Ungenügende Schulnoten wieder verpflichtend

18. Februar 2019

Würden Sie mit einem Windrad die Geschwindigkeit von Autos messen? Wohl eher nicht, weil zu ungenau. BildungswissenschafterInnen greifen deshalb auch zu exakteren Methoden, um die Kompetenzen von SchülerInnen zu beurteilen als zu Schulnoten. Mit dem Pädagogikpaket setzt die österreichische Bundesregierung Kindern und LehrerInnen in der Volksschule (ab der 2. Schulstufe) nun wieder die alte 5-stufige Notenskala vor. Es gibt jedoch gute Gründe, warum eine Zuordnung in leistungshomogene Lerngruppen auf Basis von Volksschulnoten nicht zielführend ist.

Über Jahrzehnte hinweg haben LehrerInnen ihren SchülerInnen an etwa jeder zweiten österreichischen Volksschule nicht mit Noten, sondern mit Worten Rückmeldung über ihren Leistungsstand gegeben. Schulen durften bis zur 3. Schulstufe klassenautonom entscheiden, ob sie Zeugnisse klassisch (mit Ziffern) oder alternativ (verbal) ausstellen. Mehr als ein Drittel aller Schulversuche betraf die alternative Leistungsbeurteilung, stellte der Bundesrechnungshof fest. Bei verbaler Beurteilung werden die einzelnen Lernziele eines Fachs betrachtet, ohne sie in abstrakte Ziffern umzuwandeln. SchülerInnen erhalten so ein genaueres und verständlicheres Feedback.

Hilfe versus Selektion

Mit dem „Pädagogik Paket 2018“ werden Schulen, SchülerInnen und LehrerInnen nun wieder früher auf die Verwendung der alten 5-stufigen Notenskala verpflichtet. Die Möglichkeit einer rein alternativen Leistungsbeurteilung wird nur mehr bis zum Halbjahr der zweiten Klasse zugestanden. Zusätzlich wird die Möglichkeit des Sitzenbleibens schon auf die zweite Klasse vorgezogen.

Das Instrument der Leistungsbeurteilung von SchülerInnen verfolgt unterschiedliche Zwecke: Im Lernprozess soll Rückmeldung die Lernenden unterstützen. Idealerweise wird detailliertes Feedback gegeben, inwieweit Lernziele erreicht wurden und wo noch weitere Anstrengungen notwendig sind. Außerhalb des Unterrichts gibt die Leistungsbeurteilung Dritten (wie Eltern, weiterführenden Bildungseinrichtungen oder möglichen Arbeitgebern) durch Zeugnisse Einblick in den Kompetenzstand. Nicht zuletzt wird Leistungsbeurteilung vielfach auch mit Disziplinierungsmaßnahmen vermischt. SchülerInnen fürchten schlechte Noten als Sanktion für Fehlverhalten (Nationaler Bildungsbericht 2009). Angst ist jedoch ein schlechter Begleiter, ganz besonders wenn es ums Lernen geht. Generell sollten Lernphasen nicht mit ständiger Leistungsfeststellung vermischt werden.

Ziffernnoten messen nicht, was sie vorgeben zu messen

Leider ist aber gerade bei der Leistungsbeurteilung mittels Ziffernnoten mannigfach nachgewiesen, dass sie nicht die erwartete Auskunft über die tatsächlichen Fähigkeiten der SchülerInnen gibt. Viele haben in ihrer eigenen Schulzeit erlebt, dass Schulnoten fehleranfällig sind – dass eine Note von einer Lehrperson nicht der Beurteilung einer anderen Lehrperson entspricht. Die größten Beurteilungsdifferenzen treten bei der Beurteilung von Mathematikleistungen auf. So zeigt der Nationale Bildungsbericht 2009, dass Schulnoten in Mathematik 1) nicht mit den Ergebnissen externer Kompetenzüberprüfungen übereinstimmen, 2) in der österreichischen Volksschule keine ernst zu nehmende Prognosequalität für den langfristigen Schulerfolg haben, 3) von Geschlechterzuschreibungen abhängen und 4) in Städten anders vergeben werden als in ländlichen Regionen.

 

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Individuelle Leistung zu bewerten ist schwierig

Leistung in Noten zu fassen, ist aber tatsächlich alles andere als leicht. Wie würden Sie vorgehen, wenn Sie z. B. ihre eigene Arbeitsleistung mit fünf Notenstufen beurteilen müssten? – Es ist kein Zufall, dass Noten außerhalb von Schule und (Weiter-)Bildung kaum mehr eine Rolle spielen.

„Von den 20% der schwächsten Leser/innen der 4. Schulstufe hat jede/r Fünfte von den Lehrkräften im vorherigen Semesterzeugnis die Note ,Sehr gut‘ oder ,Gut‘ bekommen und weitere 42% die Note ,Befriedigend‘.“ Nationaler Bildungsbericht 2012/Band 2: 214

In der Praxis tendieren LehrerInnen dazu, mit den Noten die Kompetenzverteilung innerhalb einer Lerngruppe abzubilden – statt der individuellen Lernzielerreichung. So gibt es immer wenige beste bzw. schwächste Noten und eine Häufung im Mittelfeld. Eine einzelne Note sagt dann etwas über einen Lernenden im Vergleich zu seinen unmittelbaren KollegInnen aus, hat aber wenig Zusammenhang mit seiner tatsächlichen Leistung. Leistungen sollten jedoch lernzielorientiert beurteilt werden. Hierbei lautet die Leitfrage: Wie gut erreicht ein/e Schüler/in die gesetzten Lernziele?

