Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist in den EU-Verträgen tief verankert. Zwischen den Gleichstellungspolitiken der EU-Mitgliedsstaaten und der europäischen Ebene bestehen Wechselwirkungen. Gerade für konservative Länder wie Österreich erfolgen jedoch regelmäßig fortschrittliche Inputs – etwa die Kinderbetreuungsziele, die Richtlinien zur Vereinbarkeit oder aktuell zur Lohntransparenz.
Wie steht es um die Gleichstellung in der EU?
Zentrale Informationen über die Gleichstellung von Frauen und Männern, die auch Vergleiche zwischen den Mitgliedsstaaten ermöglichen, lassen sich etwa bei Eurostat, dem statistischen Amt der EU, finden. Seit 2013 gibt das Europäische Institut für Geschlechtergleichstellung (EIGE) zudem einen Gender-Equality-Index heraus. Mit möglichen Werten von 1 (gar keine) bis 100 (vollständige Gleichstellung) misst der Index Fort- und Rückschritte bei der Gleichstellung von Frauen und Männern in der EU und für jeden einzelnen Mitgliedsstaat. Dabei werden sechs zentrale Kernfelder – Arbeit, Geld, Wissen, Zeit, Macht und Gesundheit – sowie ergänzend die Kategorien Gewalt gegen Frauen und intersektionale Ungleichheiten betrachtet.
Zwar hat der Index für die gesamte EU 2023 mit 70,2 Punkten erstmals die 70-Punkte-Marke überschritten und weist mit einem Anstieg gegenüber 2022 von 1,6 Punkten den höchsten Anstieg seit Bestehen auf, dennoch bleibt der Abstand auf die 100 Punkte noch immer groß und es bleibt viel zu tun auf dem Weg zu vollständiger Gleichstellung. Der Anstieg seit 2020 ist vor allem auf Fortschritte bei der Geschlechtergleichstellung in den Bereichen Zeit (+ 3,6 Punkte) und Arbeit (+ 2,1 Punkte) zurückzuführen. Seit 2010 ist der Wert für die gesamte EU um 7,1 Punkte gestiegen. Die besten Werte werden 2023 in den Bereichen Gesundheit (88,5 Punkte) und Geld (82,6 Punkte) erzielt, am schlechtesten schneidet der Bereich Macht (59,1 Punkte) ab. Zwischen den Mitgliedsstaaten variieren die Indexwerte von 56,1 Punkten in Rumänien bis 82,2 Punkten in Schweden – Österreich nimmt mit 71,2 Punkten den zehnten Platz ein.
Gleichstellungspolitik ist in der EU schon immer ein Thema …
Die Verpflichtung zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der EU lässt sich bis zu den 1950er Jahren zurückverfolgen. Bereits in den Römischen Verträgen (1957) zur Einrichtung der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fand sich das Gebot der Lohngleichheit (Art. 119 EWG-Vertrag). Eine deutliche Stärkung erhielt die Gleichstellung Ende der 1990er Jahre mit dem Vertrag von Amsterdam, der die EG dazu verpflichtete, in allen Politikbereichen darauf hinzuwirken, Diskriminierungen zwischen den Geschlechtern zu eliminieren und ihre Gleichstellung zu fördern (die Einführung von Gender-Mainstreaming).
Primärrechtlich legen heute insbesondere Art. 2 und 3, Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union EUV fest, dass die Union sich u. a. durch den Wert der Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet und die Gleichstellung von Frauen und Männern fördert. Anknüpfend an diese primärrechtlichen Bestimmungen sind zudem eine Reihe von Richtlinien erlassen worden, um die Gleichstellung in den Mitgliedsländern zu stärken.
… aber unterschiedlich geprägt
In den Mitgliedsstaaten der EU lassen sich Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaatsmodellen, den Geschlechterarrangements und den Gleichstellungspolitiken feststellen. Diese können fortschrittlicher/progressiv gestaltet sein und sich an Zielen von Gerechtigkeit und ökonomischer Unabhängigkeit von Frauen orientieren oder stärker neoliberal geprägt sein und Gleichstellungspolitik eher über Wettbewerbsargumente und eine Bereitstellung von „Humankapital“ am Arbeitsmarkt argumentieren. Konservative Gleichstellungspolitik fällt hingegen eher defensiv bis symbolisch aus und kann mit ihrer Untätigkeit durchaus verhindernd wirken. Einige Mitgliedsstaaten fallen im letzten Jahrzehnt vor allem auch durch ihr gänzliches Verweigern von Gleichstellungspolitik und einen regelrechten Backlash auf.
