Existenzsichernde Löhne entlang der Lieferketten – Nicht ob, sondern wie ist die Frage!

22. August 2018

Gerechtere Löhne für diejenigen zu schaffen, auf deren Rücken der globalisierte Kapitalismus wirtschaftet, ist kein karitatives Gutmenschentum, sondern ein vitaler Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Durch die Etablierung eines sozialen Dialogs in der Branche konnte bereits viel erreicht werden.

Die Rolle von Löhnen für die Sustainable Development Goals

Im Herbst 2015 hat sich die Generalversammlung der UNO auf 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs, „Sustainable Development Goals“) geeinigt, deren Umsetzung im Rahmen der sogenannten UN-Agenda 2030 für eine bessere und nachhaltigere Zukunft sorgen soll. Die ausgegebenen Zielsetzungen reichen von der Geschlechtergleichstellung bis hin zum Schutz des Lebens in den Weltmeeren – ein bunter Strauß von Forderungen für einen gesunden Planeten und ein würdevolles Leben für die Menschen.

Die SDGs sind trotz ihres globalen Anspruchs und ihrer allgemeingültigen Prinzipien vor allem mit Blick auf die Entwicklungs- und Schwellenländer formuliert worden. Heruntergebrochen auf Konkretes bedeutet das: Wie kann sich beispielsweise das Leben einer alleinerziehenden Näherin in Bangladesch verbessern, die jeden Monat Schulden machen muss, um ihre Kinder zu versorgen? Natürlich kann diese Frage nicht in einem Satz beantwortet werden – stellen wir aber dennoch eine Überlegung an: Welche Auswirkungen auf die SDGs hätte es, wenn NäherInnen in Bangladesch und andere Beschäftigte am unteren Ende der globalen Lieferketten höhere und fairere Löhne erhielten?

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Höhere Löhne für Menschen, die am Existenzminimum leben, das kann viel bedeuten: Reduzierung der Armut (SDG 1), Kampf gegen Hunger (SDG 2), ein besserer Zugang zu Medikamenten (SDG 3) und Bildung (SDG 4), Arbeit in Würde und wirtschaftlicher Aufschwung für arme Weltregionen (SDG 8), Verringerung der globalen Ungleichheiten (SDG 10) und in letzter Konsequenz auch ein nachhaltigeres Konsumverhalten (SDG 12). Gerechtere Löhne für diejenigen zu schaffen, auf deren Rücken der globalisierte Kapitalismus wirtschaftet, ist also kein karitatives Gutmenschentum, sondern ein vitaler Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen.

Der beste Lohn ist ein verhandelter Lohn

Gerechte Löhne, das sind Löhne, von denen man Leben kann; sie werden in der Fachsprache gemeinhin „existenzsichernde Löhne“ genannt. Wie genau ein solcher Lohn definiert wird, führt jedoch am eigentlichen Problem vorbei: Ob man „existenzsichernd“ nun in gesellschaftswissenschaftlicher Manier beschreibt oder in einer Kalorienzahl ausdrückt, ändert an der Sache nichts. Ein Lohn muss seinem/seiner EmpfängerIn ein menschenwürdiges (Über-)Leben ermöglichen. Die entscheidende Frage ist also: Wie kann die Weltgemeinschaft dieses Ziel – bzw. eine Definitionsvariante davon – in der Praxis erreichen?

Für die internationale Gewerkschaftsbewegung und viele weitere Stakeholder, wie NGOs und die ILO, liegt die Antwort in einem ausgebildeten sozialen Dialog: Der beste Lohn ist einer, der das Ergebnis von Verhandlungen ist. So gesehen kann zu den Verdiensten von existenzsichernden Löhnen auch die Stärkung von Gewerkschaften und Tarifverträgen und damit der menschenrechtlichen Situation von Beschäftigten hinzugefügt werden. Wenn es also doch so „einfach“ ist, durch Tarifverhandlungen existenzsichernde Löhne herzustellen, wieso ist dies nicht längst passiert?

Eine Reihe von Schwierigkeiten ist auf dem Weg dorthin zu überwinden: In vielen von Armutslöhnen betroffenen Ländern sind Gewerkschaften nur sehr schwach ausgebildet und es gibt keine Kultur des sozialen Dialogs. Aufseiten der Unternehmen steht die ernst zu nehmende Angst vor dem Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf einem hochkompetitiven Weltmarkt. Die Kosten höherer Löhne werden von NGOs oft als gering im Vergleich zu den Gewinnen großer Firmen bezeichnet – und doch würden existenzsichernde Löhne in manchen Branchen zu einem echten Kostenfaktor werden.

