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Die Rolle der Löhne im Kontext der EU-Reformpolitik
Zum besseren Verständnis dieser Entwicklung lohnt sich ein Blick auf die der EU-Reformpolitik zugrundeliegenden zentralen Annahmen. Der Ausgangspunkt der von den politischen Eliten in der EU verfolgten Krisenbewältigungsstrategie ist die Wahrnehmung, dass die derzeitige Krise in erster Linie eine Schulden- und (preisliche) Wettbewerbskrise ist. Vor diesem Hintergrund wurden im Wesentlichen zwei Lösungsansätze propagiert: Zum einen die Umsetzung einer strikten Austeritätspolitik mit dem Ziel die öffentlichen Ausgaben zu senken und die Staatsfinanzen zu konsolidieren; und zum anderen die Durchführung grundlegender Strukturreformen zur Verbesserung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit.
In beiden Ansätzen spielen Löhne eine zentrale Rolle. Im Falle der Austeritätspolitik ist der Zusammenhang zwischen EU-Reformpolitik und Lohnentwicklung offensichtlich. Da Arbeitskosten im öffentlichen Dienst einen beträchtlichen Anteil des Staatsbudgets ausmachen, waren Lohnkürzungen, Lohnstopps und die Abschaffung bzw. Kürzung von Zusatzleistungen für öffentlich Bedienstete (wie z.B. das 13. oder 14. Monatsgehalt, Rentenansprüche und Zuschüsse für Mieten, Arzneimittel und Verpflegung) bevorzugte Mittel nationaler Regierungen zur Senkung der öffentlichen Ausgaben – mit direkten Folgen für die Lohnentwicklung in diesen Ländern.
Etwas komplexer ist der Zusammenhang zwischen neoliberalen Strukturreformen und Lohnentwicklung. Die Strategie grundlegender Strukturreformen beruht auf der Annahme, dass die makroökonomischen Ungleichgewichte zwischen Überschuss- und Defizitländern primär auf der unterschiedlichen Entwicklung der Löhne und Lohnstückkosten beruhen, die wiederum zu entgegengesetzten Entwicklungen der (preislichen) Wettbewerbsfähigkeit führen. Vor der Einführung der Europäischen Währungsunion (EWU) hatten Defizitländer die Möglichkeit, ihre preislichen Wettbewerbsprobleme über die Abwertung ihrer Währung zu beheben. Da diese Möglichkeit in der EWU jedoch per definitionem ausgeschlossen ist, besteht die Alternative in einer Strategie der internen Abwertung, d.h. in dem Versuch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit durch eine Reduzierung der Arbeitskosten zu verbessern. Das zentrale Ziel der Strategie der internen Abwertung besteht daher in der Erhöhung der nach unten gerichteten Flexibilität der Löhne, um so sicherzustellen, dass die Nominallöhne nicht stärker ansteigen als die Produktivität. Um dieses Ziel zu erreichen, drängte insbesondere die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen (DG ECFIN) der Europäischen Kommission auf eine weitreichende Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme und wie in ihrem Bericht Labour Market Developments in Europe 2012 (S. 103-104) explizit hervorgehoben auf eine generelle Reduzierung der Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften.
Lohnpolitischer Interventionismus
Zur Umsetzung dieser auf Austerität und Strukturreformen beruhenden Reformpolitik bedienten sich die politischen Eliten dreier Instrumente der direkten lohnpolitischen Intervention: Erstens, länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters, die durch die im neuen System der europäischen Economic Governance vorgesehene Möglichkeit von finanziellen Sanktionen im Falle der Nichteinhaltung der Empfehlungen, einen zunehmend verbindlichen Charakter haben. Zweitens, bilaterale Vereinbarungen zwischen nationalen Regierungen und der Troika – bestehend aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und dem IWF – bzw. mit dem IWF und der EU. In diesen sog. Memoranda of Understanding bzw. Stand-by Arrangements verpflichten sich nationale Regierungen im Gegenzug zu finanzieller Unterstützung zur Durchführung der von den Geldgebern geforderten Reformen. Drittens, den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB im Tausch für die Durchführung politischer Reformen.
Trotz aller formaler Unterschiede der drei Interventionsinstrumente, ist die politische Stoßrichtung die gleiche: die Durchführung weitreichender Arbeitsmarktreformen einschließlich einer moderaten Lohnpolitik und einer Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme. Die Auswirkungen dieser einseitig auf Austerität und neoliberale Strukturreformen ausgerichteten Krisenbewältigungsstrategie auf die Lohnentwicklung zeigt die vom EGI erstellte Infografik.
Fallende Reallöhne während der Krise
Eine Folge der im Zuge der EU-Reformpolitik durchgesetzten Lohnkürzungen und Lohnstopps sowie der teilweise radikalen Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme zeigt sich in einer grundsätzlichen Umkehr der Reallohnentwicklung in den EU-Mitgliedsstaaten seit dem Beginn der letzten Dekade. Im Zeitraum 2000-2008 stiegen die Reallöhne in fast allen EU-Staaten. Im Zuge eines ökonomischen Aufholprozesses konnten einige mittel- und osteuropäische Staaten besonders hohe durchschnittliche jährliche Wachstumsraten von bis zu über 13% in Rumänien verzeichnen. Aber auch Länder wie Irland und Großbritannien wiesen durchschnittliche jährliche Wachstumsraten von über 2% auf. Die einzige Ausnahme war Deutschland, wo es im Vorkrisenzeitraum zu einem Rückgang der Reallöhne kam.
