Wenngleich der Aktionsplan schon lange vor der COVID-19-Pandemie angekündigt wurde, trifft er genau den Nerv der Zeit: Ein Jahr nach ihrem Ausbruch leben Millionen Europäer*innen in Armut, die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordniveau, die Arbeitsbedingungen sind vielfach prekär, und die Beschäftigten in systemrelevanten Berufen – vor allem Frauen – sind einer Dauerbelastung ausgesetzt. Mit dem Aktionsplan will die Europäische Kommission die sozialen Herausforderungen und Probleme bekämpfen und zugleich einen Schritt in Richtung „Zukunft Europas“ gehen.
Europäische Säule sozialer Rechte: 20 Grundsätze
Beim Sozialgipfel im November 2017 in Göteborg wurde die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) von den europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten proklamiert. Die ESSR umfasst 20 Grundsätze, die die soziale Dimension der EU stärken sollen. Anfang März hat die EU-Kommission nun den lang erwarteten Aktionsplan zur ESSR präsentiert. Der Aktionsplan stellt ein Kernelement der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Agenda der Kommission dar und soll zum Aufbau eines starken sozialen Europas beitragen.
Eine im Vorfeld des Aktionsplans veröffentlichte Eurobarometer-Umfrage spiegelt auch die Forderung der europäischen Bevölkerung wider, Europa sozialer zu gestalten: 88 Prozent der Befragten hielten ein soziales Europa für sie selbst persönlich wichtig. Allerdings nur 29 Prozent der Befragten war die ESSR überhaupt ein Begriff. Sie scheint in der Lebensrealität der Menschen somit leider (noch) nicht angekommen zu sein.
Drei Kernziele: Beschäftigung, Fortbildung und Armutsbekämpfung
Angesichts der sozialen Herausforderungen im Kontext der COVID-19-Pandemie waren die Erwartungen hoch. Mit dem Aktionsplan hat die Kommission nun drei Kernziele für die EU formuliert, die bis 2030 erreicht werden sollen und die im Einklang mit Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG – Sustainable Development Goals) stehen:
- Mindestens 78 Prozent der 20- bis 64-Jährigen sollten einer Beschäftigung nachgehen.
- Mindestens 60 Prozent aller Erwachsenen sollten jedes Jahr an Fortbildungen teilnehmen.
- Die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen sollte um mindestens 15 Millionen verringert werden.
Zu den drei Kernzielen gibt es jeweils weitere Ziele, unter anderem zu geschlechtsspezifischen Beschäftigungsunterschieden, Jugendbeschäftigung oder Kinderarmut.
Im Aktionsplan angesprochen sind auch die 673,5 Milliarden Euro im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF – Recovery and Resilience Facility) und ihre Bedeutung für einen sozialen Aufschwung.
Gemeinsam mit dem neuen Aktionsplan hat die Kommission auch eine Empfehlung zu einer wirksamen aktiven Beschäftigungsförderung (EASE – effective active support to employment) nach der COVID-19-Krise vorgestellt, die die Mitgliedstaaten dabei unterstützen soll, Arbeitsmarktinitiativen zu setzen, um Arbeitsplätze zu schützen und zu schaffen, indem etwa die Kapazitäten von öffentlichen Arbeitsvermittlungsdiensten deutlich ausgebaut werden.
Was kommt …
Mit dem Aktionsplan hat die Kommission auch noch einmal die wichtigsten (Legislativ-)Vorhaben für 2021 und darüber hinaus zusammengefasst – vorwiegend Initiativen, die bereits im Vorfeld angekündigt wurden. Für 2021 werden noch Vorschläge zur nachhaltigen Unternehmensführung („Lieferkettengesetz“, 2. Quartal), zu den Arbeitsbedingungen der Plattformarbeitnehmer*innen (4. Quartal) sowie zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen (4. Quartal) erwartet. Dies sind alle drei sehr wichtige Gesetzesvorschläge und daher zu begrüßen. Wie dringend notwendig ein EU-Lieferkettengesetz benötigt wird und welche Themen es behandeln müsste, hat jüngst eine europaweite Kampagne zum Thema gemacht. Die Arbeiterkammer hat auch schon konkrete Vorschläge entwickelt, wie eine EU-Plattformarbeits-Richtlinie aussehen müsste.
Weiters stehen in Zukunft Initiativen zur Förderung der Sozialwirtschaft, zum Kampf gegen Obdachlosigkeit sowie für bezahlbaren Wohnraum auf der Agenda. Im Kontext der COVID-19-Krise ist zudem das Thema Gesundheit wieder stärker ins Blickfeld gerückt: So sieht der Aktionsplan auch einen neuen strategischen Rahmen für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie Vorschläge über den Zugang zu Gesundheitsleistungen und die Langzeitpflege vor. Auch dafür, wie EU-Mindeststandards für die Arbeitsbedingungen in Gesundheitsberufen aussehen müssten, gibt es seitens der Arbeiterkammer bereits konkrete Vorschläge.
Neben diesen Initiativen sind viele Vorhaben bereits im Verhandlungsprozess. So wurde der Richtlinienvorschlag für Mindestlöhne in der EU im Oktober 2020 präsentiert, und der Legislativvorschlag zur Plattformarbeit ist schon Gegenstand einer Sozialpartnerkonsultation. Besonders bedauerlich ist es, dass gerade bei dem wichtigen Thema der europaweiten Mindestlöhne einige Mitgliedstaaten – darunter auch Österreich – sowie Vertreter*innen der Arbeitgeber starken Widerstand leisten. Vorgelegt hat die Kommission auch einen Vorschlag zur Lohntransparenz, ebenfalls ein wichtiges und überfälliges Vorhaben. Um gegen die hohe Kinderarmut vorzugehen, hat die EU-Kommission zudem jüngst einen Vorschlag für eine Kindergarantie vorgestellt.
Andere wichtige Vorhaben, wie etwa die europäische Arbeitsbehörde oder die Einführung des sozialpolitischen Scoreboards im Rahmen des Europäischen Semesters, sind bereits umgesetzt, und es sind lediglich Folgemaßnahmen geplant.
… und was fehlt
Der Aktionsplan mag auf den ersten Blick ambitioniert aussehen, bleibt jedoch auf den zweiten hinter den Erwartungen zurück. Insbesondere dem Kernziel „Armutsreduktion“ fehlt es an Ambition. So wollte die EU zwischen 2010 und 2020 die Zahl der von Armut bedrohten Menschen in der EU um 20 Millionen senken, hat dies aber deutlich verfehlt. Im Jahr 2019 – also noch vor der COVID-19-Krise – waren 91 Millionen Europäer*innen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind zwar um 12 Millionen weniger als noch 2008 bzw. um 17 Millionen weniger als 2017, aber dennoch weit entfernt von einer Reduktion um 20 Millionen. Gemäß dem UN-Armutsziel müsste die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen bis 2030 auf unter 60 Millionen fallen. Angesichts der Tatsache, dass die Krise die soziale Ausgrenzung verstärkt und das Risiko, von Armut betroffen zu sein, steigt, bräuchte es hier ambitionierte Ziele statt Rückschritte.
Aber auch das „Beschäftigungsziel“ bleibt hinter den Erwartungen zurück. Bereits das EU-2020-Beschäftigungsziel hat eine Erwerbstätigenquote von 75 Prozent vorgesehen – und auch dieses Ziel wurde nicht erreicht. Das UN-Ziel sieht vor, dass bis 2030 produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle Frauen und Männer erreicht werden soll. Die 78 Prozent, die die EU-Kommission festlegt, bleiben damit deutlich hinter dem UN-Ziel zurück.
Darüber hinaus finden sich im Aktionsplan zahlreiche Soft-Law-Initiativen und Ermutigungen der Kommission an die Mitgliedstaaten. Für 2022 plant die Kommission beispielsweise eine Initiative zu Mindesteinkommen und greift damit ein wichtiges Thema auf. Dabei soll es sich jedoch lediglich um eine Empfehlung handeln, welche rechtlich nicht bindend wäre – ein Rückschritt, denn die Kommission hatte eine Richtlinie angekündigt, welche bindend wäre. Ob Ermutigungen und Aufforderungen ausreichend sein werden, um die Europäische Union sozialer zu machen, ist wohl fraglich.
In der Liste der Vorhaben fehlt zudem ein Richtlinienvorschlag für Mindeststandards für die Arbeitslosenversicherung, wie ihn Arbeiterkammer und Gewerkschaften seit Jahren fordern. Gerade in Zeiten der Krise mit hoher Arbeitslosigkeit wäre eine Initiative in diesem Bereich mehr als notwendig.
Sozialgipfel in Porto und Zukunft Europas
Der Aktionsplan ist ein wichtiger Schritt in Richtung sozialer Union, aber nicht der letzte: Der Sozialgipfel in Porto am 7. und 8. Mai 2021 ist eine weitere Chance, um (neue) soziale Themen (wieder) auf die Agenda zu bringen. Dafür braucht es eine ambitionierte Erklärung, mit welcher der Aktionsplan angenommen wird, sowie ein starkes Bekenntnis aller Institutionen zur Umsetzung des Aktionsplans. Wichtig wird es in der Folge sein, die sozialen Ziele auch im Rahmen der am 9. Mai 2021 startenden Konferenz über die Zukunft Europas an vorderster Stelle mitzudenken. Um die sozialen und arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen zu meistern, braucht es langfristig gesehen einen grundlegenden strukturellen Wandel sowie ein Umdenken in Richtung sozialer Union, in der die sozialen Grundrechte gegenüber den Marktfreiheiten und Wettbewerbsregeln des EU-Binnenmarkts Vorrang haben.