EU-Kommission bei der Arbeit: Wo es Fortschritte gibt und wo es nach wie vor hakt

11. November 2021

Vor Kurzem hat die Europäische Kommission ihre Arbeitspläne für das kommende Jahr vorgestellt. Dabei zeigt sich bei vielen Vorhaben, dass die Kommission aus den zahlreichen Krisen der vergangenen Jahre Lehren gezogen hat und nun gesellschaftspolitisch progressiver vorgeht. In einigen Bereichen zieht die EU-Behörde jedoch nach wie vor keine Lehren. In welche Richtung sich die EU-Gesetzgebung weiterentwickelt, hängt aber auch vom Europäischen Parlament und dem Rat ab. Gerade beim Rat könnte es nun zu deutlichen Veränderungen kommen.

Kommissionsarbeitsprogramm 2022 mit den Prioritäten Grüner Deal und Digitalisierung

Die Kommission hebt in ihrem Arbeitsprogramm für 2022 eine Reihe von Gesetzesinitiativen hervor, die 2022 veröffentlicht werden sollen. Einige der Vorschläge werden im Folgenden angeführt:

Beim Europäischen Grünen Deal soll es wie bereits mit dem „Fit for 55“-Paket im Juli 2021 eine ganze Reihe von Legislativvorschlägen geben, die die Erreichung der EU-Klimaziele unterstützen sollen. Unter anderem sollen die Regeln bei den CO2-Emissionsnormen für schwere Nutzfahrzeuge überprüft und auch die Vorschriften für fluorierte Treibhausgase überarbeitet werden. Ein wichtiges Vorhaben ist zudem der sogenannte Null-Schadstoff-Aktionsplan, bei dem es darum geht, Schadstoffe in Gewässern, der Luft und im Boden drastisch zu reduzieren. Verknüpft mit dieser Maßnahme ist eine Überarbeitung der Chemikalienverordnung REACH und das Ziel, die Nutzungsdauer von Produkten mit dem sogenannten Kreislaufwirtschafts-Vorhaben zu verlängern.

Verstärkt widmen will sich die Kommission 2022 auch den Emissionen in der Landwirtschaft. Der Einsatz von Pestiziden soll reduziert, CO2 über einen Rahmen zur CO2-Entfernung verringert werden. Strategien zur Stärkung der Biodiversität und der „Vom Hof auf den Tisch“-Plan, der unter anderem die Lebensmittelerzeugung effizienter machen und Lebensmittelverschwendung verringern soll, sind ebenso geplant. Finanzierungen für die biologische Vielfalt sollen zudem verdoppelt werden. Wie sich die Vorschläge im Einzelfall darstellen, bleibt jedoch abzuwarten.

Der soziale und faire ökologische Wandel wird zwar auch angesprochen, im Arbeitsprogramm 2022 aber nicht mehr vertieft behandelt. Das ist etwas enttäuschend, weil es bislang an einer sozialen Ausgewogenheit beim Grünen Deal fehlt, wenngleich die Vorschläge für einen Klima-Sozialfonds und einen „Just Transition“-Fonds grundsätzlich zu begrüßen sind. Aber auch bei der „Just Transition“ ist festzustellen, dass kein Rahmen mit Konkretisierungen vorgeschlagen wird, was die Umsetzung des Vorhabens erschwert.

Digitalisierung – Chip-Gesetz und Cyber-Resilienz als vorrangige Vorhaben

Nach wie vor eine Top-Priorität bildet der digitale Sektor. Hier soll insbesondere ein eigenes europäisches Computerchip-Gesetz für mehr Sicherheit in der Union sorgen, nachdem es zu teils erheblichen Verzögerungen in der Produktion von Waren gekommen ist, die mit eingebauten Chips arbeiten. Künftig sollen die Chips verstärkt in Europa produziert werden. Dringend zu beachten wären hier jedenfalls die umweltpolitischen Auswirkungen, da die Erzeugung dieser High-Tech-Teile einen enormen Wasserbedarf nach sich ziehen.

Nachdem Hackerangriffe auf die Wirtschafts- und öffentliche Infrastruktur immer größere Ausmaße annehmen, soll es auch ein Gesetz zur Cyber-Resilienz geben. Das spielt insbesondere für den Energiesektor eine ganz wesentliche Rolle, der gleichzeitig auch über einen Aktionsplan im digitalen Bereich auf den letzten Stand gebracht werden soll.

Im bildungspolitischen Bereich sollen die digitalen Kompetenzen auf Schulen und Universitäten ausgebaut werden, um Wissenslücken bei Teilen der Jugendlichen zu schließen. Obwohl in der Kommissionsmitteilung zum „Digitalen Kompass 2030“ angesprochen, fehlen jedoch vor allem Fortbildungsmöglichkeiten für Geringqualifizierte und Ältere.

Im Kommissionsarbeitsprogramm nicht erwähnt werden die Arbeitsbedingungen für Plattformbeschäftigte. Nach letzten Informationen könnte ein Vorschlag jedoch noch vor Jahresende veröffentlicht werden.

Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik mit positiven Akzenten

Im Kommissionsarbeitsprogramm fallen gleich mehrere Initiativen im beschäftigungspolitischen Bereich positiv auf: So soll ein Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte veröffentlicht werden. Ein neuer Vorschlag sieht überdies den besseren Schutz von Arbeitnehmer:innen gegen die Gefährdung durch Asbest vor. Interessant ist weiters die Ankündigung einer Initiative, die die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte eindämmen soll. Kommen soll nun auch eine Empfehlung für ein Mindesteinkommen. Grundsätzlich positiv, aber leider ein Rückschritt gegenüber den ursprünglichen Plänen, einen Richtlinienvorschlag dazu zu veröffentlichen, der bindende Wirkung gehabt hätte.

Eine wichtige Aufgabe stellt darüber hinaus die geplante Überarbeitung der Fiskalregeln und der wirtschaftspolitischen Steuerung dar. In Expert:innenkreisen werden die bestehenden Regelungen schon lange als überaus kontraproduktiv kritisiert, die negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung haben können. Eine deutliche Lockerung dieser Regeln wäre daher ein klarer Schritt vorwärts.

Erwähnenswert ist auf jeden Fall auch, dass die Kommission nach der Einigung über die globale Steuerreform die Arbeiten an der Umsetzung des Vorhabens fortsetzen will.

„One in, one out“ als Gefahr für gesellschaftspolitische Standards

Die positiven Entwicklungen in der Politik der Europäischen Kommission werden jedoch vom neuen sogenannten „One-in-one-out“-Grundsatz konterkariert. Demnach soll für ein neues EU-Gesetz ein bestehendes gestrichen werden. Damit sollen laut Kommission „neue Belastungen“ (für Unternehmen) vermieden werden. Tatsächlich ist jedoch zu befürchten, dass damit wichtige Standards im Arbeitsrecht, beim Verbraucher:innen- und Umweltschutz zur Disposition stehen, was Arbeitnehmer:innenvertretungen wie der Europäische Gewerkschaftsbund und NGOs ausdrücklich kritisieren. Zwar hat die Kommission nach einer ersten Welle der Kritik versichert, dass es in diesen Bereichen zu keinen Verschlechterungen kommen soll. Selbst in diesem Fall ist zu hinterfragen, ob unter solchen Prämissen der Kommission überhaupt Verbesserungen für gesellschaftspolitische Standards möglich sind. Lautet die Antwort nein, würde dies letztlich sogar den Zielen des EU-Vertrags widersprechen.

Keine Informationen zum Lieferkettengesetz und den Sorgfaltspflichten bei Menschenrechten

Leider nicht erwähnt wird im Kommissionsarbeitsprogramm für 2022 das Vorhaben zu einem Lieferkettengesetz und zu den Sorgfaltspflichten bei Menschenrechten. Auch die Initiative zu den Arbeitsbedingungen bei Plattformarbeiter:innen fehlt. Es bleibt die Hoffnung, dass diese Vorhaben vielleicht doch schon 2021 präsentiert werden und nur deswegen nicht mehr eigens im Arbeitsprogramm für das kommende Jahr enthalten sind.

Europäisches Parlament und der Rat als maßgebliche Faktoren in der EU-Gesetzgebung

Zuletzt ist das Europäische Parlament mit progressiven Entschließungen unter anderem zum Lieferkettengesetz oder zur Klimakrise positiv aufgefallen. Der Rat als Dritter im Bunde der EU-Gesetzgebung fiel im Vergleich dazu eher als Bremser auf, wie beispielsweise bei den Verhandlungen zum EU-Budget der nächsten Jahre und der Aufbau- und Resilienzfazilität zur Ankurbelung der Konjunktur. Zudem fällt auf, dass der Einfluss von Industriekonzernen unter anderem auf die EU-Ratspräsidentschaften weiterhin sehr groß ist.

In den letzten Jahren ist auf Ebene des Rates jedoch aufgrund von mehreren Wahlen auf mitgliedstaatlicher Ebene eine Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse zu beobachten. Der Rat ist nun politisch ganz anders zusammengesetzt als in der letzten großen Krisensituation, der Finanzkrise im Jahr 2010. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs zeigt sich (bereits mit dem in Deutschland zu erwartenden Wechsel zu SPD-Spitzenkandidaten Olaf Scholz als neuem Bundeskanzler) nun ein breit gefächertes Gremium aus unterschiedlichen politischen Gruppierungen. Damit besteht die Hoffnung, dass es auch im Rat zu progressiveren Entscheidungen in gesellschaftspolitischen Fragen kommt als bisher.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Resümee: deutliche Fortschritte, aber nach wie vor Potenzial für Verbesserungen

Die neue Legislaturperiode auf EU-Ebene bringt nun endlich Bewegung bei Themen, die bislang von EU-Entscheidungsträger:innen ausgespart wurden. Gerade bei den Arbeiten der Kommission im Bereich des Klimawandels und der Digitalisierung ist das zu bemerken. Auch Sozial- und Beschäftigungsthemen werden nun deutlich stärker thematisiert. Es ist aber auch zu bemerken, dass sich die Kommission mit einigen Themen nach wie vor schwertut, wie beispielsweise mit einem menschenzentrierteren Zugang in der Handelspolitik. Komplett auf dem falschen Pfad ist die Kommission aber mit dem „One-in-one-out“-Prinzip, das eine Gefahr für gesellschaftspolitische Errungenschaften darstellt. Abgesehen von den Veränderungen bei der Kommission, besteht die Hoffnung, dass es nun auch auf Ratsebene beim Verhalten in der Gesetzgebung zu Veränderungen kommen könnte. So gesehen könnte das Jahr 2022 auch positive Überraschungen in der EU-Gesetzgebung bereithalten.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung