In der aktuellen Krise hat sich einmal mehr die Fähigkeit der ökonomischen und politischen Eliten zur Durchsetzung ihrer Leseart der Realität gezeigt, die mit dieser aber nur wenig gemein hat. So präsentierten sie die Eurokrise als logische Konsequenz aus dem „Leben über den Verhältnissen“ in der wirtschaftlichen Peripherie – vor allem hinsichtlich der Löhne. Obwohl diese Behauptung für Spanien nicht das Geringste mit der durch fehlende Reallohnzuwächse und einer fallenden Lohnquote charakterisierten Realität zu tun hatte, führte diese Eliteninterpretation zu einem beispiellosen Angriff auf die ArbeitnehmerInnen. Wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt diesen Angriff abzuwehren, wird sich diese Aggression auch auf der europäische Ebene verschärfen und zu einem Lohnkonkurrenzkampf zum Schaden der Mehrheit der EuropäerInnen führen. Internationale Solidarität ist daher unerlässlich.
Gleich nach ihrem Ausbruch begannen die EntscheidungsträgerInnen in Brüssel ihre Geschichte der Finanz- und Wirtschaftskrise in der Eurozone zu erzählen. Mit den tatsächlich entscheidenden Determinanten – also private Überschuldung und Finanzmarktderegulierung, die bestehenden starken strukturellen Asymmetrien zwischen den Mitgliedern in der Eurozone sowie das Fehlen einer politischen Institution die die Eurozone zusammenhält – hat ihre Geschichte allerdings wenig zu tun. Konkret verbreiteten sie die Vorstellung, dass das – mit der damals starken Inlandsnachfrage zusammenhängende – Leistungsbilanzdefizit den zunehmenden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit widerspiegelt, der seinerseits wiederum auf exzessiven Lohnsteigerungen beruhe. Diese Argumentation führte zu einer allgemeinen Strategie der Lohnkostensenkung.
Kollektivvertragsverhandlungen – der Wettbewerbsfähigkeit geopfert
Mit dem angeblichen Zweck internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen und Exporte zum Wachstumsmotor zu machen, übten die Autoritäten in Brüssel Druck aus, damit Arbeitsmarktreformen ,mit dem Ziel die Lohnstückkosten zu senken. So führte die aktuelle spanische konservative Regierung Rajoy 2012 eine Arbeitsmarktreform mit tödlichen Folgen für das Kollektivvertragsverhandlungssystem durch.
Die Arbeitsmarktreform ermöglichte Lohnkostensenkungen auf zwei Wege: Erstens wurden die Änderungsmöglichkeiten von Arbeitsbedingungen durch die ArbeitgeberInnen ohne Zustimmung durch die ArbeitnehmerInnen ausgeweitet. Kollektivverträge (KV) auf Firmenebene können nun sektorale Vereinbarungen unterlaufen, und auch ohne Firmen-KV kann nun leichter vom bestehenden sektoralen KV abgewichen werden. Zweitens wurden allgemeine Arbeitsrechte zurückgeschraubt, etwa die Verbilligung und Flexibilisierung von Kündigungen.
So betrug 2013 die vereinbarte KV-Lohnsteigerung (nach Berücksichtigung des Effekts allfälliger Inflationsklauseln) gemäß spanischem Sozialministerium nominell durchschnittlich nur mehr 0,6%, nachdem sie in den Jahren 2008-2011 noch 2,6% betrug. 2013 verzeichneten zudem 43% der abgeschlossenen KV einen niedrigeren oder eingefrorenen Lohn. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die durchschnittlichen Abschlüsse die tatsächlichen Lohnerhöhungen in den Unternehmen nicht ausreichend wiedergeben. So führte die durch die Reform ausgeweitete Möglichkeit zur Abweichung von KV-Vereinbarungen 2013 zur Nichtumsetzung des Verhandlungsergebnisses in mehr als 2.500 Betrieben mit knapp 160.000 Beschäftigten. Da diese Abweichungen in der Statistik des Ministeriums nicht erfasst sind, ist die ausgewiesene durchschnittliche KV-Lohnerhöhung überschätzt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Ende 2013 überhaupt nur noch rund 5 Millionen Beschäftigte von einem gültigen KV – und damit in dieser Statistik – erfasst waren (entspricht knapp einem Drittel der ArbeitnehmerInnen in Spanien).
Die Lohnkosten sinken – mittlerweile sogar bereits nominell
Zieht man die auf SV-Daten basierende Statistik der vierteljährlichen Arbeitskostenerhebung der Statistik Spanien (INE) heran, so zeigt sich wie stark die Bruttolöhne bereits seit einiger Zeit sinken: Die jährliche Veränderung der Arbeitskosten je Beschäftigten ging von +4,3% vor der Krise 2007 (1. Quartal) auf -3,6% im letzten Quartal 2012 bzw. -0,2% im dritten Quartal 2013 zurück. Vergleicht man diese Werte mit der Inflationsrate ergibt sich ein Kaufkraftverlust von 8,4% seit 2010.