Unbegrenzter Urlaub für alle – zu schön, um wahr zu sein?

22. April 2022

Vor Kurzem hat das österreichische Finanzunternehmen Bitpanda mit einer geradezu unglaublichen Nachricht aufhorchen lassen: Alle MitarbeiterInnen können von nun an so viel Urlaub nehmen, wie sie wollen. Können andere Unternehmen davon lernen oder ist die Geschichte vom unbegrenzten Urlaub für alle vielleicht doch zu schön, um wahr zu sein?

Kürzere Arbeitszeiten durch mehr Urlaub?

Für viele ArbeitnehmerInnen ist der Urlaub die schönste Zeit im (Arbeits-)Jahr. Sie müssen nicht arbeiten und können sich ganz ihrer Erholung und Freizeitgestaltung widmen. Bitpanda, ein Finanzunternehmen, das eine Trading-Plattform-App entwickelt hat, hat nun in mehreren Medien mit der Ankündigung für Aufsehen gesorgt, seinen Beschäftigten künftig unbegrenzt Urlaub zu gewähren. Das soll die Arbeitszufriedenheit heben und Bitpanda als Arbeitgeber für neue MitarbeiterInnen attraktiver machen. Ist dieses Modell der Arbeitszeitverkürzung verallgemeinerungsfähig? Jedenfalls lohnt es sich, genauer hinzusehen.

Tatsächlich weisen Vollzeitbeschäftigte in Österreich im EU-Vergleich besonders lange wöchentliche Arbeitszeiten auf. So beträgt die jährliche Soll-Arbeitszeit in Österreich 1.728 Stunden, was deutlich über dem Schnitt der EU-14 (der EU-Mitgliedstaaten vor der EU-Erweiterung 2004 abzüglich des Vereinigten Königreichs) von 1.665 Stunden liegt. Zu lange Arbeitszeiten und eine zu hohe Arbeitsbelastung nehmen den Menschen jedoch die Möglichkeit selbstbestimmter Lebensgestaltung und machen langfristig außerdem krank. Aus diesem Grund werden schon seit langer Zeit unterschiedliche Formen der Arbeitszeitverkürzung diskutiert. Arbeiterkammern und Gewerkschaften fordern seit vielen Jahren vehement kürzere Arbeitszeiten. Gesetzlich vorgesehen ist eine wöchentliche Normalarbeitszeit von 40 Stunden, in vielen Kollektivverträgen konnten aber kürzere wöchentliche Arbeitszeiten verankert werden. So beträgt die durchschnittliche kollektivvertragliche Normalarbeitszeit 38,8 Stunden pro Woche. Denn alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, sich neben der Lohnarbeit auch der Familie und den eigenen Interessen widmen zu können und sich etwa politisch oder künstlerisch zu betätigen. Mehr freie Zeit bedeutet also auch mehr persönliche Freiheit.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Auch ein höheres Ausmaß an Urlaub kann einen wichtigen Beitrag zu insgesamt kürzeren Arbeitszeiten und somit zu mehr Gesundheit und Freizeit für ArbeitnehmerInnen leisten. Wesentlich ist dabei jedoch, wie Fragen der Vereinbarung und des Konsums von Urlaub im Betrieb gelebt werden.

Was bedeutet eigentlich Urlaub?

