EU-Programm REFIT: Und wieder ein Wolf im Schafspelz

07. Mai 2015

Eigentlich klingen die Ziele von REFIT, dem EU-Kommissionsprogramm „zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung“, ja ganz vernünftig: Alte und teilweise sperrige EU-Rechtstexte sollen durch ein einfaches und effizientes EU-Recht ersetzt werden. Tatsächlich jedoch dürfte es sich dabei aber um ein neues Instrument der EU-Kommission und des Wirtschaftssektors handeln, um unliebsame Standards wie beispielsweise im Beschäftigungs- oder Verbraucherschutz los zu werden.

Gesetzesvorschläge zur Gesundheit der Beschäftigten sind für die EU-Kommission obsolet

So kündigt die EU-Kommission in einer Mitteilung zu REFIT vom Juni 2014 an, geplante Gesetzesvorschläge zu Erkrankungen des Bewegungsapparats, Passivrauchen oder Karzinogenen nun doch nicht vorzulegen. Denn das, so die Logik der zuständigen KommissionsbeamtInnen, würde doch nur zu Verwaltungslasten für Unternehmen führen. Dieses Verhalten gipfelte in der Entscheidung der Kommission, auch keinen Legislativvorschlag bezüglich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Friseurhandwerk vorzulegen – trotz einer bereits erfolgten Vereinbarung der Europäischen Sozialpartner. Auf Argumente, dass diese Rechtsvorhaben einen hohen Nutzen haben, geht die Kommission sicherheitshalber gleich gar nicht ein. Weniger Krankenstände, weil der Arbeitgeber Maßnahmen setzt, damit der Rücken seiner Beschäftigten nicht mehr (so) schmerzt, wäre durchaus ein Nutzen für den Unternehmer sowie für die öffentliche Hand. Die Kostenersparnis reicht von der Verhinderung fallweiser bis dauerhafter Krankenstände, Behandlungskosten bis hin zu einer eventuell notwendigen vorzeitigen Pensionierung und der dadurch erforderlichen Einschulung einer neuen Fachkraft. Leider hören die Überlegungen der Kommission bereits bei dem Punkt „Kosten“ auf. Schade eigentlich, denn würde die Kommission bis zum Punkt „Nutzen“ weiterdenken, würde sie womöglich zur Schlussfolgerung kommen, dass der Nutzen ungleich höher ist, als die dafür notwendigen Aufwendungen.

Wie ist es eigentlich zu dieser Entwicklung gekommen? Bereits im Jahr 2002 hat die Europäische Kommission mit dem Programm „Bessere Rechtsetzung“ damit begonnen eine Initiative zu verfolgen, um unnötige und veraltete Rechtstexte auf EU-Ebene aufzuheben oder zu vereinfachen. Dieser Prozess wurde 2007 mit der Einsetzung einer Hochrangigen Gruppe im Bereich Verwaltungslasten noch einmal vorangetrieben. Im Dezember 2012 mündeten die Bemühungen der EU-Kommission schließlich im Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (REFIT).

Stoiber-Gruppe will Vorfahrt für Klein- und Mittelbetriebe

Gerade der Abschlussbericht dieser Hochrangigen Gruppe unter dem Vorsitz des ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber lässt keine Zweifel über die Ziele von REFIT aufkommen:

So sehen die Empfehlungen „die konsequente Anwendung des Prinzips Vorfahrt für Klein- und Mittelbetriebe“ vor; Legislativvorschläge sollen unter dem Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit geprüft werden; eine „one in one out“-Regel wird gefordert, sprich: Es soll ein System eingeführt werden, bei dem im Falle von Belastungen für Unternehmen aufgrund neuer EU-Vorschriften ein Ausgleich geschaffen wird, indem an anderer Stelle im EU-Recht für Entlastungen gesorgt wird.

