© A&W Blog
Auffallend ist, dass viele der Vorschläge in Bezug auf das Regelungsumfeld Fortsetzungen von dem sind, was in den letzten Monaten bereits von der Europäischen Kommission begonnen wurde: so beispielsweise Bemühungen, Berichtspflichten für Unternehmen zu reduzieren sowie Regelungen mit hohem gesellschaftspolitischem Wert als „Gold Plating“ und Verwaltungslast darzustellen.
Schutzschild Klein- und Mittelunternehmen
Bereits im Dezember 2023 hat die Kommission eine Mitteilung mit dem Titel Entlastungspaket für KMU veröffentlicht. Neben den oben genannten Maßnahmen sieht sie weitere Privilegien für Unternehmen wie eine eigens beauftragte Person für Klein- und Mittelunternehmen (KMU) vor, die der oder dem Kommissionspräsident:in zugeordnet ist und an den Sitzungen des Regulatory Scrutiny Board teilnehmen kann. Mittlerweile gelten laut EU-Definition 99,8 Prozent und damit beinahe alle Unternehmen als KMU. Das hat für diese den Vorteil, dass sie vom Anwendungsbereich bei zahlreichen EU-Gesetzen ausgenommen sind.
Im Letta-Bericht sind auch Vorschläge enthalten, die den Zugang von KMU zum Kapitalmarkt erleichtern sollen. Grundsätzlich ist es positiv, wenn ihnen die Refinanzierung erleichtert wird, in Österreich gibt es daher seit Kurzem die sogenannte flexible Kapitalgesellschaft, die eine entsprechende Lösung liefert. Letta schlägt allerdings einen sogenannten „Single Entry Point to Public Capital Markets for small and mid-cap companies“ vor, um Risiko- und Eigenkapital zu generieren. Kritisch ist der Vorschlag jedoch aus mehreren Gründen zu sehen: So besteht damit das Risiko, dass private Sparer:innen zu risikoreichen Anlage- und Pensionsvorsorgeprodukten motiviert werden sollen. Gleichzeitig soll das Modell der sogenannten Verbriefungen forciert werden.
Damit werden Erinnerungen an die Finanzkrise ab 2008 wach. Damals waren diese Verbriefungen, die ein Bündel an Kreditforderungen darstellen und in handelbare Wertpapiere umgewandelt werden, eine der zentralen Ursachen für die Finanzkrise in den USA und Europa. Viele Banken, auch in Österreich, mussten vom Staat gerettet werden.
Zu begrüßen ist hingegen der Plan, das Unternehmensrecht und hier insbesondere das Insolvenzrecht zu harmonisieren, was einen wichtigen Beitrag zum Abbau der Fragmentierung der Kapitalmärkte liefern kann.
Die Mär von Bürokratie, Überregulierung und „Gold Plating“
Wieder einmal wird das Thema Bürokratie, Überregulierung und „Gold Plating“ wiederbelebt. Diese Begriffe haben vor allem die Wirtschaftslobbys bereits vor vielen Jahren erfolgreich verbreitet. Wer mag schon Bürokratie? Vor dem geistigen Auge entstehen Bilder von Beamt:innen mit Ärmelschonern, die vor unzähligen Stempeln sitzen und Leute mit unnötigen Formularen ärgern. Tatsächlich geht es jedoch um gesellschaftspolitische Standards, an die sich die Unternehmen halten müssen und die ihnen ein Dorn im Auge sind.
In einem Bericht zu den Verwaltungslasten hat die Europäische Kommission eine Richtlinie, die Beschäftigte vor der Exposition mit Asbest schützen soll, als Last bezeichnet. Für Unternehmen bedeutet das jährliche Kosten von etwa 33 Mio. Euro, während der monetäre Nutzen mit null Euro beziffert wurde. Tatsächlich ist der Nutzen dieser Regelung jedoch außerordentlich hoch: Die Beschäftigten bleiben gesund und können weiterhin im Betrieb tätig sein. Sie tragen in Form von Steuern und Sozialversicherungsabgaben weiterhin zum Wohlfahrtsstaat bei und sie müssen weder in Krankenstand noch in Frühpension aufgrund chronischer Erkrankungen gehen.
Wesentlich sinnvoller wäre es, EU-Regelungen regelmäßig auf ihre Aktualität zu überprüfen und im Anschluss daran zu überarbeiten oder zu streichen. Pläne, die vorsehen, 25 Prozent aller Berichtspflichten zu entfernen oder für ein neues Gesetz automatisch ein bestehendes zu streichen (das sogenannte „One in, one out“-Prinzip), erinnern dabei eher an eine Holzhammermethode, die entsprechenden Schaden anrichten kann.
Hand in Hand gehen diese problematischen Pläne auch mit dem Vorhaben, so gut wie alle EU-Gesetze nur noch in Form von Verordnungen zu beschließen. Damit wären neue EU-Regelungen im Mitgliedsstaat eins zu eins in nationales Recht umzusetzen. Sinnvolle beziehungsweise notwendige regionalpolitische Ergänzungen im sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich wären dann nicht mehr möglich. Ein Plan, der klar zulasten der Bevölkerung ginge und der daher klar abzulehnen ist.