Unter Urlaub wird die Freistellung von der Arbeit unter gleichzeitiger Weiterzahlung des Entgelts verstanden. Im Vordergrund steht die Erholung des/der ArbeitnehmerIn von der Arbeit. Ist der/die ArbeitnehmerIn zwar von der Arbeit freigestellt, wird aber auch kein Entgelt ausgezahlt, handelt es sich nicht um Urlaub. In Österreich sind Fragen der Entstehung und des Verbrauchs von Urlaub im Urlaubsgesetz (UrlG) geregelt. Dieses sieht grundsätzlich einen Anspruch auf Urlaub im Ausmaß von 30 Werktagen (die Tage von Montag bis Samstag), also fünf Wochen, pro Arbeitsjahr vor. Das jährliche Urlaubsausmaß erhöht sich nach 25 Dienstjahren bei demselben Arbeitgeber um eine Woche auf 36 Werktage. Eine Erhöhung des Urlaubsausmaßes findet also erst nach langer Beschäftigungsdauer statt und bleibt für viele ArbeitnehmerInnen unerreichbar. Einige Kollektivverträge, wie etwa jene für den Bereich der Sozialwirtschaft („SWÖ-KV“), sehen daher eine schnellere Erreichbarkeit der sechsten Urlaubswoche vor. Häufig sind in Kollektivverträgen auch zusätzliche Freizeittage – neben dem gesetzlichen Anspruch auf Urlaub – geregelt. So erhalten etwa die Angestellten der öffentlichen Flughäfen fünf zusätzliche bezahlte Freizeittage pro Jahr. Auch europaweit zeigt sich: ArbeitnehmerInnen, die Kollektivverträgen unterliegen, haben mehr freie Tage zur Verfügung. Es macht also Sinn, dass zusätzlicher Urlaub nicht bloß „freiwillig“ vom Arbeitgeber gewährt wird, sondern ein entsprechender Anspruch im Kollektivvertrag verankert wird.

Wesentlich ist, dass der Verbrauch von Urlaub zwischen ArbeitnehmerIn und Arbeitgeber vereinbart werden muss (§ 4 Abs 1 UrlG). Der/die ArbeitnehmerIn kann also in der Regel nicht einfach einseitig den Urlaub antreten. Das führt in der betrieblichen Realität häufig dazu, dass die Urlaubswünsche von Beschäftigten unter Verweis auf Erfordernisse des Betriebs abgelehnt werden. ArbeitnehmerInnen müssen sich beim Urlaub also oftmals nach ihren Arbeitgebern und ihren Vorgesetzten richten und nicht nach ihren eigenen Erholungswünschen. Gerade während der vergangenen Monate der COVID-19-Pandemie konnten viele ArbeitnehmerInnen – insbesondere jene mit Kindern – ihren Urlaub auch nicht ausreichend zur Erholung nutzen, sondern mussten Urlaubstage für Kinderbetreuung oder die Überbrückung von Quarantänezeiten einsetzen.

Auf die betriebliche Realität kommt es an

Bei Bitpanda scheint sich die betriebliche Realität im Hinblick auf den Verbrauch von Urlaub nicht wesentlich anders darzustellen als in vielen anderen Unternehmen. So sagt Bitpanda-Managerin Magdalena Hoerhager in einem Interview dazu: „Ich glaube, es ist diese Kultur, die wir bei Bitpanda auch haben, dass wir ein gemeinsames Schaffen haben. Ich habe überhaupt keine Angst, dass es zu einer Situation kommen wird, wo Leute Urlaub nehmen, wenn vielleicht gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist.“ Gemeint ist damit wohl: Wenn es für das Unternehmen gerade ungünstig ist, dann wird erwartet, dass die Beschäftigten nicht auf Urlaub gehen, sondern arbeiten. Im Zentrum dieser Sichtweise steht also erst recht wieder das Interesse des Unternehmens und nicht jenes der Beschäftigten.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Planung und Koordinierung der Anwesenheitszeiten von MitarbeiterInnen eine Aufgabe des Arbeitgebers ist. Sollen die Beschäftigten nun selbst die Entscheidung treffen, wann sie guten Gewissens auf Urlaub gehen können und wann das nicht im Interesse des Unternehmens liegt, wird eine Managementaufgabe auf die ArbeitnehmerInnen verlagert, was für zusätzlichen Stress sorgt. Von vielen ArbeitnehmerInnen werden schon jetzt die Interessen des Unternehmens vorweggenommen und die eigenen Bedürfnisse dem Job untergeordnet. Dabei sind es die Arbeitgeber, die dafür verantwortlich sind, dass Urlaub im gesetzlichen Ausmaß gewährt wird und auch konsumiert werden kann. Das ergibt sich bereits aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers.

