Wohlstand und Wettbewerbs­fähigkeit – wie steht Österreich da?

19. August 2024

Die neue EU-Kommission setzt wieder stärker auf Wettbewerbsfähigkeit und fordert zum Handeln auf. Es besteht die Gefahr, dass dies zulasten von Arbeitnehmer:innen geht. Vielmehr muss Wettbewerbsfähigkeit auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigen, die den Wohlstand der Bevölkerung ins Zentrum stellen. Österreich hat hier Aufholbedarf.

Was ist Wettbewerbsfähigkeit?

Wettbewerbsfähigkeit wird häufig als zentraler Maßstab für den wirtschaftlichen Erfolg von Ländern herangezogen. Meist wird Wettbewerbsfähigkeit jedoch nicht definiert oder das dahinterstehende Konzept erläutert, sondern lediglich als Schlagwort zur Durchsetzung einer politischen Agenda verwendet. Insbesondere die Vertreter:innen der exportorientierten Industrie füttern gerne das Narrativ, dass höhere Löhne Wettbewerbsnachteile bringen. Nur niedrige Kosten und hohe Exporte würden zu Wachstum führen. Dies entspricht jedoch einem jahrzehntealten Verständnis von Wettbewerbsfähigkeit und führt zu einem Unterbietungswettbewerb von nationalen Arbeits- und Umweltstandards.

Das Konzept der Wettbewerbsfähigkeit wurde seither mehrfach weiterentwickelt. Seit den 1980er Jahren gewann die Diskussion um die sogenannte qualitative Wettbewerbsfähigkeit an Bedeutung. Damit wurden auch Kriterien wie technisches Know-how, Image, Qualität, Infrastruktur, Investitionen sowie die Qualität des Bildungssystems eines Landes berücksichtigt, in dessen Umfeld Unternehmen tätig sind.

Später wurde Wettbewerbsfähigkeit auch unter dem Aspekt debattiert, wie viel exportiert oder konsumiert werden kann. Einerseits gab es eine große und fehlgeleitete Exportdebatte, andererseits gab es zum Teil erfolgreiche Bemühungen, das eigentliche Ziel des Wirtschaftens – Wohlstand und Lebensqualität – als relevante Faktoren heranzuziehen. Dies führte zu einer Definition, die qualitativ hochwertige Beschäftigung, soziale Sicherheit, Verteilungsgerechtigkeit, Gesundheit und ökologische Nachhaltigkeit berücksichtigt. Die Arbeiterkammer veröffentlicht bereits seit 2018 jährlich den „AK-Wohlstandsbericht“, aber auch das WIFO greift seit 2020 in seinem „WIFO Radar der Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft“ erweiterte Wohlstandskriterien auf.

Sollte Wettbewerbsfähigkeit überhaupt ein Ziel sein?

Eine Fixierung auf preisliche Wettbewerbsfähigkeit führt in erster Linie zu Konkurrenz zwischen den Staaten und verhindert die Kooperation. Auf der Ebene von Unternehmen kann Wettbewerb durchaus zu Produktivitätssteigerung führen. Auf der Ebene von Staaten verhindert das aber Kooperationen und führt im Namen der Wettbewerbsfähigkeit wie bereits beschrieben zu einem Unterbietungswettbewerb von nationalen Arbeits- und Umweltstandards. Wenn alle versuchen, höhere Exportziele zu erreichen, muss es Verlierer:innen und Gewinner:innen geben. Dies führt zu einem Gefangenen-Dilemma, beim dem das optimale Ergebnis eigentlich durch Kooperation erreicht würde, die beste Strategie jedes einzelnen Landes aber darin besteht, eigennützig zu handeln. Das Gesamtergebnis für die Gesellschaft ist dabei das denkbar schlechteste.