Mitunter unterscheiden sich zwar Beweggründe und Ziele zwischen den Mitgliedsländern, aber dennoch kann Einigkeit in Maßnahmen bestehen. So ist etwa die frühe Aufnahme des Gebots der Lohnungleichheit in den Römischen Verträgen auf befürchtete Wettbewerbsnachteile bei Gründung der EWG seitens Frankreichs zurückzuführen, da dieses den Grundsatz der Lohngleichheit bereits im nationalen Recht implementiert hatte. Dennoch ist die starke rechtliche Verankerung von Lohngleichheit auch aus progressiver Sicht zu befürworten. Die Stärkung der Gleichstellung rund um den Vertrag von Amsterdam ist etwa auf den zuvor erfolgten Beitritt von Finnland und Schweden, die ihre fortschrittliche Gleichstellungspolitik auch in die EU bringen konnten, sowie eine starke Frauenbewegung zu dieser Zeit zurückzuführen.
Gemeinsame europäische Ansätze … und ihre (Nicht-)Umsetzung
Langjährige gleichstellungspolitische Themen in der EU bilden sich etwa in der aktuellen „Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020–2025“ ab. Hier werden unter anderem die Bekämpfung von geschlechterbezogener Gewalt und Geschlechterstereotypen, die Verringerung von geschlechtsbedingten Unterschieden auf dem Arbeitsmarkt, eine ausgewogene Beteiligung von Frauen und Männern in verschiedenen Wirtschaftszweigen, in Entscheidungsprozessen und in der Politik sowie die Bekämpfung des Lohn- und Rentengefälles genannt.
Einerseits haben die Aufnahme der Gleichstellung ins Primärrecht und auch Richtlinien zur Antidiskriminierung Möglichkeiten, gegen Benachteiligungen zu klagen, gebracht. Andererseits werden viele Themen seit Jahren diskutiert und finden wenig Konkretisierung. Häufig werden Ziele vorgegeben und ihre Umsetzung eingemahnt (etwa in länderspezifischen Empfehlungen) sowie in Daten gemessen, jedoch erfolgen keine direkten Verpflichtungen. Zwar haben auch Ziele und Daten einen gewissen Wert für die Diskussion, jedoch sind sie deutlich zahnloser als Richtlinien oder gar Sanktionen. Dennoch sind etwa die sogenannten Barcelona-Ziele zur Kinderbetreuung die zentrale Benchmark in der politischen Diskussion geworden. Im Bereich der Lohnungleichheit ist der Gender-Pay-Gap von Eurostat der zentrale Indikator für die Diskussion, der auch im Bereich der Vergleichbarkeit der Mitgliedsstaaten unumstritten ist.
Die Bedeutung der EU-Gleichstellungspolitik für Österreich
Für konservative Länder wie Österreich können rechtliche Vorgaben und politische Diskussionen seitens der EU durchaus positiv bewertet werden. Seit 2010 hat sich beim EIGE Gleichstellungindex der Ergebniswert für Österreich zwar um 12,5 Prozentpunkte verbessert, dennoch verändert sich am Ranglistenplatz sehr wenig. Zudem verzeichnet Österreich im Arbeitsmarktbereich zuletzt Verschlechterungen. Es zeigt sich auch, dass die großen Verbesserungen bis circa 2017 passierten, seither haben sich die Gleichstellungserfolge Österreichs in allen Bereichen deutlich verlangsamt.