Es geht nur gemeinsam

Angesichts dieser Schwierigkeiten müssen die verschiedenen Stakeholder gemeinsam agieren, um faire Löhne und gute Arbeit entlang der globalen Lieferkette durchsetzen zu können. Diese Idee steht am Anfang von ACT (Action, Collaboration, Transformation), einer internationalen Initiative, in der Unternehmen, Gewerkschaften, NGOs und staatliche Akteure zusammenkommen, um ihre Branche, die Textilproduktion, nachhaltiger und zukunftsfähiger zu machen. ACT nimmt beim Thema existenzsichernde Löhne eine Führungsrolle ein, doch auch das deutsche Textilbündnis und das niederländische Bündnis für nachhaltige Kleidung und Textil haben das Thema schon vor einigen Jahren als relevant identifiziert und auf die Tagesordnung gesetzt – heute ist es in der Textilbranche prioritär.

Was sowohl das Textilbündnis als auch sein Pendant aus den Niederlanden effektiv und erfolgreich macht, ist das Zusammenbringen verschiedener Anspruchsgruppen. So ist insbesondere der direkte Austausch des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der zivilgesellschaftlichen Akteure mit den branchenführenden Unternehmen entscheidend. Einen anderen Weg verfolgen vergleichbare Initiativen in Österreich: Das nationale Netzwerk der europaweiten Clean Clothes Campaign setzt gemeinsam mit Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen auf Aufklärung der KonsumentInnen, Unterstützung der ArbeitnehmerInnen, Gewerkschaften und NGOs in Produktionsländern und zivilgesellschaftlichen Druck.

Kein Sprint, sondern ein Marathon

Dass es sich bei existenzsichernden Löhnen um eine Aufgabe handelt, die Zeit und Mühe erfordert, ist nachvollziehbar: Partner müssen zusammengebracht und ganze Einkaufsphilosophien in großen multinationalen Firmen verändert werden. Über Nacht sind hier keine Ergebnisse zu erwarten – der Lauf in Richtung existenzsichernder Löhne ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Entsprechend ausdauernd müssen auch die Stakeholder sein: Unternehmen wie VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen haben die Angst der produzierenden Länder und der dort ansässigen Zulieferer im Blick, die um ihre Wettbewerbsfähigkeit bangen. Diese Angst zu mindern bzw. ganz zu nehmen ist ein erster Bestandteil jeder wirksamen Strategie für faire Entlohnung – genau wie die Bemühung, die Kosten aufseiten der Unternehmen im Griff zu behalten. Alles andere ginge an der wirtschaftlichen Realität vorbei und hätte nur wenig Aussicht auf nachhaltigen Erfolg. Wenn engagierte Unternehmen einfach höhere Löhne für die Beschäftigten ihrer Zulieferer verordnen bzw. beschließen könnten, wäre dies bei einigen Firmen längst geschehen.

Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Schwäche der gewerkschaftlichen Organisationen in vielen Produktionsländern, vor allem in Ostasien und Afrika. Große Bündnisse, deren teilnehmende Unternehmen zu den Branchenführern zählen, können ein wirksamer Weg sein, um durch wirtschaftlichen Druck das Entstehen von Gewerkschaften und sozialem Dialog zu begünstigen. Wie wichtig dabei der Marktanteil der Mitgliedsunternehmen ist, zeigt sich an den Zielsetzungen der verschiedenen Initiativen: Das Textilbündnis vereint schon heute rund 50 % des deutschen Textilmarktes auf sich, das niederländische Bündnis für nachhaltige Kleidung und Textilien strebt bis 2020 80 % Marktanteil an.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die Einführung von existenzsichernden Löhnen keineswegs eine Einbahnstraße ist: Es wäre gesellschaftlich alles andere als wünschenswert, wenn man den multinationalen Firmen die Festlegung der Löhne überließe – sowie auch gesetzlich fixierte Mindestlöhne in den meisten von Armut betroffenen Ländern keine substantiellen Verbesserungen für den Niedriglohnsektor bringen. In Entwicklungs- und Schwellenländern sind Mindestlöhne ein politischer Kompromiss im Kontext eines harschen globalen Wettbewerbs. Sie kommen selten auch nur in die Nähe dessen, was einschlägige Definitionen als den länderspezifischen existenzsichernden Lohn ausmachen.

Eines steht jedenfalls fest: Wenn ein guter Lohn nicht am Verhandlungstisch gefunden werden kann, dann werden die NäherInnen von Bangladesch ihn auf der Straße erkämpfen.