Mythos Mietnomad:innen

24. Januar 2022

In der medialen Debatte um den Mieter:innenschutz geistert auch immer wieder das Gespenst der Mietnomad:innen durch den Blätterwald. Die Erzählung von häufig bewusst betrügerisch agierenden Mieter:innen ist freilich unseriös. Zudem lenkt sie von den massiven Rechtsschutzdefiziten der Mieter:innen sowie dem oft systematischen Rechtsbruch von Vermieter:innen ab.

Faktencheck

Natürlich gibt es auch unter den Mieter:innen Menschen, die sich ­– gegenüber Nachbar:innen und/oder Vermieter:innen – „danebenbenehmen“ bis dahin, dass sie rechtswidrig handeln. Aber sind das verdammt viele, wie man immer wieder hört und liest?

Die wenigsten, die ihre Wohnung verlieren, weil sie die Miete nicht mehr zahlen können, sind „Mietnomad:innen“ im klassischen Sinn. Zahlungsschwierigkeiten können sich nämlich aus verschiedenen Lebensereignissen heraus ergeben, die wenigsten Mieter:innen, die nicht mehr (pünktlich) zahlen, haben das von vornherein beabsichtigt.

In Österreich gibt es zu diesem Thema keine empirischen Untersuchungen, der Blick über die Grenzen offenbart freilich eine massive Überbewertung des Problems. Vor einigen Jahren hat eine Studie der Uni Bielefeld das Medienphantom „Mietnomad:innen“ in Deutschland greifbar gemacht. Für das Bundesbauministerium hat die Forschungsstelle für Immobilienrecht – mit Unterstützung und Werbung des Hausbesitzerverbandes – dargestellt, wie sich entsprechende Fälle gestalten.

Von den Besitzer:innen der bundesweit 24 Millionen Mietwohnungen meldeten sich nicht Zehntausende, sondern nur 1.400. Und nur 400 dieser Fälle betrafen eindeutige Mietnomad:innen, die von Anfang an Betrug geplant hatten. In allen anderen Fällen waren Mieter:innen etwa wegen Krankheit, Scheidung oder Arbeitslosigkeit in Mietrückstand geraten. Die 400 verbliebenen Fälle reichten zudem teils mehr als 40 Jahre zurück und ergaben damit einen jährlich sehr geringen Mittelwert. Umgelegt auf Österreich (1,7 Mio. Mietverhältnisse), wären die Zahlen aus Deutschland jeweils mindestens durch 10 zu dividieren; das ergibt gerade einmal zehn Fälle pro Jahr.

Demgegenüber müssen jedes Jahr 18.000 bis 22.000 Mieter:innen in Österreich vor die Schlichtungsstellen in Mietsachen oder vor Gericht ziehen, weil ihnen ihre gesetzlichen Rechte von den Vermieter:innen verwehrt werden. Die Gründe sind vielfältig; sie reichen von der Durchsetzung der gesetzlichen Reparaturpflicht der Vermieter:innen, z. B. wegen einer nicht funktionierenden Heizung, Wasser- oder Stromversorgung, kaputter Fenster oder eines schadhaften Aufzugs, über gesetzwidrige Betriebskostenabrechnungen, rechtswidrige Mietzinsvereinbarungen bis hin zum unberechtigten Einbehalt der Kaution nach Beendigung des Mietverhältnisses. Aus diesen Gründen entstehen den Mieter:innen wohl – vorsichtig geschätzt – jährlich Schäden von mehreren hundert Millionen Euro!

Wären Gerichte nicht so häufig damit beschäftigt, den Mieter:innen zu ihren gesetzlichen Rechten verhelfen zu müssen, hätten sie wohl auch mehr Kapazität, schneller gegen „echte“ Mietnomad:innen vorzugehen.

