„Öffentliche Schulden entstehen aus kollektivem und moralischem Fehlverhalten. Der Staat gibt für Sozialleistungen zu viel Geld aus; dies können wir uns in Zukunft nicht mehr leisten. Schulden – öffentliche, wie private – belegen, dass über die eigenen Verhältnisse gelebt wurde. Die einzige Lösung ist konsequentes Sparen: durch Staaten und auch die privaten Haushalte. Notwendige Einschnitte bei Ausgaben müssen daher akzeptiert werden.“
Mit dem Andauern der Krise findet auch ein ständiger Kampf um Bedeutungshoheit statt. Aus der Finanzkrise wurde eine Schuldenkrise, und auf individueller Ebene heißt es nun: „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“. Übersetzt heißt das: Erstens können wir uns einen angeblich zu generösen Sozialstaat nicht leisten. Zweitens seien wir alle „selbst schuld“, weil wir alle übermäßig vom Sozialstaat profitieren. Die Schlussfolgerungen aus dieser Analyse sind bekannt: Sparen, sparen, sparen. Einerseits bei öffentlichen Ausgaben, andererseits auch im Privaten. Wir werden dazu angehalten, weniger zu konsumieren, aber auch Lohnsenkungen und weniger Sozialleistungen in Kauf zu nehmen. Denn die Staatsschulden betreffen uns alle und müssen deshalb solidarisch von allen getragen werden – auch wenn das heißt, „den Gürtel enger zu schnallen“.
Privates Sparen bedeutet höhere Staatsschulden
Der Spagat von öffentlichen zu privaten Schulden wird folgendermaßen argumentiert: Die Schuld an Staatsschulden und vor allem auch die Verantwortung zur Beseitigung der Staatsschulden trägt angeblich das Individuum. Die Staatsschuldenlast, so die Argumentation, werden von uns SteuerzahlerInnen getragen. Um sie abzutragen, müssen wir weniger ausgeben und mehr sparen. Denn in der Vergangenheit hätten wir über unsere Verhältnisse gelebt. Gerne wird dann auch der pro-Kopf Staatschuldenstand ausgerechnet, um die irrationale Furcht auszulösen, dass wir alle früher oder später mit unserem Ersparten für die Staatsschulden aufkommen müssen. Das ist allerdings nicht der Fall, einerseits weil die Staaten auch Vermögen halten, die gegenzurechnen sind, und andererseits weil die BürgerInnen keine „Unternehmensanteile“ am Staat halten und daher nicht direkt für den eigenen Staat haften. Außerdem können durch privates Sparen öffentliche Schulden nicht beseitigt werden.
Denn wenn weniger konsumiert wird, werden weniger Steuern auf Konsum fällig, außerdem können Unternehmen weniger Produkte absetzen und investieren weniger, was wiederum zum Sinken der Beschäftigung führt. Auch letzteres belastet die Staatsfinanzen durch weniger Einkommenssteuereinnahmen und mehr Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung etc. Weniger Konsum bedeutet also nicht weniger Staatsschulden – im Gegenteil. Als Gegenargument hört man dann oft, dass aber durch mehr privates Sparen die Zinsen gesenkt werden (da sich das Geldangebot erhöht und der „Preis“ des Geldes, also der Zinssatz, sinkt) und so Investitionen billiger werden – mit positiven Effekten auf gesamtwirtschaftliche Aktivität und auch die öffentlichen Finanzen. Tatsächlich hat die heimische Sparquote nur einen geringen Einfluss auf den Zinssatz. Denn Unternehmen finanzieren sich international, und auch Banken verleihen nicht nur das Geld, das KundInnen am Sparbuch haben. Viel mehr Einfluss auf Zinssätze als das Sparverhalten im eigenen Lande haben bei dieser Konstellation Erwartungshaltungen, Leitzinssetzungen der Zentralbanken etc. Privates Sparen bedeutet also nicht weniger Staatsschulden.
Sparefroh als moralisches Konstrukt
Konservative liberale AkteurInnen sehen die individuelle Ebene als zentralen Angelpunkt, um gesellschaftliche Änderungen zu erreichen. Gesellschaftliche Missstände werden so weit wie möglich auf individuelles Fehlverhalten zurückgeführt – um möglichst wenig staatliches Eingreifen nötig zu machen. So ist es auch in der Finanzkrise: Anstatt fehlende Regulierung des Finanzsektors und wachsende Ungleichverteilung als Krisenursachen und -auslöser zu sehen, wird versucht, sowohl Ursache als auch Lösung auf individueller Ebene und somit in Eigenverantwortung zu sehen. Zu viele Staatsschulden bedeuten in dieser Logik also, dass die BürgerInnen in der Vergangenheit zu viel ausgegeben haben. Und es bedeutet auch, dass die Lösung darin liegt, in Zukunft nicht „mehr auszugeben als man einnimmt“. Weder Regulation noch Umverteilung ist nötig, wenn wir alle ein bisschen sparen. Die Deutung von Sparen als moralische Notwendigkeit wird somit zu einem Herrschaftsinstrument, das bestehende Strukturen aufrechterhält.
Ähnlich verhält sich der Kampf um die Bedeutungshoheit von Schulden. Die konservative Deutung von Schuld als persönliche Schuldigkeit und Fehlverhalten zielt darauf ab, moralischen Druck auf SchuldnerInnen aufzubauen. Andere Ansätze heben allerdings hervor, dass diese Schwarz-Weiß-Darstellung Realitäten ausklammert. So haben beispielsweise Privatbanken Hypotheken wohlwissend ebenso an US-AmerikanerInnen vergeben, deren Einkommen nicht ausreichte um die Hypotheken später dann auch zurück zu zahlen. Die Konsequenzen des realisierten Risikos – also der eingetretenen, einkalkulierten Katastrophe – hatten die SchuldnerInnen (Zwangsräumungen etc.) und die Allgemeinheit zu tragen.
Haben wir „über unseren Verhältnissen gelebt“?
Wenn behauptet wird, „wir“ hätten alle „über unseren Verhältnissen gelebt“, dann wird suggeriert, dass die breite Bevölkerung einen Lebensstandard hat, der höher ist als sie und der Staat es sich leisten können. Stimmt das wirklich? Und wer ist „wir“? Seit 1975 ist die Lohnquote, das heißt der Anteil der Löhne am BIP, stetig gesunken – in den meisten Ländern der EU genauso wie in Japan und den USA. In Deutschland kamen 1975 noch über 70% des BIP den LohnempfängerInnen zugute. 2007 waren es nur noch knapp 60%. Anders ausgedrückt heißt das, Gewinn- und BesitzeinkommensbezieherInnen profitierten verhältnismäßig immer mehr vom Wirtschaftswachstum, da sie einen immer größeren Anteil der erwirtschafteten Leistungen erhielten. Das ist auch einer der Gründe für die immer größer werdende Ungleichverteilung zwischen den Haushalten, da die Gewinn- und Besitzeinkommen wesentlich konzentrierter sind als die Lohneinkommen. Der Ginikoeffizient ist in fast allen OECD-Staaten seit 1985 angestiegen. Das heißt, auch der Unterschied zwischen den BezieherInnen niedriger und hoher Einkommen klafft immer weiter auseinander. Anders gesagt: Die Mehrheit der Menschen hat sogar unter „ihren“ Verhältnissen gelebt.
Die Gefahren von zu viel privatem Sparen, öffentlichem Sparen und Umverteilung nach oben sind sich in einem Aspekt sehr ähnlich: Sie schwächen Kaufkraft, führen zu einem Einbruch der Nachfrage und haben negative gesamtwirtschaftliche Effekte. Umverteilung nach oben, wie sie in den letzten Jahrzehnten massiv geschehen ist – egal ob es um die Einkommensverteilung oder die Vermögensverteilung – hat folgende Effekte: Erstens haben Haushalte mit höherem verfügbaren Einkommen eine niedrigere Konsumneigung. Denn wer über weniger Einkommen verfügt, muss einen höheren Anteil davon für überlebenswichtige Konsumgüter (Nahrung, Wohnung) ausgeben und kann dadurch weniger sparen. Mehr Einkommen führt so zu einem stärkeren Anstieg des Sparens als des Konsums, weil die genannten Konsumausgaben schon abgedeckt sind. Deshalb führt Umverteilung von unten nach oben zu weniger Nachfrage. Zweitens sind vor allem die wachsenden Vermögensbestände von Haushalten mit hohem Einkommen oder Vermögen ein Mitgrund für das Wachsen des Finanzsektors in den vergangenen Jahrzehnten.
Fazit
Zu wenig privates Sparen ist weder Ursache noch Auslöser der aktuellen Krise gewesen. Regulative Schwächen und wachsende Ungleichverteilung innerhalb und zwischen den Staaten sind systemische Probleme, an deren Lösung gearbeitet werden muss. Versuche, die Krisenkosten durch Einsparungen im Sozialstaat zu zahlen sind zum Scheitern verurteilt, da sie ursächliche Probleme nicht lösen, sondern im Gegenteil vergrößern. Genauso wenig wird angebliches „moralisches“ Sparverhalten von Individuen den Ausweg aus der Krise bringen. Nur sehr wenige haben etwas davon, wenn wir alle „den Gürtel enger schnallen“. Der Großteil der Bevölkerung wird jedoch lediglich weiter – bildlich gesprochen – „ausgehungert“.