Fünfte Grundfreiheit: Forschung, Innovation und Ausbildung
Der Bericht fordert auch die Einführung einer zusätzlichen fünften Freiheit für „Forschung, Innovation und Ausbildung“. Möglicherweise ist dieser Schritt lediglich ein symbolischer Akt, denn auch bisher gab es keine regionalen Einschränkungen für Forschungsprojekte, Wissen oder Forschende selbst. Außerdem fehlt die gleichzeitige Forderung nach einem gleichberechtigten Zugang, denn mit Blick auf die Schwerpunkt Forschung und Innovation der europäischen Strategie für Geschlechtergleichstellung wird deutlich, dass rein männliche Gründerteams 92 Prozent des gesamten in Europa investierten Kapitals erhalten, im digitalen Sektor 3,1-mal so viele Männer wie Frauen beschäftigt sind und nur 22 Prozent der KI-Programmierer:innen Frauen sind.
Neben mehr Investitionen für die digitale Infrastruktur, der Einführung einer Plattform für den freien Zugang zu Forschungsergebnissen und Daten („European Knowledge Commons“) und anderen Maßnahmen erwähnt der Bericht auch die Bedeutung digitaler Fähigkeiten und Kompetenzen. Das ist aus Arbeitnehmer:innensicht besonders wichtig. Doch auch hier fehlt eine nähere Konkretisierung, wie Aus- und Weiterbildung gestaltet und finanziert werden soll. Etwas konkreter sind die Forderungen nach einem eigenen europäischen Studienabschluss, beim Ausbau europäischer Austauschprogramme für Studierende und Forschende und nach einem Recht auf ein „Erasmus for all“, also für alle Europäer:innen unter 18 Jahren zur Förderung europäischer Identität und Solidarität. Alle vorgeschlagenen Maßnahmen könnten jedenfalls auch ohne die Einführung einer fünften Freiheit umgesetzt werden.
Soziale Dimension als Nebenschauplatz
Es ist zwar anzuerkennen, dass in einem Bericht, der mit Unternehmensbegriffen überladen ist, sich die soziale Dimension zumindest an einigen Stellen wiederfindet und damit die Bedürfnisse von 450 Millionen Menschen Niederschlag finden.
Allerdings müssen die Maßnahmen zur Stärkung der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) noch erheblich ausgebaut werden, etwa durch verbindliche Richtlinien und durch ein neues soziales Aktionsprogramm. Der Wunsch nach mehr beruflicher Mobilität innerhalb Europas muss durch eine bessere Koordinierung und EU-weite soziale Mindeststandards für Arbeitslosen- und Sozialversicherungssysteme gefördert werden und mobilitätshemmende und unfaire Vertragsklauseln für Arbeitnehmer:innen sollten reduziert werden. Das verhindert soziale Ausgrenzung und Armut.
EU-Handelspolitik auf Abwegen
Gegen Ende seiner Ausführungen befasst sich Letta auch noch mit handelspolitischen Agenden. Gerade in den Vorschlägen zur Handelspolitik tun sich Abgründe auf: Das Kapitel ist voll mit Andeutungen darauf, dass Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards in der Handelspolitik de facto keine Rolle spielen sollen. Auch demokratiepolitisch sind die Überlegungen hochproblematisch: Künftig soll verstärkt auf Interimsabkommen gesetzt werden, bei denen es dann nicht mehr notwendig ist, die nationalen Parlamente damit zu befassen.
Erheblich zu weit geht dann der Vorschlag, einen transatlantischen Binnenmarkt mit den USA zu schaffen. Gerade in arbeits-, sozial- und konsument:innenschutzrechtlichen, aber auch bei anderen gesellschaftspolitisch wichtigen Themen sind die Standards in den USA erheblich niedriger als in der Europäischen Union. Mit einem EU-USA-Binnenmarkt würde eine Nivellierung dieser Schutzbestimmungen nach unten drohen.
Gerade wenn Reindustrialisierung in der EU und die Stärkung des Wettbewerbs das Ziel sein soll, ist ein transatlantischer Binnenmarkt mit den USA abzulehnen. Die EU steht im Zusammenspiel mit den USA derzeit bereits unter massivem Druck, weil die Vereinigten Staaten aufgrund der niedrigeren Gas- und Energiepreise deutliche Wettbewerbsvorteile haben.
Fazit
Zweifellos ist eine Überarbeitung der EU-Binnenmarktregeln notwendig. Das zeigen die unzähligen Krisen am Binnenmarkt, die die EU in den letzten 15 Jahren durchmachen musste. Einige der Vorschläge, die Enrico Letta in seinem Papier macht, sind durchaus begrüßenswert. Viele Anregungen gehen jedoch in die falsche Richtung und könnten Errungenschaften im gesellschaftspolitischen Bereich, die auf EU-Ebene im Vergleich zu wirtschaftspolitischen Vorteilen für Unternehmen ohnehin nicht breit gesät sind, erheblich gefährden. Eine wichtige Rolle wird sicher auch noch der sogenannte Draghi-Bericht spielen, der sich mit wettbewerbspolitischen Aspekten befassen wird und der zwischen Mitte und Ende Juni 2024 vorliegen soll.
Welche Politik die Europäische Union letztendlich verfolgen wird, dürfte zu einem guten Teil jedoch vom Ergebnis der EU-Parlamentswahlen am 9. Juni 2024 abhängen.
Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist
unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/.
Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung