolgten Ansätzen, die in aktuellen Diskussionen zur Wettbewerbsfähigkeit noch häufig auf Exportorientierung und Lohndumping setzen, schlägt Mario Draghi einen neuen Weg ein. Sein Fokus liegt klar auf Investitionen und Innovationen, die sowohl die Produktivität steigern als auch die ökologische Transformation unterstützen sollen. Dies ist ein erfreulicher Paradigmenwechsel, auch wenn klar ist, dass der Großteil seiner Vorschläge auf orthodoxer Ökonomik und angebotsseitigen Maßnahmen beruht.

Doch so vielversprechend der Bericht in diesen Bereichen auch klingt, so sind leider auch erhebliche Schwachstellen festzustellen. Während Draghi den globalen Wettbewerb Europas mit den USA und China analysiert, bleibt er letztlich im engen Korsett des materiellen Wohlstandsdenkens gefangen. Sein Bericht kratzt nur an der Oberfläche sozialstaatlicher Errungenschaften in Europa, ohne sie ausreichend in die Betrachtung einzubeziehen. Die entscheidende Verbindung zwischen sozialem, ökologischem und ökonomischem Wohlstand bleibt aus. Ein umfassender Sozialstaat und ökologische Nachhaltigkeit scheinen für Draghi eher Folgeerscheinungen von Wirtschaftswachstum zu sein, statt integrale Bestandteile einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft.

Soziale Inklusion als Wettbewerbsfaktor?

Positiv anzumerken ist jedoch, dass Draghi den europäischen Sozialstaat und die Fähigkeiten der Beschäftigten als grundlegend für die Wettbewerbsfähigkeit Europas hervorhebt. Auch wenn konkrete Vorschläge fehlen, wie ein gerechter Wandel („Just Transition“) gelingen kann, ist diese Erkenntnis ein Schritt in die richtige Richtung. Insbesondere der Gedanke, dass preisliche Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern soziale Inklusion und Innovation, zeigt, dass sich hier eine neue Perspektive auf die ökonomischen Herausforderungen der Zukunft abzeichnet.

Die Ausrichtung auf soziale und ökologische Aspekte ist jedoch bei Weitem zu wenig ausgeprägt. Draghis Bericht verharrt in den Begriffen der Mainstream-Ökonomik und stellt Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit weiterhin als Vorbedingungen für ökologische und soziale Fortschritte dar. Das führt auch zu einer Abschwächung des europäischen Green Deals. Aus Sicht der Arbeitnehmer:innen und des sozialen Fortschritts ist dies bedenklich, da es die EU auf den Weg zu einer reinen Spar- und Wettbewerbsunion führt – ein Ansatz, der soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz ausblendet.

„Gold Plating“-Ansatz lässt Alarmglocken schrillen

Alarmierend sind insbesondere die Vorschläge, die als „Gold Plating“-Ansatz bezeichnet werden und die im glatten Widerspruch zum Bekenntnis zu einer sozialen Union stehen: Laut diesem Ansatz sollen jene nationalen Standards, die über die Minimalvorgaben auf EU-Ebene hinausgehen, im besten Falle gestrichen werden. Im äußersten Fall würde das zu einem Kahlschlag bei den in Österreich wesentlich fortschrittlicheren Standards in der Arbeits- und Sozialpolitik, dem Verbraucher:innenschutz, der Umweltpolitik und anderen gesellschaftspolitisch wichtigen Regeln führen. Derartige Überlegungen sind daher im Sinne des öffentlichen Interesses strikt abzulehnen.

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Investitionen als Schlüssel für die Zukunft

Eine der positivsten Forderungen des Draghi-Berichts ist die Notwendigkeit massiver Investitionen. Er schlägt vor, jährlich zwischen 750 und 800 Milliarden Euro in die europäische Wirtschaft zu investieren – Summen, die den Investitionsquoten der 1960er und 1970er Jahre entsprechen. Ein solcher Impuls könnte entscheidend sein, um die ökologischen und technologischen Herausforderungen der Gegenwart zu meistern. Besonders hervorzuheben ist, dass Draghi hier auch auf die Notwendigkeit gemeinsamer öffentlicher Finanzierungsmodelle auf EU-Ebene hinweist, da derartige Summen nicht allein durch private Investitionen gedeckt werden können. Die bestehenden Fiskalregeln, die zu Kürzungswellen führen und den Forderungen nach mehr Investitionen diametral entgegenstehen, bleiben dabei völlig unerwähnt.

Dadurch bleiben bei der Finanzierung dieser gewaltigen Summen auch viele Fragezeichen. Er sieht eine Schlüsselrolle in der Kapitalmarktunion und der Nutzung des großen Sparvolumens europäischer Haushalte. Während institutionelle Investitionen in bestimmten Bereichen zweifellos von Bedeutung sind, darf dies nicht zu einer Schwächung des bewährten umlagefinanzierten Pensionssystems führen. Dieses hat sich als krisenfest und stabilisierend erwiesen. Eine Forcierung von privater Altersvorsorge birgt Risiken von Verlusten aufgrund fragiler Kapitalmärkte. Gleiches gilt auch für Personen, die ihr Erspartes am Kapitalmarkt anlegen. Der Schutz für Kleinanleger:innen muss gewährleistet und gegebenenfalls ausgebaut werden.