Noten und Leistungsgruppenzuweisungen sind ungenau

Die Vergabe von Ziffernnoten ist so ungenau, dass diese um etwa zwei Notengrade in beide Richtungen abweichen kann. Auch bei der Leistungsgruppenzuweisung der alten Hauptschule gibt es eindeutige Belege für große Überschneidungsbereiche in den Kompetenzen. Wie Abbildung 2 verdeutlicht, erreichen die schlechtesten AHS-SchülerInnen die gleichen Kompetenzen bei der BIST-M8-Überprüfung wie die besten SchülerInnen der 3. HS-Leistungsgruppe. In welcher Leistungsgruppe ein Kind landet und welche Note es dort erhält, sagt also nur bedingt etwas über seine tatsächliche Leistung aus, ebenso wie die dort erhaltenen Noten. Wie Noten entscheiden aber auch Leistungsgruppen durch die unterschiedlichen mit ihnen verbundenen Übertrittsberechtigungen über die Bildungslaufbahn von Kindern.

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Wenig Zusammenhang von Volksschulnoten mit Schullaufbahnen

Daher überrascht auch nicht, dass Schulnoten wenig Prognosekraft für den Schulerfolg haben. Man kann von den Noten eines Volksschulkindes nicht ableiten, wie erfolgreich es in der Sekundarstufe I lernt. Verschärfend wirkt der entwicklungspsychologisch ungünstige Zeitpunkt, zu dem in Österreich Noten zur Selektion eingesetzt werden: Im Alter von 9,5 Jahren ist die kindliche Entwicklungsstufe für die Vorhersage von logischer Intelligenz nicht erreicht – noch weniger im Alter von 8,5 Jahren, also zu jenem Zeitpunkt, an dem die künftig gewünschten standardisierten Kompetenztests erfolgen sollen. Eine verlässliche Vorhersage der neurologischen Leistungsfähigkeit für eine leistungshomogene Aufteilung in AHS oder NMS ist zu diesem Zeitpunkt aus Schulnoten der Volksschule einfach nicht möglich, wie etwa eine Leistungsvergleichsanalyse von Jörg Spenger zeigt.

Dass Noten wenig Aussagekraft haben, scheint auch der Bundesregierung selbst bewusst zu sein. Sie plädiert in der Volksschule nun für standardisierte Leistungsstanderhebungen (gemeint sind einheitliche Tests für alle SchülerInnen der 3. Schulstufe), um die Noten und damit die Schulwahlentscheidung für den Übertritt in NMS oder Gymnasium valider zu machen. Gegen diese weiteren Tests spricht unter anderem, dass eine punktuelle Messung als Weichenstellung für die weitere Schullaufbahn für einzelne SchülerInnen fatale Auswirkungen haben kann. Was, wenn ein Kind einen schlechten Tag hat, vielleicht krank und damit weniger leistungsfähig ist?

Fazit: Volksschulnoten bleiben die falsche Grundlage für Schulwahlentscheidungen

Dass es sich beim Setzen auf Ziffernnoten und der Einführung von neuen flächendeckenden Tests um ein Herumtüfteln am falschen Konzept handelt, ist – wissenschaftlich gesehen – umfangreich belegt. Weder die Noten noch das frühe Aufteilen der Kinder in NMS und AHS sind pädagogisch wertvoll oder gar gerecht. Laufbahnentscheidungen nach Volksschulnoten sind nicht ausreichend durch Leistung legitimiert. Was Österreichs BildungswissenschafterInnen im Nationalen Bildungsbericht 2015 stattdessen empfehlen:

  • Den frühen Selektionszeitpunkt nach der 4. Klasse Volksschule später ansetzen oder abschaffen
  • Klassenwiederholungen vermeiden
  • Gesetzgebung zur Leistungsbeurteilung überarbeiten (LBVO)
  • Konkretere Rückmeldungen über den Leistungsstand an die Lernenden geben – z. B. schaffbar durch lernzielorientierte verbale Leistungsbeurteilung
  • Diagnosekompetenz der LehrerInnen mit Aus- und Weiterbildung erhöhen
  • Verbindliche Lernziele in einem Dokument (z.B. Lehrplan) bündeln (statt einem Rahmenlehrplan mit zahlreichen Zusatzdokumenten)
  • Darin für die Bildungsstandards verbindliche Mindeststandards definieren
  • LehrerInnen Instrumente zur jährlichen informellen Überprüfung der Standarderreichung zur Verfügung stellen (als Unterstützung für den Lernprozess, nicht als Entscheidungsgrundlage für Schullaufbahnen)
  • Schulische Fördermaßnahmen bei Nichterreichen der neuen Mindeststandards sicherstellen
  • Indexbasierte Mittelverteilung an Schulen – wie sie etwa der AK-Chancen-Index vorsieht