Irritierte UnternehmerInnen

Auch sonst spart der Abschlussbericht nicht mit einschlägigem Vokabular und Kommentaren: So müsse man bei der Berechnung der „Verwaltungskosten“ den „Grad der Irritation, den eine bestimmte Informationspflicht bei Unternehmen auslöst“ sehen, denn diese „Irritation“ stehe doch sehr häufig in keinem Verhältnis zu den auferlegen Verwaltungslasten. Ein Argument, dem die Kommission gerne folgt, denn es ist schon überaus irritierend wenn nicht verstörend für UnternehmerInnen, wenn ihnen ihre ArbeitnehmerInnen mit bestimmten Rechten daherkommen.  Die Kommission schlägt daher für dieses Jahr als REFIT-Maßnahme vor, EU-Regelungen zur Unterrichtung und Anhörung von Beschäftigten zu überprüfen. Das betrifft unter anderem Richtlinien zur Unterrichtung von Beschäftigten bei Massenentlassungen, Betriebsübergängen und Informationspflichten über den Arbeitsvertrag. Auf die Evaluierung könnte eine Vereinfachung folgen, wie die Kommission andeutet: Eine Reihe von Richtlinien könnten zusammengelegt werden. Nachdem ein reines Zusammenlegen von Rechtstexten jedoch überhaupt keine Kostenreduktionen für Unternehmen bringt, ist zu befürchten, dass im Zuge der Vereinfachungsarbeiten einige ArbeitnehmerInnenstandards geopfert werden. So könnte der „Irritationsgrad“ für UnternehmerInnen gesenkt werden. Ob die Kommission in ihren Berechnungen auch niedrigere Gesprächstherapiekosten für irritierte und verstörte ArbeitgeberInnen auf der Nutzenseite miteinkalkuliert hat, wird in den Unterlagen der Kommission leider nicht erwähnt.

Weiters bedauert die Stoiber-Gruppe, dass bei den Finanzdienstleistungen nur wegen der Finanzkrise geplante Einsparungen nicht möglich waren: KleinanlegerInnen hätten im Zuge der Krise finanzielle Einbußen erlitten. Da wird es natürlich schwierig, die Streichung von Informationspflichten für Anlageprodukte (Basisinformationsblätter) zu fordern. Trotzdem hält die Stoiber-Gruppe fest, dass diese Pflichten für den Finanzsektor einen zusätzlichen Aufwand von 171 Mio. Euro bedeuten. An dieser Stelle dürften die Autoren damit spekuliert haben, dass diese Zahl als gegeben hingenommen wird. Bei einer näheren Recherche stellt sich heraus, dass im Bericht zur Folgenabschätzung lediglich von einmaligen Kosten in Höhe von 171 Mio. Euro die Rede ist. Die jährlichen Kosten von 14 Mio. Euro entsprechen nicht einmal einem Zehntel der von den Autoren angegebenen Aufwendungen. Die EU-Kommission hat aber auch eine gute Nachricht – für den Finanzsektor, leider nicht für den Verbraucher – parat: Ein geplantes System zur AnlegerInnenentschädigung soll nun mangels Fortschritten bei den Verhandlungen der Gesetzgeber sang- und klanglos zurückgezogen werden.

Traurig ist die Hochrangige Gruppe im Bereich Verwaltungslasten offensichtlich auch darüber, dass im Bereich Lebensmittelsicherheit zusätzliche „Verwaltungs“-kosten von rund 104 Mio. Euro entstehen. Das ist auf einen Rechtsvorschlag bezüglich Informationen der VerbraucherInnen über Lebensmittel zurückzuführen, der etwas mehr Licht ins Dunkel beispielsweise hinsichtlich der Herkunft und der Zusammensetzung der Lebensmittel bringen soll.

 In Summe plant die EU-Kommission in diesem Jahr eine Überprüfung von 79 Rechtsakten und ein Zurückziehen von weiteren 80 Rechtsvorschlägen. Der Fokus liegt dabei wie mehrmals erwähnt beim Unternehmenssektor. Auch wenn die Kommission in ihrer Mitteilung zu beruhigen versucht und festhält, dass natürlich die Meinung aller gesellschaftspolitischen Gruppierungen zählt und REFIT keine negativen Auswirkungen auf Gesundheit, Sicherheit, VerbraucherInnen, Beschäftigte oder die Umwelt haben werde. Der Abschlussbericht der Stoiber-Gruppe und die angekündigten REFIT-Maßnahmen sprechen eine andere Sprache.