Die Strafbarkeit – unterschiedlicher Maßstab für Vermieter:innen und Mieter:innen

Gegen echte „Mietnomad:innen“ kann man nicht nur mit Kündigung und Räumungsklagen sowie mit Klagen auf Schadenersatz vorgehen. Dass solche Verfahren – ebenso wie Verfahren, die von Mieter:innenseite geführt werden müssen – unter Umständen sehr lange dauern, steht auf einem anderen Blatt und mag an der Unterausstattung der Gerichte liegen. Und von gerichtlich festgestellten Gewährleistungs-, Schadenersatz- oder sonstigen Zahlungsansprüchen, die wegen Insolvenz des Prozessgegners nicht befriedigt werden, können auch Zigtausende Konsument:innen ein Lied singen.

„Echte“ Mietnomad:innen setzen zudem ein strafbares Verhalten und müssen sogar mit Gefängnis rechnen. Die Täuschung darüber, ein:e zahlungsfähige:r und zahlungswillige:r Mieter:in zu sein, im Zusammenhang mit einem entsprechenden finanziellen Schaden kann als Verbrechen des gewerbsmäßigen schweren Betrugs gewertet werden (siehe dazu auch den Beschluss des OGH 1993).

Hingegen droht Vermieter:innen selbst bei bewusstem Rechtsbruch in der Regel nichts. Schon Mitte der 1990er Jahre wurden Fälle an die Staatsanwaltschaften herangetragen, in denen Vermieter:innen und deren Hausverwaltungen zugegeben hatte, dass sie bewusst überhöhte Betriebskostenabrechnungen gelegt hatten. Mit dem Verweis, dass sich die Mieter:innen ja ohnehin zivilrechtlich wehren können, sah man „keine genügenden Gründe“, ein Strafverfahren einzuleiten.

Ähnlich auch bei Vermieter:innen, die entgegen einschlägigen Gerichtsentscheidungen (die ihnen nicht nur bekannt waren, sondern sogar gegen sie selbst ergangen sind) weiterhin und ab dann völlig bewusst überhöhte Mieten verlangten. Auch hier sehen Staatsanwaltschaften keinen Anfangsverdacht einer strafbaren betrügerischen Handlung. Selbst dann nicht, wenn Vermieter:innen und Hausverwaltungen augenscheinlich im vollen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit agieren und dabei sich selbst oder Dritte durch Verrechnung gesetzwidriger Kosten bereichern!

Für Mieter:innen – mit meist befristeten Mietverträgen, deren Verlängerung sie durch das Einfordern der eigenen Rechte wohl riskieren – ist das schlichtweg zynisch, und auch für die meist überlasteten Zivilgerichte. Apropos befristete Mietverträge: Für die davon betroffenen Mieter:innen erweist sich der Ausdruck Mietnomad:innen wohl eher zutreffend; das liegt dann aber in der Verantwortung der Vermieter:innen, die nicht bereit sind, Wohnsicherheit durch unbefristete Mietverträge zu gewähren.

Entlarvende Mietvertragsgestaltung der Vermieter:innenseite

Eine von Vermieter:innen häufig verwendete Mietvertragsbestimmung sieht vor, dass Mieter:innen eine Konventionalstrafe (= pauschalierter Schadenersatz) in Höhe von drei Bruttomonatsmieten zahlen müssen, wenn sie die Wohnung nicht zum vereinbarten Räumungstermin zurückstellen. Also auch dann, wenn sie die Wohnungen um nur wenige Tage verspätet verlassen. Obwohl man die Wohnung zum Beispiel nur zwei Tage länger benutzt hat als vereinbart bzw. zulässig, soll man dafür drei Monatsmieten zahlen müssen.

Vermieter:innen können aus der Vereinbarung einer derartigen Konventionalstrafe trotz eines weit geringeren Schadens Profit schlagen. Umgekehrt dürften sie dann aber (nach der eigenen Vertragsgestaltung) einen von Mietnomad:innen aus der verspäteten Rückstellung verursachten weit höheren Schaden nicht zusätzlich verrechnen; auch in solchen Fällen erhalten Vermieter:innen den pauschalen Wert von drei Bruttomonatsmieten. Solche Vereinbarungen sind aber durchaus üblich. Was lässt sich daraus schließen: In Wahrheit wird das Risiko eines exzessiven Schadens durch Mietnomad:innen – und damit überhaupt die Wahrscheinlichkeit, solchen Betrüger:innen aufzusitzen – selbst von Vermieter:innen als extrem gering eingeschätzt.

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