Hoher Arbeitsdruck und Arbeitsverdichtung sind keine Seltenheit

Auch insgesamt stehen viele ArbeitnehmerInnen in ihren Jobs unter hohem Druck. So geben im Zuge des Anfang 2022 von der Arbeiterkammer Oberösterreich veröffentlichten Arbeitsklimaindex bereits 31 Prozent der befragten ArbeitnehmerInnen an, unter ständigem Zeitdruck arbeiten zu müssen und sich davon belastet zu fühlen. 2019 waren es noch rund 20 Prozent. Viele ArbeitnehmerInnen klagen auch über Arbeitsverdichtung und ständige Arbeitsbelastung. Die psychische und physische Belastung der ArbeitnehmerInnen hat weiter zugenommen. Die Zufriedenheit der Beschäftigten mit ihren Arbeitsbedingungen war Ende 2021 so niedrig wie noch nie in der 25-jährigen Geschichte des Arbeitsklimaindex.

Vor diesem Hintergrund erhalten die Aussagen von Bitpanda-CEO Eric Demuth zum unbegrenzten Urlaub einen bitteren Beigeschmack: „Mit unserem neuen Ansatz ‚Flexibilität an erster Stelle‘ stellen wir sicher, dass alle die Möglichkeit bekommen, sich nach arbeitsreichen Zeiten eine Auszeit zu nehmen, und auch jene Unterstützung bekommen, um das Beste zu geben.“ Eine derartige Botschaft stimmt nachdenklich und legt nahe, dass das Bild vorherrscht, Beschäftigte müssten ihre Urlaube erst einmal durch harte Arbeit „verdienen“. Es besteht wohl die Gefahr, dass die Verantwortung für die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit auf die ArbeitnehmerInnen verschoben werden soll. Dadurch könnte der Arbeitsdruck während der Anwesenheitszeiten der Beschäftigten weiter steigen, wenn die ArbeitnehmerInnen angehalten sind, ihre urlaubsbedingten Abwesenheiten „einzuarbeiten“. Die vielen positiven Effekte eines höheren Urlaubsausmaßes könnten dadurch zunichtegemacht werden.

Fazit

Wie es bei Bitpanda weitergeht, wird die Zukunft zeigen. Klar ist jedenfalls: Arbeitgeber tragen die Verantwortung dafür, dass Urlaub rechtzeitig und zumindest im gesetzlichen Ausmaß von fünf bzw. sechs Wochen jährlich vereinbart wird und auch konsumiert werden kann – das gilt für die glitzernde Welt der Start-ups ebenso wie für alle anderen Bereiche der Wirtschaft. Wird Urlaub über das gesetzliche Maß hinaus angeboten, ist dies sehr zu begrüßen und kann einen wichtigen Beitrag zu mehr Arbeitszufriedenheit, größerer Erholung und einer besseren Work-Life-Balance der Beschäftigten leisten. Daher sind in Kollektivverträgen Regelungen zur leichteren Erreichbarkeit der sechsten Urlaubswoche und zusätzliche Freizeittage enthalten. Für die Verankerung einer sechsten Urlaubswoche für alle im Gesetz – unabhängig von der Dauer der Beschäftigung bei einem Arbeitgeber – ist es höchste Zeit.

Zentral ist es allerdings, sich nicht bloß an den Interessen des Unternehmens, sondern vor allem auch an den Bedürfnissen der Beschäftigten zu orientieren. Sie müssen die Möglichkeit haben, vorhandenen Urlaub auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Das Versprechen, so viel Urlaub zu nehmen, wie man möchte, bringt nur dann eine echte Verbesserung, wenn es schon bisher allen ArbeitnehmerInnen möglich war, den Jahresurlaub in voller Höhe zu verbrauchen – in vielen Unternehmen ist auch das praktisch nicht möglich. Zusätzlicher Urlaub darf auch nicht dazu führen, dass ArbeitnehmerInnen während ihrer Anwesenheitszeiten dann umso stärker in Anspruch genommen und überbelastet werden. Sollen ArbeitnehmerInnen in vollem Umfang von einem höheren Urlaubsausmaß profitieren, darf Arbeitsverdichtung keinesfalls die Folge davon sein.

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