Europas Arbeitslosigkeitskrise: wie eine Arbeitsplatzgarantie zu einem sozialen Europa beitragen kann

14. Mai 2024

Hohe, anhaltende Langzeitarbeitslosigkeit stellt ein stetiges Problem der Europäischen Union dar und zeigt die Grenzen der derzeitigen Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedsländer auf. Eine europäische Arbeitsplatzgarantie würde nicht nur wesentlich dazu beitragen, die Langzeitarbeitslosigkeit zu beseitigen, sondern das europäische Projekt und den Green Deal stärken.

Persistente Langzeitarbeitslosigkeit

Nach dem Finanzcrash von 2008 stieg der Anteil der Arbeitslosen, die ein Jahr oder länger arbeitslos waren, in den Mitgliedstaaten der heutigen Europäischen Union kontinuierlich von etwa 30 Prozent auf 44 Prozent im Jahr 2014. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen fiel in den Folgejahren, erreichte aber erst 2020 das Vorkrisenniveau – die europäischen Arbeitsmärkte brauchten mehr als ein Jahrzehnt, um zu einem nach wie vor hohen Anteil an Langzeitarbeitslosigkeit zurückzukehren. Dabei handelt es sich um ein Politikversagen das die Grenzen der Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedsländer deutlich macht.

Nach dem Ausbruch der Pandemie stieg die Langzeitarbeitslosigkeit erneut, erholte sich parallel mit der starken konjunkturellen Entwicklung in den Folgejahren und pendelt sich aktuell jedoch wieder auf einem hohen Niveau ein. Im Kontext der Teuerungskrise ist politisches Handeln dringender denn je, um langzeitarbeitslosen Personen gute Arbeit zu einem fairen Lohn zu bieten und Armutsgefährdung zu reduzieren.

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Langzeitarbeitslosigkeit hat weitreichende Folgen, wie bereits die österreichische Soziologin Marie Jahoda in ihrer bahnbrechenden Forschung in den 1930ern herausfand: Ihre Ergebnisse sind heute noch gültig. Die Dauer der Arbeitslosigkeit verringert kontinuierlich die Chancen auf Wiederbeschäftigung aufgrund ihrer negativen Auswirkungen auf die psychologische und physische Gesundheit sowie auf die Fähigkeiten der Arbeitslosen und deren Stigmatisierung durch Arbeitgeber. Der negative Effekt von Arbeitslosigkeit auf die weitere Einkommensentwicklung ist gut belegt, scheint aber Langzeitarbeitslose besonders hart zu treffen. Nicht zuletzt ist Langzeitarbeitslosigkeit auch aus demokratischer Sicht ein Problem, da sie die politische Teilnahme reduziert.

Die europäische Jobgarantie

Eine europäische Arbeitsplatzgarantie könnte sich als vielversprechendes Instrument erweisen, um Langzeitarbeitslosigkeit zu beseitigen, das Erreichen von Vollbeschäftigung zu unterstützen, die Wirtschaft zu stabilisieren und zur sozialen und ökologischen Transition beizutragen.

Die Idee ist einfach: Der Staat bietet jedem, der Arbeit sucht, aber keinen Job auf dem privaten Arbeitsmarkt findet, eine Arbeitsmöglichkeit zumindest zum geltenden kollektivvertraglichen Mindestlohn an. Die Teilnahme am Programm ist freiwillig. Die öffentlichen Jobs sollten durch faire Arbeitsbedingungen, unbefristete Verträge und gute Einkommen gekennzeichnet sein, die den jeweiligen landesspezifischen Bedingungen entsprechen, wobei die Löhne durch Mindestlohngesetze oder Kollektivverträge festgelegt werden. Dies soll sicherstellen, dass die Schaffung öffentlicher Arbeitsplätze im Einklang mit dem Recht auf gute Arbeit steht.

Der Fokus könnte zunächst auf die am stärksten Benachteiligten und vulnerablen Gruppen gelegt werden, um sozialen Schutz zu bieten, soziale Ausgrenzung zu verhindern und europäische soziale Werte sowie demokratische Teilnahme zu stärken. Eine demokratische Entscheidungsfindung im Prozess der Auswahl der zu schaffenden Arbeitsplätze wäre entscheidend, um eine angemessene Versorgung mit sozial nützlicher Arbeit zu garantieren. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sollte dabei unter Einbindung der Sozialpartner und unter Beteiligung regionaler Akteur:innen sowie der betroffenen Arbeitssuchenden gestaltet sein. Das würde dazu beitragen, Angebote zu schaffen, die zur Befriedigung ungedeckter Bedürfnisse in der Region beitragen. Eine europäische Arbeitsplatzgarantie würde somit nicht nur die politische Teilnahme durch die Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit erhöhen – sie würde auch die öffentliche Akzeptanz der EU durch die Finanzierung der Produktion öffentlicher Güter und Dienstleistungen vor Ort steigern.

