BeamtInnen mit Ärmelschonern, die rigoros die Einhaltung zumeist unnötiger Vorschriften kontrollieren und meterhohe Formularstapel mit einem „Genehmigt“- oder „Abgelehnt“-Stempel versehen. Viele haben vermutlich ähnliche Bilder im Hinterkopf, wenn sie an Bürokratie denken. Dass so manche WirtschaftsvertreterInnen mit Bürokratieabbau und Verwaltungsentlastung jedoch tatsächlich eine Reduktion von Beschäftigten-, Sozial- und KonsumentInnenstandards verbinden, ist vielen hingegen kaum bewusst.
Gold Plating – was ist das?
Worum geht es beim sogenannten Gold Plating überhaupt? Regelmäßig werden auf EU-Ebene Richtlinien verabschiedet, die Mindeststandards für die jeweiligen Politikbereiche (beispielsweise Beschäftigung, Verbraucherschutz, Umwelt) enthalten. Diese Richtlinien müssen in nationales Recht umgesetzt werden, wobei die im EU-Rechtstext definierten Mindeststandards nicht unterschritten werden dürfen.
Bereits im Vorfeld zu Verhandlungen für neue EU-Rechtsakte kämpfen Mitgliedsländer, die selbst niedrige Schutzniveaus beispielsweise im Beschäftigungs- oder Umweltbereich haben, dafür, dass die Minimumstandards dieser Rechtsakte möglichst tief angesetzt werden. Damit wollen diese Länder die Aufwendungen für die Hebung ihrer eigenen Niedrigststandards möglichst gering halten.
Viele EU-Staaten haben demgegenüber jedoch wesentlich modernere Gesetze, die weit bessere Standards für ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen oder die Umwelt vorsehen. Diese fortschrittlichen Regelungen als Gold Plating zu bezeichnen, ist aber irreführend. Es geht um keine überbordende Bürokratie oder besonderen Luxus, der mit den jeweiligen Gesetzen verbunden ist. Im Gegenteil: Es geht um selbstverständliche, teilweise seit Jahrzehnten bestehende Standards, die nun unter dem Vorwand des Gold Plating infrage gestellt werden sollen.
Initiative der Regierung nichts Neues
Für die neue Regierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz ist die Überprüfung von Gold-Plating-Bestimmungen eine der ersten Initiativen, die umgesetzt werden soll. Die Bürokratie soll damit laut Regierungsprogramm minimiert und die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden. Es ist nicht die erste Regierung, die derartige Ziele verfolgt. Bereits 2001 wurde ein Deregulierungsgesetz verabschiedet: Darin hervorgehoben wurde unter anderem, dass vorgegebene Standards in EU-Richtlinien nicht ohne Grund übererfüllt werden sollen. Erst im April 2017 wurde das Deregulierungsgrundsätzegesetz verabschiedet, welches ebenfalls als Grundsatz auffordert, Standards aus EU-Richtlinien nicht ohne Grund überzuerfüllen.
Betroffen: Arbeitszeiten, Verbraucherrechte, Müllentsorgung …
Österreich geht in vielen gesellschaftspolitischen Bereichen über das in den EU-Richtlinien formulierte absolute Mindestmaß hinaus:
- Gemäß der Arbeitszeit-Richtlinie wäre eine Wochenarbeitszeit von bis zu 75 Stunden und eine tägliche Arbeitszeit von maximal 13 Stunden möglich. Zudem ist ein bezahlter Jahresurlaub von mindestens vier Wochen im Jahr vorgesehen. Das österreichische Arbeitsrecht sieht im Vergleich dazu grundsätzlich eine Wochenarbeitszeit von maximal 50 Stunden und eine Tagesarbeitszeit von zehn Stunden vor. Der bezahlte Jahresurlaub beträgt mindestens fünf Wochen bzw. nach 25 Jahren Dienstzeit sechs Wochen. Das Gold Plating in diesem Fall also: 25 Stunden weniger Wochenarbeitszeit und statt 13 nur zehn Stunden tägliche Arbeitszeit; hinzu kommt ein bis zwei Wochen mehr Jahresurlaub. Die Gefahr, dass diese Regelung gelockert wird, ist durchaus real: Die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) fordert in der Informationsbroschüre „Vereinfachen und Entlasten“ eine gesetzliche Höchstarbeitszeit von 60 Stunden pro Woche sowie eine tägliche Höchstarbeitszeit von zwölf Stunden. Die ersten zehn Arbeitsstunden pro Tag sollen zudem nach dem Willen der WKO zuschlagsfrei bleiben. Genau in diese Richtung will nun auch die neue Regierung gehen: Sie hat bereits in ihren Koalitionsverhandlungen angekündigt, die Höchstgrenze von zwölf Stunden täglich bzw. 60 Stunden wöchentlich einzuführen.
- Beim VerbraucherInnenschutz geht Österreich ebenso in vielen Fällen über die EU-Mindeststandards hinaus: beispielsweise bei der Deckelung der Pönale, wenn der Konsument bzw. die Konsumentin seinen bzw. ihren VerbraucherInnenkredit vorzeitig zurückzahlt. Diese beträgt ein Prozent des vorzeitig zurückgezahlten Betrags (früher waren es sogar fünf Prozent). In der EU-Verbraucherkredit-Richtlinie ist eine derartige Deckelung nicht vorgesehen. Bei Strom und Gas wiederum ist eine Grundversorgung auch bei Zahlungsschwierigkeiten in Österreich gesetzlich verankert. Auch diese Regelung geht über die Vorschriften in den EU-Rechtstexten hinaus.