Der Bürokratieschmäh der WirtschaftsvertreterInnen

Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass sich Wirtschaftsverbände und UnternehmervertreterInnen immer wieder über „große Bürokratiehürden“ beschweren. So empört sich das deutsche Handwerk darüber, dass sie die geleisteten Arbeitszeiten dokumentieren müssen, damit der Mindestlohn kontrolliert werden kann. „Ein Bürokratie-Monster“, so das deutsche Handwerksblatt. In einem Schreiben zur besseren Rechtsetzung fordert BUSINESSEUROPE sogar, dass die Legislativvorschläge  zur Finanztransaktionssteuer, zu Frauenquoten für Aufsichtsräte und zum Mutterschaftsurlaub zurückgezogen werden sollen.

Gerne behaupten VertreterInnen des Wirtschaftssektors und mancher öffentlicher Stellen, dass REFIT positiv für den Arbeitsmarkt wäre, denn: Wenn „Bürokratie“ im Rahmen von REFIT abgebaut werden kann, schaffe das Arbeitsplätze. Eine nicht nachvollziehbare Behauptung: Das primäre Ziel von Unternehmen ist naturgemäß die Gewinnerzielung. Wenn nun also weniger Auflagen, beispielsweise beim ArbeitnehmerInnenschutz, zu berücksichtigen sind, spart das Kosten und erhöht den Gewinn für die UnternehmerInnen. Neue Beschäftigte werden die Betriebe aber deswegen sicher nicht anstellen, im Gegenteil: Die mit ArbeitnehmerInnenschutz oder anderen eingesparten Aufgaben betrauten Personen werden wohl um ihren Job zittern müssen, denn die FirmeninhaberInnen benötigen sie nun nicht mehr. Nach wie vor gilt daher: Nur Wirtschaftswachstum, verbunden mit einem Anstieg des Auftragsvolumens und dadurch zusätzlich benötigter Arbeitskräfte, schafft Jobs.

Widerstand seitens der Gewerkschaften und anderer Gesellschaftsgruppen

Zwar gab es in der Hochrangigen Gruppe im Bereich Verwaltungslasten ein klares Votum für den Abschlussbericht. Ein Teil der Mitglieder – aus dem Gewerkschafts-, dem KonsumentInnen-, dem Gesundheits- und dem Umweltbereich – stellten sich jedoch gegen diesen Bericht. Sie verfassten eine abweichende Stellungnahme: Darin halten die AutorInnen fest, dass im Abschlussbericht Verwaltungslasten sehr negativ und unausgewogen beurteilt werden. „Lebensmittelkennzeichnung, die Verwendung von Arzneimittel, Umweltzeichen, Offenlegung der Kosten von Finanzdienstleistungen und zur Aufklärung der ArbeitnehmerInnen über ihre Rechte“ seien für die Gruppe eine Verwaltungslast, Hinweise auf den gesellschaftlichen Nutzen fehlen jedoch.

Gegen die eindimensionale Sichtweise bei der nur die Unternehmen zählen und die Interessen und Bedürfnisse aller anderen Akteursgruppen weggewischt werden, setzen sich eine Reihe von Organisationen ein. Viele von ihnen haben sich in einem neuen Netzwerk gegen REFIT zusammengefunden, darunter Beschäftigtenvertretungen wie der Europäische Gewerkschaftsbund, die Dienstleistungsgewerkschaft UNI EUROPA, der ÖGB und die Bundesarbeitskammer Österreich. Unter den rund 30 Organisationen sind außerdem der europäische VerbraucherInnenverband BEUC, Umwelt-, Verkehrs-, Gesundheits- und andere Nichtregierungsorganisationen vertreten. Das Brüsseler Büro der Bundesarbeitskammer Österreich, AK EUROPA, organisierte darüber hinaus zusammen mit dem ÖGB bereits im Jänner 2015 eine kritische Diskussionsveranstaltung zum Thema REFIT.

Aus den bisher gemachten Erfahrungen zu REFIT ist klar: Leider handelt es sich hier wieder einmal um „einen Wolf im Schafspelz“, denn den Vorteilen für den Unternehmenssektor dürften viele Nachteile für alle anderen Gesellschaftsgruppen gegenüberstehen.

Leseempfehlung:

AK-Stellungnahme zu REFIT – dem Programm  zur Gewährleistung der Effizienz und Leis-tungsfähigkeit der Rechtsetzung