Bereits existierende Projekte in der EU

Projekte in Frankreich, Belgien und Österreich zeigen, wie ein erfolgreiches Projektdesign aussehen könnte.

Im Jahr 2016 verabschiedete das französische Parlament ein Gesetz zur Finanzierung und Umsetzung von Territoires zéro chômeur de longue durée (TZCLD, Gebiete ohne Langzeitarbeitslosigkeit). Das Programm, das sich mittlerweile in seiner zweiten Phase befindet, wurde auf 60 Gemeinden ausgeweitet und beschäftigt etwa 2.700 Teilnehmer:innen. TZCLD wird mit nationalen Mitteln finanziert und lokal durch Lenkungsausschüsse umgesetzt, die alle relevanten Stakeholder einbeziehen und sich auf Langzeitarbeitslose in der Gemeinde konzentrieren.

In der Region Wallonien in Belgien hat die dortige Regierung ein ähnliches Pilotprojekt gestartet, das Arbeitsmöglichkeiten für 750 Personen schaffen soll, die seit mehr als zwei Jahren arbeitslos sind. Die Hälfte des Budgets von 104 Millionen Euro für 2022–2026 für das TZCLD in Belgien stammt aus dem Europäischen Sozialfonds.

Österreich hat eine lange Tradition von öffentlichen Arbeitsbeschaffungsprogrammen: die „Aktion 8.000“ in den 1980er Jahren, die „Aktion 20.000“ in den Jahren 2017 bis 2019 und das kürzlich beendete weltweit erste Arbeitsplatzgarantie-Experiment, das Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal (MAGMA) zwischen 2020 und 2024. MAGMA bot garantierte Beschäftigung für Personen, die länger als ein Jahr arbeitslos waren, und hat die Langzeitarbeitslosigkeit in der Gemeinde Gramatneusiedl fast beseitigt. Bewertungen von Ökonom:innen der Universität Oxford und Soziolog:innen der Universität Wien haben positive Auswirkungen auf das nicht-ökonomische sowie ökonomische Wohlergehen der Teilnehmer:innen festgestellt.

Diese Initiativen kombinieren aktive Arbeitsmarktpolitiken und die Beteiligung lokaler Stakeholder. Indem sie das Recht auf gute Arbeit gewähren und bei Bedarf Arbeitsplätze schaffen, bieten sie Lösungen für diejenigen, die sonst zurückgelassen würden. Die Erfahrungen könnten als Blaupause für weitere Arbeitsplatzgarantieprogramme dienen.

Eine Arbeitsplatzgarantie zahlt sich aus

Trotz des objektiven Erfolgs dieser Initiativen sind sie anfällig für ideologisch motivierte Entscheidungen, sie einzustellen. Um die Initiativen der Mitgliedsländer anzuregen und zu unterstützen, könnte die EU die Finanzierung sicherstellen und eine Arbeitsplatzgarantie im Rahmen der Europäischen Säule sozialer Rechte verankern.

Es ist davon auszugehen, dass die fiskalischen Kosten einer europäischen Arbeitsplatzgarantie langfristig neutral wären. Die Bruttokosten einer Arbeitsplatzgarantie wurden auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt. Gleichzeitig würde sie jedoch auch die öffentlichen Ausgaben für Arbeitslosigkeit reduzieren, zu höheren Steuerrückflüssen und Sozialabgaben führen und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigern und so die Nettokosten schmälern.

Während der Covid-Pandemie hat die EU ihre Fähigkeit demonstriert, eine große wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Krise zu verhindern. Das Programm zur Milderung der Risiken der Arbeitslosigkeit in einer Notlage (SURE) bot finanzielle Unterstützung für Kurzarbeitsregelungen in ganz Europa. Dies könnte als Vorbild für eine neue Initiative zur Finanzierung von Arbeitsplatzgarantieprogrammen dienen.

NextGenerationEU zeigte, wie die EU die fiskalische Kapazität mobilisieren konnte, um Mittel für die wirtschaftliche Erholung bereitzustellen. Ebenso sollten Ausgaben für Arbeitsplatzgarantieprogramme von den überarbeiteten Fiskalregeln ausgenommen werden. Alternativ könnte die Europäische Zentralbank - wie bereits während der Euro- und Covid-19-Krisen - Staatsanleihen aknkaufen, um die Ausgaben für eine Arbeitsplatzgarantie zu decken  (public-sector purchase programmes).

Die Zeit für eine europäische Arbeitsplatzgarantie ist jetzt – und am Ende des Tages ist es eine Frage des politischen Willens.

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