Maßnahmen für leistbare Energiepreise dringend notwendig

Die Tatsache, dass im Rahmen der Konsultationen für den Bericht eine Unzahl an Unternehmensvertretungen und kaum gewerkschaftliche und zivilgesellschaftliche Organisationen befragt wurden, spiegelt sich auch in den Schwerpunkten der Maßnahmen wider. Dazu gehören etwa niedrigere Energiepreise, um Wachstum zu generieren. Der Bericht zeigt zwar auf, dass eine Abkopplung des Strompreises vom Gaspreis notwendig ist, konkrete Reformvorschläge fehlen jedoch. Es fehlen zudem sowohl ein Vorschlag für eine grundlegende Reform des Energiemarktdesigns sowie Überlegungen zu den nötigen Investitionen in Energienetze, die derzeit vor allem von privaten Haushalten finanziert werden. Auch wird Atomstrom als gleichwertig zu erneuerbaren Energien dargestellt, was aus ökologischer Sicht höchst problematisch ist.

Fragliche Konzepte hinter den Überlegungen zum Bürokratieabbau

Draghi schlägt den Abbau von Bürokratie und Verwaltungslasten vor. Ein Initiative, die begrüßenswert wäre, wenn es um Maßnahmen ginge, die gegen Bürokratie, wie sie landläufig verstanden wird, vorgehen würde. Also beispielsweise gegen einen Wust an Formularen, die auszufüllen sind, wenn Hilfsleistungen und Förderungen beantragt werden. In Bereichen wie diesen wären Vereinfachungen sehr begrüßenswert. Aus Kommissions- und Unternehmersicht jedoch geht es oft um Standards, die einen hohen Mehrwert für die Bevölkerung haben. Zum Beispiel hat die Kommission eine EU-Richtlinie, die dazu beitragen soll, dass Beschäftigte Asbestbelastungen nicht mehr ausgesetzt sind, als Verwaltungslast ohne Nutzen dargestellt. Dabei vergessen die Beamt:innen offensichtlich, dass diese Regelung sogar einen äußerst großen Nutzen hat, denn die Beschäftigten bleiben gesund, können Steuern zahlen und müssen nicht aus gesundheitlichen Gründen in Zusammenhang mit Asbestexposition in Frühpension gehen.

Trotzdem stimmt Draghi mit den Forderungen der Unternehmen mit ein, radikal rechtliche Regelungen abzubauen, die Pflichten für die Betriebe bedeuten. So sollen Berichtspflichten handstreichartig für 99,8 Prozent der Unternehmen (KMU) um 50 Prozent reduziert werden. An dieser Stelle ist dafür zu plädieren, zuerst zu überprüfen, welche Berichtspflichten unbedingt notwendig sind, zum Beispiel, weil sie über die wirtschaftliche Lage der Betriebe Auskunft geben oder weil sie Rückschlüsse auf die Gesundheit der Beschäftigten erlauben. Im Anschluss daran sind Entscheidungen darüber möglich, welche Pflichten gestrichen werden können, weil sie nicht mehr die Bedeutung haben, die sie bei der Einführung der Regeln hatten. Die Arbeiterkammer hat erst vor Kurzem eine neue Studie veröffentlicht, die das Konzept einer „besseren Rechtsetzung“ und Bürokratieabbau kritisch hinterfragt. Sie kommt zum Schluss, dass dabei vor allem Unternehmensinteressen im Vordergrund stehen statt dem gesamtgesellschaftlichen Wohl.

Gleichzeitig schlägt Draghi Maßnahmen vor, die geeignet sind, Bürokratiemonster zu schaffen. Potenzial dazu hat beispielsweise eine neue EU-Governance bzw. ein Wettbewerbskoordinierungsrahmen. Hier droht ein Ausbau des Berichtswesens. Bereits der sogenannte Letta-Bericht forderte zwar ebenfalls einen Bürokratieabbau, fasste jedoch gleichzeitig Ideen, die zusätzliche Bürokratie bedeuten. Das betrifft beispielsweise den Vorschlag für ein europäisches Gesellschaftsrecht. Dieses würde zusätzlich zu den 27 nationalen Regelungen bestehen und lässt befürchten, dass es zu zusätzlichen Verwaltungsarbeiten käme.

Fazit

Der Draghi-Bericht liefert wichtige Impulse und zeigt, dass Europa in Bezug auf Innovation, Dekarbonisierung und soziale Inklusion die richtigen Weichen stellen muss. Seine pragmatischen Vorschläge, die sich stark an den realpolitischen Möglichkeiten orientieren, bieten zumindest Ansätze für eine schnelle und konkrete Umsetzung. Allerdings enthält der Bericht auch Überlegungen wie den „Gold Plating“-Ansatz, der aus beschäftigungs- und gesellschaftspolitischer Sicht erhebliche negative Effekte für die Bevölkerung befürchten lässt. Zudem bleibt Draghi in vielen Bereichen zu vage und verliert die notwendige Balance zwischen wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Fortschritt aus den Augen.

Aus Sicht der Arbeitnehmer:innen bleibt die Kritik bestehen, dass sich der Bericht zu stark auf Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum fokussiert, ohne soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz als gleichwertige Ziele zu betrachten. Ein gerechter Wandel, der niemanden zurücklässt, bleibt somit eine Vision, die weitergehender Maßnahmen bedarf, als sie Draghi in seinem Bericht formuliert.

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