Seit 2009 wandelte sich das Muster der Reallohnentwicklung jedoch grundlegend, so dass es in 15 der mittlerweile 28 EU-Mitgliedsstaaten zu einem Reallohnrückgang kam. Den mit Abstand stärksten durchschnittlichen jährlichen Rückgang der Reallöhne verzeichnete Griechenland (-4,88%), gefolgt von Litauen (-4,02%) und Ungarn (-3,19%). Grundsätzlich lässt sich für die Krisenperiode 2009-2012 für alle Länder, die finanzielle Hilfe von der Troika bzw. dem IWF und der EU erhielten, ein Reallohnrückgang konstatieren.
Restriktive Mindestlohnpolitik während der Krise
Die Infografik belegt darüber hinaus die während der Krise verfolgte restriktive Mindestlohnpolitik, die dazu führte, dass in 11 der 21 Länder mit einem gesetzlichen Mindestlohn der reale Mindestlohn in den letzten drei Jahren (2010-2012) zurückgegangen ist. Auch im Bereich der Mindestlöhne war der Rückgang besonders ausgeprägt in den Ländern, die unter der speziellen Beobachtung der Troika bzw. des IWF und EU standen (Griechenland (-29,3%), Portugal (-5,7%), Spanien (-5,5%) und Irland (-3,3%)). Zu einem substantiellen Anstieg der realen Mindestlöhne kam es lediglich in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern.
Notwendigkeit einer politischen Neuorientierung auf ein stärker lohn- und nachfrageorientiertes Wachstumsmodell
Aus Sicht der angebotsseitig argumentierenden Verfechter der derzeitigen EU-Reformpolitik ist die in der Infografik des EGI für die Mehrzahl der Länder dargestellte negative Lohnentwicklung ein notwendiger Anpassungsprozess zur Stärkung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit und zur Bekämpfung der Schuldenkrise. Aus einer kritischen nachfrageorientierten Perspektive ist die dargestellte Lohnentwicklung das Ergebnis eines austeritätsbedingten Lohnsenkungswettbewerbs, der den privaten Konsum reduziert, deflationäre Tendenzen beschleunigt und insgesamt die ökonomische Stagnation in Europa befördert. Die ebenfalls in der EGI-Infografik enthaltenen dramatischen Zahlen zur Arbeitslosigkeit und zum Armutsrisiko in der Mehrzahl der EU-Staaten belegen die weitreichenden sozialen Auswirkungen dieser auf Austerität und neoliberalen Strukturreformen beruhende Krisenbewältigungsstrategie.
Ein Grundproblem der derzeitigen EU-Reformpolitik besteht in der zentralen Rolle, die sie Löhnen als ökonomische Anpassungsvariable beimisst. Dies führt zu einer verengten Sicht der Rolle von Löhnen als zu minimierender Kostenfaktor. Komplett ausgeblendet wird hierbei die wichtige Funktion von Löhnen hinsichtlich der Schaffung bzw. Stabilisierung der Binnennachfrage und der Förderung der sozialen Inklusion. Diese nachfrageseitige Funktion der Löhne spielt insbesondere in den europäischen Defizitländern eine wichtige Rolle, deren wirtschaftliche Entwicklung wesentlich von der Binnenkonjunktur abhängt. Folglich werden in diesen Ländern die potentiellen positiven Effekte fallender Löhne für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie von den negativen Effekten einer reduzierten Binnennachfrage mehr als überkompensiert. Wie Feigl und Zuckerstätter zeigten, überschätzt die Propagierung eines export-orientierten Wachstumsmodells aus der Krise bei weitem die Bedeutung des Exportsektors für die wirtschaftliche Gesamtentwicklung.
Darüber hinaus ignoriert die Fokussierung auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit, dass die Ursachen der makroökonomischen Ungleichgewichte zwischen Defizit- und Überschussländern nicht in erster Line in der ungleichen Lohnentwicklung liegen, sondern in den unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen und der Zusammensetzung des nationalen Produkt- und Dienstleistungskorbes. Lohnkürzungen in Defizitländern tragen daher nur unwesentlich zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit bei, weil für eine stärker export-orientierte Wachstumsstrategie die industriellen Strukturen entweder fehlen oder so beschaffen sind, dass sie in erster Linie nicht mit den (nordeuropäischen) Überschussländern konkurrieren, sondern eher mit außereuropäischen Ländern.
All dies zeigt die Notwendigkeit einer grundlegenden politischen Neuorientierung auf ein stärker lohn- und nachfrageorientiertes Wachstumsmodell anstelle der Fortsetzung des bisher propagierten Lohnsenkungswettbewerbs.