Das neue Schuljahr startet. Auch in diesem Jahr wird sich die Zahl der Maturant:innen weiter erhöhen; der Anteil von Studienanfänger:innen wird weiter anwachsen. Positive Entwicklungen also, die vermuten lassen könnten, das österreichische Bildungssystem wäre auf dem richtigen Weg. Ein Blick auf die Kehrseite der Medaille verrät hingegen: Nicht alle profitieren von der Bildungsexpansion in gleichem Ausmaß, herkunftsbedingte Bildungsungleichheiten sind in Österreich weiterhin stark ausgeprägt und konnten in den letzten Jahren kaum abgebaut werden.
Im Gegenteil: Etlichen Studien zufolge haben sich Bildungsungleichheiten in Folge der Schulschließungen während der COVID-19-Pandemie noch verstärkt. Trotz dieser empirischen Befunde zeichnet sich die österreichische Bildungspolitik in den vergangenen Jahren eher durch kleinteilige Bildungsprojekte aus, grundlegende Veränderungen wurden damit nicht erreicht. Noch im Sommer stellte Bildungsminister Polaschek medial klar: „Wir brauchen keine groß angelegte Grundsatzdiskussion“, man solle lediglich „an den Schräubchen drehen, an denen wir drehen können“. Diese Verweigerungshaltung liegt nicht zuletzt an gängigen Fehlannahmen, die den Blick auf den Reformbedarf im Bildungssystem verhindern. Wir greifen fünf dieser Annahmen auf und zeigen, dass sie empirisch nur schwer zu halten sind. Es sind Mythen, die sich um das österreichische Bildungssystem ranken und die eine Systemdiskussion erschweren.
Mythos 1: „Bildungserfolg ist eine Frage der Leistung“
Diese Aussage stimmt kaum. Natürlich prägen Interesse, Engagement und aktives Lernen von Kindern und Jugendlichen ihre Bildungsprozesse – die individuelle Komponente spielt eine Rolle. Gleichzeitig wäre gemäß dem Leistungsprinzip zu erwarten, dass Kinder, die z.B. am Ende der Volksschule gleich gut lesen können, auch die gleichen Chancen auf eine gymnasiale Bildungslaufbahn haben und die Merkmale der Herkunftsfamilie keine Rolle (mehr) spielen. In Österreich greift dieses Leistungsprinzip nicht, vielmehr zeigen Studien seit Jahrzehnten, dass sich schulische Leistungen von Kindern deutlich nach sozioökonomischer Herkunft unterscheiden, u. a. aufgrund ungleicher Verfügbarkeit von Bildungsressourcen und lernförderlichen Bedingungen in den Herkunftsfamilien. Von den Kindern, die am Ende der Volksschule so gut lesen können wie der Altersdurchschnitt, gehen 60 Prozent auf ein Gymnasium, wenn sie aus Akademiker:innenfamilien kommen. Haben die Eltern hingegen maximal Pflichtschulabschluss, gehen nur 28 Prozent im Anschluss an die Volksschule in eine AHS-Unterstufe – bei gleicher Leseleistung. Selbst wenn Kinder gleichwertige schulische Leistungen erzielen, fließen in Bildungswegentscheidungen zahlreiche „inhaltliche“ und „strategische“ Aspekte der Eltern ein (welche Schule kann sich die Familie leisten; wie viel Wissen über Schulen und Bildungswege besteht; welche Erfahrungen haben Eltern auf ihrem eigenen Bildungsweg gemacht etc.). Die frühe Selektion am Ende der Volksschule trägt in erster Linie dazu bei, dass diese Ungleichheiten kaum abgebaut werden können.
Diese Aussage stimmt nur teilweise. Ziffernnoten suggerieren eine Objektivität und Vergleichbarkeit, die genauerer Überprüfung nicht standhält. Denn diese zeigt lediglich einen losen Zusammenhang zwischen Noten und der Kompetenz in dem benoteten Gegenstand. Die Bildungsstandardüberprüfung (BIST) in der 4. Schulstufe Volksschule (2013) weist etwa nach, dass lediglich 69 Prozent der berichteten Mathematik-Noten mit dem Leistungsbereich der BIST übereinstimmen. Noch deutlicher wird die fehlende Objektivität der Ziffernnoten in der Sekundarstufe. In der 8. Schulstufe stimmen nur mehr etwa 39 Prozent der berichteten Noten aus den NMS und etwa 47 Prozent der berichteten Noten aus den AHS mit dem gemessenen Leistungsbereich überein. Neben dem Objektivitätsdefizit weisen Noten zudem eine inhaltlich begrenzte Aussagekraft aus. Ziel von Leistungsbeurteilungen sollte es sein, die erlernten Kompetenzen für den/die Schüler:in oder auch Dritte darzustellen. Diese Feedbackfunktion erfüllen Ziffernnoten nicht, da sie weder aufzeigen, wie oder wo im Detail weitergearbeitet werden kann; es wird auch nicht ersichtlich, welche Entwicklung in der letzten Lernphase vollzogen oder mit wie viel Engagement gelernt wurde. Ziffernnoten sind informationsarm und daher als Feedbackinstrument ungeeignet. Besonders kontraproduktiv ist, dass Ziffernnoten die Defizitorientierung fördern, indem Kinder und Jugendliche laufend auf ihre Schwächen fokussiert werden, während ein Einser keinen Anreiz mehr bietet, weiter an einer Stärke zu arbeiten und sie weiterzuentwickeln. Eine differenzierte Leistungsbeurteilung ist daher für die Lernmotivation und -förderung deutlich geeigneter.
Mythos 3: „Jede Schule kann Kindern den Schulerfolg ermöglichen“
Diese Aussage ist ein Mythos. Fakt ist: Es gibt in Österreich Schulstandorte mit einer hohen Zahl an Kindern, denen ihre Eltern bei den Hausaufgaben oder beim Lernen aufgrund unterschiedlichster Gründe (berufliche Belastungen, Betreuungspflichten, etc.) nicht helfen können. Diese Standorte stehen vor großen Herausforderungen, ihren Schüler:innen ein vernünftiges Lernumfeld zu bieten und sie erfolgreich zum Bildungsziel zu begleiten. In Österreich waren 2018 insgesamt rund 346.000 Schüler:innen an Schulen, die vor großen bis sehr großen Herausforderungen stehen. Allein 14 Prozent aller Volksschulen befinden sich in “schwieriger Lage”. Sie sind häufiger in großen Städten zu finden – unabhängig vom Bundesland. Dabei zeigt sich, dass Schüler:innen an diesen Standorten in schwierigen Lagen durchschnittlich deutlich niedrigere schulische Leistungen erzielen können.