EU-Steuerpolitik: einstimmig uneinig

02. Mai 2019

Steuerpolitik ist nationalstaatliche Kompetenz, die EU ist demnach im Grunde dafür nicht zuständig. Und genau da liegt auch der Kern des Problems, warum in der europäischen Steuerpolitik große Schritte fehlen. Die gute Nachricht: Es liegen viele wegweisende Vorschläge seitens der EU-Kommission auf dem Tisch. Sie müssen nur umgesetzt werden. Rückenwind könnte vonseiten der OECD kommen, die gerade an weiteren Schritten im BEPS-Prozess arbeitet. Positive Schritte in der Steuerpolitik würden jedenfalls einer sozialen Neuausrichtung der EU Auftrieb verschaffen.

Die Mitgliedsländer der Europäischen Union setzen sich gegenseitig einem massiven Steuerwettbewerb aus. Dies führt zu einem Wettlauf nach unten: Senkt ein Staat seine Gewinnsteuersätze oder schafft ein neues Schlupfloch, ziehen andere nach. Hier kommt die mangelnde europäische Solidarität zwischen Mitgliedstaaten besonders deutlich zum Vorschein: Dieser desaströse Gewinnsteuerwettbewerb entzieht den öffentlichen Haushalten finanzielle Mittel und damit fiskalischen Spielraum für soziale und ökologische Antworten.

Wettbewerb als Motor der Ungleichheit

Außerdem verschärft dieser Wettbewerb bestehende steuerliche und damit ökonomische Ungleichgewichte – sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch innerhalb dieser. Der Wirtschaftswissenschafter Gabriel Zucman spricht von einem „Motor der Ungleichheit“. Doch damit nicht genug: Gerade die Verschärfung verteilungspolitischer Schieflagen hat mit dazu beigetragen, dass verantwortliche politische Kräfte einen Legitimationsverlust erlitten haben, sich rechte und europafeindliche Parteien im Aufwind befinden und damit Europa und paradoxerweise die Idee eines sozialen Europas weiter unter Druck geraten.

Die Wechselwirkungen zwischen einem Kurswechsel hin zu einem sozialen Europa und Fragen der Steuergerechtigkeit sind mannigfaltig. Der Ökonom Thomas Rixen meint, „im Steuerwettbewerb kommt das soziale Europa unter die Räder“. Steuer- und verteilungspolitische Gestaltungsmöglichkeiten sind unmittelbar miteinander verbunden. Damit stellt die Beendigung des Systems der internationalen Steuertricks jedenfalls eine wesentliche (fiskalische) Voraussetzung für das Gelingen eines sozialen Kurswechsels in Europa dar. Umgekehrt ist jedoch ein sozialeres Europa gewissermaßen auch Bedingung für einen Kurswechsel hin zu mehr europäischer Steuergerechtigkeit. Denn hierfür bedarf es einer Kompetenzerweiterung der Europäischen Union, die unter der derzeitigen Legitimationskrise und den aktuellen politischen Kräfteverhältnissen in den Regierungen der Nationalstaaten geradezu utopisch erscheint. Ein sozialeres Europa würde jedoch Hand in Hand gehen mit einem Legitimationsgewinn der europäischen Ebene – derartige Reformen erscheinen dann durchaus machbar.

Wer ist für den steuerpolitischen Stillstand verantwortlich?

Die EU besitzt nur sehr eingeschränkte Kompetenzen in Steuerangelegenheiten. Steuern sind im Wesentlichen nationale Souveränität, es gibt kein eigenes Besteuerungsrecht in der EU. Bei Beschlüssen im Steuerrecht gilt auf EU-Ebene deshalb immer noch das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der europäischen Union, der sich aus den FachministerInnen der Mitgliedsstaaten zusammensetzt (kurz Ministerrat). Das EU-Parlament hat in diesem Politikbereich derzeit keine direkten Mitbestimmungsbefugnisse und muss lediglich vom Rat angehört werden.