Dies zeigt sich auch in der europäischen „Gold-Plating“-Debatte: Unternehmensvertreter:innen und zuletzt auch der Letta-Bericht fordern eine Anpassung der arbeits- und sozialrechtlichen Normen sowie der Umweltstandards nach unten. Sie halten nationale Schutzmaßnahmen für Arbeitnehmer:innen und Umwelt, die über den europäischen kompromissfähigen Mindeststandards liegen, für überflüssigen Luxus – also für „Gold-Plating“ – und somit für wettbewerbshemmend. Das steht jedoch in einem unmittelbaren Zielkonflikt mit Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union, der festhält, dass das Ziel der Union das „Wohlergehen“ aller Europäer:innen ist.

Gerade in der Zeit rund um die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007/08 wurde viel über die Leistungsbilanzen der Länder diskutiert. Während Deutschland als Exportweltmeister gefeiert wurde, wurde Griechenland und Spanien vorgeworfen, über ihre Verhältnisse zu leben. In den Überschussländern wie Deutschland und Österreich war das Wirtschaftswachstum ausschließlich exportgetrieben. Die Gewinne schlugen sich weder in der Binnennachfrage noch in den Importen nieder. Man könnte also auch sagen, dass diese Länder nicht unter Exportüberschüssen, sondern unter Importdefiziten litten. In der verkürzten Debatte um Lösungen wurde nicht über Investitionen oder Regulierung der Finanzmärkte gesprochen, sondern über Austeritätspolitik, neoliberale Strukturreformen und eine Senkung der Lohnkosten, um den Ländern aus der Krise zu helfen. Das hat zu massiven Wohlstandsverlusten in den betroffenen Ländern geführt.

Die Fixierung von Ländern auf preisliche Wettbewerbsfähigkeit führt zu einem Wettbewerb nach unten. Wenn man dennoch von Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften sprechen will, dann muss man wie oben dargestellt ein breites Konzept anwenden, das eine langfristige und nachhaltige Wohlstandsentwicklung im Auge hat. Diese Definition steht auch im Einklang mit den Verträgen der Europäischen Union. Es kann berechtigterweise die Frage gestellt werden, ob es sich dann noch um einen Wettbewerb zwischen Ländern handelt oder nicht gleich von Wohlstand gesprochen werden sollte.

Standort Österreich: wirtschaftlich ein gemischtes Bild

Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre war geprägt durch COVID und die Teuerungskrise, insbesondere bei den Energiepreisen hat die österreichische Wirtschaftspolitik zu wenig eingegriffen. Das Konsumwachstum wurde dadurch gebremst, nicht jedoch die Exporte. Auch der AK-Wohlstandsbericht 2023 kommt zu einer pessimistischen Einschätzung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Österreich.

Die Reallöhne pro Kopf sind durch die Teuerungskrise massiv eingebrochen und erreichen voraussichtlich erst heuer wieder das Niveau von 2020. Die kollektivvertragliche Lohnpolitik hat vor allem den massiven Wohlstandsverlust bekämpfen müssen, der durch die Krisen der letzten Jahre entstand. Eine Lohnpolitik, die sich rein auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit (Lohnstückkosten) konzentrieren würde, hätte massive Wohlstandsverluste nach sich gezogen. Ohne Garantie, dass dadurch die Exporte noch kräftiger gewachsen wären.

Trotz gestiegener Insolvenzen und Industrierezession der letzten Quartale ist die Industrieproduktion im Vergleich zu 2015 aber um knapp ein Viertel gewachsen. Eine Steigerung, die um ein Drittel höher ist als jene Deutschlands und um 18 Prozent höher als jene der europäischen Industrie insgesamt. Die Unternehmen in Österreich investierten 2023 im Umfang von 21,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit in Relation deutlich mehr als Unternehmen in Deutschland. Diese langfristigen Investitionen zeigen, dass die Unternehmer:innen den Standort offensichtlich für wettbewerbsfähig halten.

Hinzu kommt der gut ausgebaute österreichische Sozialstaat, der den Wohlstand stützt. Er fungiert als automatischer Stabilisator in Krisen, erhöht die Standortqualität durch ein umfassendes öffentliches Bildungssystem und ist damit für die Unternehmen und deren Wettbewerbsfähigkeit förderlich. Der positive Zusammenhang zwischen Sozialquote und der Wettbewerbsfähigkeit ist auch empirisch belegt, weshalb es im Interesse aller Akteur:innen ist, den Sozialstaat auszubauen.