- Aus den Erfahrungen mit (illegalen) Mülldeponien und deren kosten- und zeitaufwändige Sanierung hat Österreich strenge Standards für Deponieerrichtung und -betrieb entwickelt. Diese gehen weit über die vagen Formulierungen in der EU-Deponien-Richtlinie hinaus. Sie haben vor allem bei Bevölkerung und Wirtschaft Vertrauen geschaffen. Müllentsorgungsprobleme, wie es sie beispielsweise in Italien gibt, kennt Österreich daher nicht.
Es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele, die der Definition nach als Gold Plating eingestuft werden müssten. Regelungen zum Mutterschutz, zur Elternkarenz, zu LeiharbeitnehmerInnen, zur Entsendung von Beschäftigten, zur Berufsqualifikation, aber auch zu wirtschaftspolitischen Bereichen wie der Energiepolitik und der Kontrolle von Unternehmen fallen beispielsweise ebenso darunter.
Justizminister Moser will rasche Überprüfung von Gold Plating in Österreich
Bis Mai 2018 haben Interessenvertretungen und Ministerien laut Medienberichten Zeit, Fälle der „Übererfüllung“ von EU-Regelungen einzumelden. Dass es dabei zur Streichung von Beschäftigten-, KonsumentInnen- oder Umweltstandards kommen könnte, streitet Minister Moser ab. Welche Organisationen ein Absenken der Standards auf das EU-Mindestniveau möchten, soll leider nicht veröffentlicht werden. Bevor es zu einer Streichung kommt, sollen die gesetzlichen Regelungen jedoch hinsichtlich der Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, Beschäftigung und Sozialstandards untersucht werden.
Race to the bottom und die Parallelen zum Steueroasen-Skandal
Bei der Gold-Plating-Diskussion können jedoch auch Parallelen zu den Gewinnverlagerungen der Konzerne in Steueroasen gezogen werden: Das Verhalten von Steuersumpf-Ländern führt zu einem Wettlauf um die niedrigsten Gewinnsteuersätze auf Kosten anderer Staaten.
Ähnliches könnte beim Gold Plating passieren: Beginnen EU-Mitgliedsländer nun vermehrt damit, gesetzliche Bestimmungen, die über den absoluten EU-Minimalstandards beim VerbraucherInnenschutz, bei der Beschäftigung etc. liegen, zu streichen, könnte dies in einem Race to the bottom um die schlechtesten möglichen Standards enden. Dieses Verhalten hätte gravierende Folgewirkungen für die gesamte Gesellschaft. Gewinner wären wie schon bei den Steueroasen-Skandalen hauptsächlich Großindustrielle und multinationale Konzerne.
Antibürokratieprogramm REFIT – Vorrang für Klein- und Mittelunternehmen
Die Diskussion zur Reduktion von gesetzlichen Regelungen ist jedoch nicht neu. Seit vielen Jahren arbeitet die Europäische Kommission im Rahmen von Programmen und Prozessen daran, die „überbordende Bürokratie“ auf EU-Ebene abzubauen. Die Beteuerung der Kommission: Es gehe ihr um die Bürgerinnen und Bürger, um die Gesellschaft und auch um die kleinen Unternehmen.
Im Rahmen von REFIT, dem Programm zum Abbau von Verwaltungslasten, soll mehr Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung gewährleistet werden. Auf den ersten Blick eine begrüßenswerte Initiative. Ein Blick hinter die Kulissen sorgt jedoch für Ernüchterung: Eine eigene von der Kommission eingesetzte hochrangige Gruppe unter dem Vorsitz des ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber stellt im Abschlussbericht klar: Es ist demnach die konsequente Anwendung des Prinzips „Vorfahrt für Klein- und Mittelunternehmen“ anzuwenden. Die Gruppe um Stoiber empfiehlt im Bericht darüber hinaus den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Gold Plating auf nationaler Ebene zu überprüfen.
Von den Anliegen der Beschäftigten und der Gesellschaft ist in der weiteren Folge nichts mehr zu lesen, ganz im Gegenteil: Die derzeit in Verhandlung befindliche REFIT-Initiative zur Einführung der sogenannten Europäischen Elektronischen Dienstleistungskarte würde beispielsweise Scheinselbstständigkeit und Scheinentsendungen fördern. Sie schadet also den Beschäftigten. Zudem würde sie durch Einführung einer neuen Behördenstruktur für zusätzliche statt für weniger Bürokratie sorgen. Auf der anderen Seite weigert sich die EU-Kommission seit Jahren beharrlich, einen Legislativvorschlag zur Verbesserung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Friseurhandwerk vorzulegen. Dies obwohl sich die Europäischen Sozialpartner (bestehend aus einer Arbeitnehmer- und drei Arbeitgeberorganisationen) bereits darauf verständigt hatten und die Umsetzung sozialpartnerschaftlicher Vereinbarung sonst üblich ist.
REFIT und Gold Plating – eine gefährliche Kombination
Der mögliche Schaden für die Gesellschaft kann sich noch erhöhen, wenn REFIT und Gold Plating kombiniert werden: Über die Streichung von nationalen Gold-Plating-Bestimmungen könnten in einem ersten Schritt bessere nationale Regeln geopfert werden. Es gelten in der Folge nur mehr die Mindeststandards der EU-Richtlinien. Im schlimmsten Fall könnte es über das REFIT-Programm jedoch eine weitere Nivellierung nach unten geben. Nämlich dann, wenn die EU-Rechtsbestimmung im Rahmen von REFIT überarbeitet wird und die Standards gesenkt werden. Dann hätten die Betroffenen den doppelten Schaden.
Eines ist offensichtlich: Sowohl die Streichung von Gold Plating als auch REFIT sind Wunschprogramme der Wirtschaft. Für Beschäftigte und VerbraucherInnen sind hingegen deutlich schlechtere Rahmenbedingungen zu befürchten.