Dennoch liegen vonseiten der EU-Kommission durchaus wichtige und gute steuerpolitische Legislativvorschläge auf dem Tisch (z. B. zur gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage), und auch das europäische Parlament stärkt im letzten Sonderausschuss-Bericht (TAX 3) mit überwältigender Mehrheit einer progressiven europäischen Steuerpolitik den Rücken. Viele der großen Projekte im Kampf gegen Steuertricks werden jedoch im Ministerrat blockiert – oft nur von einer Handvoll Mitgliedstaaten (allen voran Malta, Zypern, Irland, Niederlande und Luxemburg – und teilweise auch Österreich). Ein Veto eines einzelnen Mitgliedslands reicht, um ein Vorhaben zu behindern. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade die Positionen, welche von den FachministerInnen im Rat vertreten werden, nicht immer transparent dargelegt werden. Da kann es leicht passieren, dass sich ein Vertreter eines Mitgliedstaates zu Hause hinstellt und sagt, die EU habe „wieder nichts vorangebracht“, unmittelbar nachdem er oder sie in den Ratsverhandlungen eine wenig proaktive Haltung gezeigt hat. Derzeit ist es für nationale PolitikerInnen zu einfach, sich auf die EU auszureden.

Steuertricks und Steuerwettbewerb – zwei Seiten einer Medaille

Die Möglichkeit zu tricksen ist vielfach bedingt durch den Gewinnsteuerwettbewerb bzw. die mangelnde Koordination und Transparenz der Staaten untereinander. Zwar werden bestehende Rechtslagen von vielen Großkonzernen häufig durchaus großzügig ausgelegt, und die Intermediären-Industrie, bestehend aus AnwältInnen, Steuer- und UnternehmensberaterInnen, Banken und FinanzdienstleisterInnen, beweist durchaus Kreativität in der Identifikation neuer Umgehungsstrategien für ihre KlientInnen. Es greift aber wohl zu kurz, ausschließlich Großkonzerne und andere Steuersubjekte dafür zu kritisieren, dass sie das bestehende System ausnutzen. Der Steuerrechtsexperte Sol Picciotto verortet den Kern des Problems in der Diskrepanz zwischen der Macht transnationaler Unternehmen, ihre globalen Verhältnisse so zu gestalten, dass sie damit ihre Steuerverbindlichkeiten minimieren, auf der einen Seite und der schwachen internationalen Koordination von Steuern, welche Lücken und Schlupflöcher ermöglicht, auf der anderen Seite. Dabei ist das Ausbleiben adäquater Koordination durchaus auch Ausdruck des zwischenstaatlichen Steuerwettbewerbs.

Typen des Gewinnsteuerwettbewerbs

Thomas Rixen nennt mehrere Typen des Steuerwettbewerbs. So gibt es etwa einen realen Wettbewerb, um ausländische Direktinvestitionen anzulocken, also um tatsächliche ökonomische Aktivitäten. Doch obgleich Steuern eine Rolle in Standortentscheidungen spielen können, so bleiben sie doch nur ein Faktor unter vielen anderen, wie etwa den Arbeitskosten, Rechtssicherheit, Qualifikationsniveaus oder der verfügbaren Infrastruktur in all ihren Facetten. Studien verweisen zudem darauf, dass Steuern nicht zu den bedeutendsten Faktoren bei Standortentscheidungen zählen.

Daneben gibt es aber auch den virtuellen Wettbewerb um buchhalterische Gewinne ohne die Intention, reale (Produktions-)Stätten anzulocken. Hier werden die Illegitimität bzw. die antisolidarische Ausgestaltung des Gewinnsteuerwettbewerbs noch viel deutlicher. Durch den virtuellen Steuerwettbewerb wird es großen Konzernen ermöglicht, durch systematische Gewinnverschiebung Steuervermeidung in großem Stil zu betreiben, sei es über niedrige Steuersätze oder durch besondere Rechtskonstruktionen, die Schlupflöcher offenlassen. Im Gegensatz zu realen Standortentscheidungen reagieren buchhalterische Unternehmensgewinne jedenfalls sehr elastisch auf Unterschiede in den Körperschaftsteuersätzen zwischen Ländern.

Der Steuerwettbewerb ist jedenfalls kein klassischer Wettbewerb. Das gilt umso mehr für den virtuellen Steuerwettbewerb. Er führt in letzter Konsequenz zu einer Entkoppelung von Leistung und Gegenleistung bzw. dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz und stellt damit ein gravierendes Problem für jene Staaten dar, in denen die realen Standorte bleiben. Denn diese Staaten finanzieren weiterhin die öffentlichen Güter, die den Unternehmen als Grundlage für deren Wirtschaften dienen. Jede Form des Gewinnsteuerwettbewerbs ist für jene ein Problem, die den Steuerausfall ausgleichen müssen. Und das sind ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen und national agierende Unternehmen.