Herausforderungen in Österreich erfordern europäische Kooperation

Die Notwendigkeit der Einhaltung der ambitionierten europäischen Klimaziele und der gleichzeitig rasante Fortschritt im Bereich der digitalen Innovationen stellen die gesamte Gesellschaft vor große Herausforderungen. Im Zentrum stehen die Dekarbonisierung der Wirtschaft und damit die Abkehr von fossilen Energieträgern, die aktuell aber noch mehr als zwei Drittel des österreichischen Energieverbrauchs decken. Dies kann nur durch eine weitgehende Elektrifizierung mit erneuerbarem Strom als Hauptenergiequelle gelingen.

Dementsprechend müssen die bestehenden Stromnetze ausgebaut werden, wobei die Kosten gerecht verteilt werden müssen. Die Elektrifizierung gelingt durch den Ausbau von Wind-, Sonnen- und Wasserkraft, und die Mobilität ist auf Batterien angewiesen. Die Herstellung dieser Produkte geht aber einher mit einem enormen zusätzlichen Bedarf an bestimmten Rohstoffen für Windräder und Batterien für Autos. Der Ausbau der Rohstoffversorgung aus heimischen und europäischen Quellen ist nur begrenzt möglich, und der Aufbau geschlossener und transparenter Rohstofflieferketten wird erschwert, indem einige wenige transnationale Unternehmen den globalen Rohstoffmarkt kontrollieren. Dementsprechend hat der globale Wettlauf um wichtige Rohstoffe längst begonnen.

Viele der Herausforderungen können einzelstaatlich nicht gelöst werden, es braucht ein geeintes und koordiniertes Vorgehen. An dieser Stelle wird auch klar, dass häufig die Kooperation von Ländern – und nicht der Wettbewerb und das Gegeneinander – die Lösung ist, wenn es um gemeinsame Ziele geht. Auch wenn das in der EU nicht leicht ist, gab es in den letzten Jahren eine Vielzahl an Initiativen. Erstmals gelang auch eine gemeinsame europäische Anleiheemission (Aufbau- und Resilienzfazilität) zur Finanzierung von Investitionen für eine nachhaltigere und krisenfestere Europäische Union. Häufig fehlen aber spezifische Ziele, Zeitpläne und Pfade, die konkrete Maßnahmen und Anreizsystematiken inkludieren.

Fazit

Eine einseitige Fixierung auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit in Österreichs greift viel zu kurz. Denn Wettbewerbsfähigkeit findet vor allem auf unternehmerischer Ebene statt und ist dennoch nicht gleichzusetzen mit dem Vergleich von preislichen Entwicklungen. Stattdessen müssen wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele verfolgt und der Wohlstand der Bevölkerung erhöht werden. Im europäischen Vergleich steht Österreich insgesamt mittelfristig gut da, auch wenn die Wirtschaftspolitik in der Bekämpfung der Teuerung versagt hat. Vor allem in den Bereichen Klimaschutz, Digitalisierung und demografischer Wandel besteht aber ein hoher Aufholbedarf. Diese Herausforderungen müssen europaweit und gemeinsam gemeistert werden. Dafür braucht es eine mutige Industriepolitik und massive Investitionen – sowohl von Unternehmen als auch im öffentlichen Sektor auf allen Ebenen. Deren Koordination und Finanzierung ist eine der drängendsten Aufgaben der neuen EU-Kommission.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Fassung des gemeinsam mit Nicolas Barden verfassten Editorials „Wie geht’s dem Standort? Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand in Österreich“ der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“, Band 50, Nr. 2. In dieser Ausgabe finden sich u. a. auch interessante Beiträge über die potenziellen Auswirkungen einer allgemeinen Lohnuntergrenze in Österreich sowie über die ökonomischen Folgen des Kriegs in der Ukraine.

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