Ähnliches wird im Rahmen der Barcelona-Ziele sichtbar; während sich Österreich zunächst bemühte, die EU-Vorgaben zu erfüllen, verlangsamte sich der Ausbau der Kinderbetreuung ab 2010 massiv – als klar war, dass man die Ziele nun jedenfalls nicht zeitgerecht erreichen konnte. In den Verhandlungen zur Überarbeitung der Barcelona-Ziele im Jahr 2022 zeigten sich dann Österreichs fehlende Ambitionen. Während die Kommission die Erhöhung der Quote für unter Dreijährige in institutioneller Betreuung auf 50 Prozent erhöhen wollte, konterkarierte Österreich im Europäischen Rat diesen Vorstoß und forderte eine Reduzierung der Zielvorgaben auf weniger als die bis 2010 ausgegebenen 33 Prozent.
Auch bei der Umsetzung der Vereinbarkeitsrichtlinie im Jahr 2023 riskierte Österreich nicht nur ein Vertragsverletzungsverfahren, sondern verpasste wesentliche Weichenstellungen für gleicher verteilte Karenzzeiten zwischen Elternteilen und damit eine Umverteilung von bezahlter Arbeit. Es ist also wenig überraschend, dass Österreich seit Jahren beim Gender-Pay-Gap nur den vorletzten Platz einnimmt, beim Gender-Overall-Gap sogar den letzten Platz.
Aktuell: die „Lohntransparenzrichtlinie“
Seit Juni 2023 ist nun die EU-Richtlinie zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durch Entgelttransparenz und Durchsetzungsmechanismen („Lohntransparenzrichtlinie“) in Kraft. Die Mitgliedsstaaten haben bis 2026 Zeit für ihre Umsetzung. Für Österreich sind jedenfalls positive Entwicklungen zu erwarten, da Beschäftigte einen Auskunftsanspruch über die durchschnittliche Entgelthöhe von einer Gruppe von Beschäftigten, die gleiche oder gleichwertige Arbeit wie sie selbst verrichten, erhalten. Verschwiegenheitsklauseln werden verboten und Arbeitgeber müssen geschlechtsspezifische Lohndifferenzen von mindestens fünf Prozent künftig rechtfertigen. Wie ambitioniert Österreich diese Richtlinie umsetzen wird, ist noch offen.
Fazit
Immer wieder wirken Initiativen von EU-Kommission, EU-Parlament und mitunter den EU-Präsidentschaften Rückschritten und Angriffen auf die Geschlechtergleichstellung in den einzelnen Mitgliedsstaaten entgegen. Auch in Österreich waren die Inputs durch die EU-Gleichstellungspolitik in den vergangenen Jahren deutlich fortschrittlicher, wenngleich in ihren Zielen häufig ähnlich neoliberal – also am Wettbewerbsdogma ausgerichtet – gekennzeichnet. Für Österreich enthalten die Länderempfehlungen z. B. seit Jahren immer wieder die gleichen Ziele, Frauenerwerbstätigkeit zu erhöhen und dafür den Zugang zu Kinderbetreuung zu verbessern und die „Verringerung der Fehlanreize für Zweitverdiener:innen“ umzusetzen. Aus emanzipatorischer Sicht sollten neben der Förderung von ökonomischer Unabhängigkeit von Frauen die Verteilung der unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern, etwa durch höhere unübertragbare Partneranteile bei Karenz und Kinderbetreuungsgeld, die Aufwertung von Care-Arbeit sowie die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt sowie allgemein Machtfragen stärker im Fokus stehen.
Gleichstellungspolitiken stehen miteinander in Wechselwirkung. Deshalb müssen sie in allen Themenbereichen berücksichtigt werden. So sollten aktuelle Erkenntnisse – etwa aus den Arbeiten des EIGE – in alle Fachbereiche der EU einfließen. Insbesondere haben auch die Themenbereiche Sozial- sowie Finanzpolitik starke Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse und in den großen aktuellen Themen, wie etwa im Rahmen eines grünen Strukturwandels (Green Transition), müssen Fragen der Gleichberechtigung zentral mitbedacht werden.
Wie es in der Gleichstellungspolitik weitergeht, wird auch wesentlich von den Ergebnissen der EU-Wahlen im Juni 2024 abhängen. Ob es weiterhin die nötigen positiven Impulse von der EU-Ebene geben wird, ist angesichts der ersten EU-Wahlprognosen völlig offen.