EU-Mitgliedsländer forcieren desaströsen Gewinnsteuerwettlauf

Die Europäische Union war in den letzten Jahrzehnten jedenfalls der Wirtschaftsraum mit dem stärksten Steuerwettbewerb bei der Unternehmensbesteuerung weltweit. Der durchschnittliche nominelle Körperschaftsteuersatz in der EU ist zwischen 1995 und 2019 von 35 % auf 21,7 % gesunken. Im Vergleich dazu ist die Senkung der Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer in dieser Zeit von 47,2 % auf 39,4 % noch verhältnismäßig moderat ausgefallen. Der durchschnittliche Mehrwertsteuersatz ist seit 2000 von 19,3 % auf 21,5 % sogar angestiegen.

Unternehmen zahlen in der EU immer weniger Steuern © A&W Blog
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Einstimmigkeit bedeutet Stillstand

Das Einstimmigkeitsprinzip, gepaart mit dem europäischen Gewinnsteuerwettbewerb, ist jedenfalls ein zentrales Problem. Da einige EU-Staaten den Wettbewerb bei Gewinnsteuern erheblich befeuern bzw. ganz klar als Steueroasen fungieren, ist die Einstimmigkeit im Kampf gegen Steuerwettbewerb und damit im Kampf gegen die Steuertricks aktuell nicht zu erlangen. Manche Mitgliedstaaten haben ihr Wirtschaftsmodell zu einem wesentlichen Teil auf das Anlocken ausländischer Gewinne ausgerichtet. Um sie dazu zu bewegen, das Einstimmigkeitsprinzip aufzugeben, wird es wohl Kompensationsmechanismen geben müssen – zumindest für eine Übergangsphase. Auch darüber sollte nachgedacht werden. Klar ist: Es müsste steuerliche Kompetenz an die EU abgetreten werden, um die EU in Fragen der Steuergerechtigkeit handlungsfähiger zu machen.

Der letzte große Vorstoß seitens der EU-Kommission setzt ebendort an: Erst im Jänner dieses Jahres hat die EU-Kommission eine Mitteilung veröffentlicht, um den Weg zu einer effizienteren und demokratischeren Beschlussfassung in der EU-Steuerpolitik zu ebnen. Darin wird im Wesentlichen ein Vier-Phasen-Modell vorgestellt, mit dem man im Rat zu einem Abstimmungsmodus auf Basis qualifizierter Mehrheit gelangen kann, wie das in den meisten anderen Politikfeldern auf europäischer Ebene bereits der Fall ist. Eine qualifizierte Mehrheit erfordert immer noch die Stimmen von 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die zudem mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten.

Das Problem dabei: Um die Einstimmigkeitserfordernis in der Steuerpolitik im Rat zu beenden, braucht es einen einstimmigen Beschluss unter den Mitgliedsländern. Viele Mitgliedstaaten halten – aus unterschiedlichen Gründen – an ihrer Souveränität im Steuerbereich fest, verhindern damit effektive multilaterale Reformen, die ihnen gemeinsam zu einer stärkeren Position gegenüber großen Konzernen und SteuertrickserInnen verhelfen würden, und untergraben sich so gegenseitig ihre Wohlfahrtsstaatsmodelle. In Wirklichkeit ist diese Steuersouveränität wegen der ökonomischen Integration, des Grades der Internationalisierung und Digitalisierung der Wirtschaft und der teils veralteten Steuersysteme jedoch längst nicht mehr gegeben. Thomas Rixen unterscheidet zwischen „De-jure-“ und „De-facto-Souveränität“ und meint, „dass die Mitgliedstaaten ihre De-jure-Souveränität teilen müssen, um ihre tatsächliche (De-facto-)Souveränität zurückzuerobern“. Andernfalls wird der Unterbietungswettlauf, das „race to the bottom“, weitergehen, und multinationale Konzerne werden die Einzigen sein, die als GewinnerInnen aus dem Ring steigen.