EU-Wettbewerbsfähigkeitskompass: Weg­weiser in ein nach­haltiges und zukunfts­fähiges Europa?

05. Februar 2025

Hohe Energiekosten, demografischer Wandel, globaler Wettlauf um Zukunftstechnologien und zunehmende geopolitische Spannungen prägen die wirtschafts- und industriepolitische Situation. Mit dem Wettbewerbsfähigkeitskompass will die Europäische Kommission eine Antwort auf diese Herausforderungen formulieren. Dies gelingt ihr nur teilweise, einige Forderungen sind brandgefährlich und die Finanzierung des enormen Investitionsbedarfes bleibt weitgehend offen. Die wichtigste Stütze der Wettbewerbsfähigkeit – die Beschäftigten und ihre Fähigkeiten – müssen in den Mittelpunkt.

Die neue Europäische Kommission möchte mit dem Kompass für Wettbewerbsfähigkeit Wohlstand, Wertschöpfung und Beschäftigung in Europa langfristig sichern. Dieses Instrument soll die EU-Politik in den nächsten fünf Jahren maßgeblich leiten und basiert auf den Berichten von Enrico Letta zum europäischen Binnenmarkt und von Mario Draghi zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Diese benennen eine Vielzahl von Herausforderungen, die Europäische Kommission fokussiert insbesondere auf drei strategische Schwerpunkte und fünf Querschnittsmaterien.


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Die Europäische Kommission setzt dabei auf Innovation, die Verknüpfung von Dekarbonisierung mit Wettbewerbsfähigkeit sowie auf eine verstärkte Reduktion von Abhängigkeiten und Sicherheitsrisiken. Die Kommission übt mit ihrem Wettbewerbsfähigkeitskompass Druck aus, um die Kooperation zwischen europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten zu verbessern, da der Erfolg von einer raschen, strategischen und koordinierten Umsetzung der gesetzten Schwerpunkte abhängen wird. Der auf insgesamt 26 Seiten dargestellte Kompass enthält eine Vielzahl an angekündigten Plänen, Strategien, Deals, Initiativen und Verordnungen mit konkreten Zeitplänen, die zum Erreichen dieser strategischen Schwerpunkte beitragen sollen. Es verdeutlicht einerseits die Ambitionen der neuen EU-Kommission, andererseits bleiben viele der Maßnahmen aber abstrakt.

EU-Wettbewerbskompass: Wichtige Säulen und zentrale Vorhaben

Flagship Action Pillar 1
Flagship Action Pillar 2  

+ Start-up- und Scale-up-Strategie [Q2 2025]
+ Schaffung eines 28. Rechtsregimes [Q4 2025 – Q1 2026]
+ Europäisches Innovationsgesetz [Q4 2025 – Q1 2026]
+ Gesetz über den Europäischen Forschungsraum [2026]
+ KI-Fabrik-Initiative [Q1 2025], KI anwenden, KI in der Wissenschaft und Datenunion-Strategien [Q3 2025]
+ EU-Gesetz über Cloud und KI-Entwicklung [Q4 2025 – Q1 2026]
+ EU-Quantenstrategie [Q2 2025] und ein Quantengesetz [Q4 2025]
+ Europäisches Biotechnologiegesetz und Strategie für die Bioökonomie [2025–2026]
+ Strategie für Biowissenschaften [2. Quartal 2025]
+ Gesetz über fortgeschrittene Werkstoffe [2026]
+ Weltraumgesetz [2. Quartal 2025]
+ Überarbeitung der Leitlinien zur Kontrolle horizontaler Fusionen
+ Gesetz über digitale Netze [4. Quartal 2025]

+ Clean Industrial Deal und ein Aktionsplan für erschwingliche Energie [Q1 2025]
+ Gesetz zur Beschleunigung der industriellen Dekarbonisierung [Q4 2025]
+ Aktionsplan zur Elektrifizierung und Paket zu den europäischen Netzen [Q1 2026]
+ Neuer Rahmen für staatliche Beihilfen [Q2 2025]
+ Aktionsplan für Stahl und Metalle [2025]
+ Paket für die chemische Industrie [Q4 2025]
+ Strategischer Dialog über die Zukunft der europäischen Automobilindustrie und industrieller Aktionsplan [Q1 2025]
+ Investitionsplan für nachhaltigen Verkehr [Q3 2025]

+ Europäische Hafenstrategie und Industriestrategie für den Seeverkehr [2025]
+ Plan für Hochgeschwindigkeitszüge [2025]
+ Überprüfung des Mechanismus zur Anpassung des Kohlenstoffgrenzwertes [2025]
+ Gesetz zur Kreislaufwirtschaft [Q4 2026]
+ Vision für Landwirtschaft und Ernährung [Q1 2025]
+ Pakt für die Ozeane [Q2 2025]
+ Novellierung des Klimagesetzes [2025]  

Flagship Action Pillar 3
Flagship Action Enabler  
+ Abschluss und Umsetzung ehrgeiziger Handelsabkommen, Clean Trade and Investment PartnerschaftenInitiative zur transmediterranen Zusammenarbeit im Bereich Energie und saubere Technologien [Q4 2025]
+ Gemeinsame Beschaffungsplattform für kritische Rohstoffe [Q2–3 2025]
+ Überarbeitung der Richtlinien über das öffentliche Auftragswesen [2026]
+ Weißbuch über die Zukunft der europäischen Verteidigung [Q1 2025]
+ Strategie der Bereitschaftsunion [1. Quartal 2025]
+ Strategie der inneren Sicherheit [1. Quartal 2025]
+ Gesetz über kritische Arzneimittel [Q1 2025]
+ Europäischer Plan zur Anpassung an den Klimawandel [2026]
+ Strategie für die Widerstandsfähigkeit von Wasser [Q2 2025]
+ Omnibus-Vereinfachung und Definition von kleinen und mittleren Unternehmen [26/2/2025]
+ European Business Wallet [2025]
+ Binnenmarktstrategie [Q2 2025]
+ Überarbeitung der Standardisierungsverordnung [2026]
+ Spar- und Investitionsunion [Q1 2025]
+ Nächster MFR, einschließlich Wettbewerbsfähigkeitsfonds und Koordinierungsinstrument für die Wettbewerbsfähigkeit [2025]
+ Union der Fertigkeiten [Q1 2025]
+ Fahrplan für hochwertige Arbeitsplätze [Q4 2025]
+ Initiative zur Übertragbarkeit von Qualifikationen [2026]

Quelle: EU-Wettbewerbsfähigkeitskompass

Ausgewählte Maßnahmen für das Erreichen strategischer Schwerpunkte

Die Innovationslücke soll durch die verstärkte Förderung von Start-ups und Scale-ups, gezielte Investitionen in Schlüsseltechnologien wie Life Sciences und Biotechnologie, Weltraum, Künstliche Intelligenz, fortschrittliche Materialien, Kreislaufwirtschaft und saubere Technologien geschlossen werden. Dazu gehört auch die Verbesserung der Forschungs- und Innovationslandschaft Europas durch eine Fokussierung und verstärkte Koordinierung der Forschungsprioritäten sowie die Erhöhung der Forschungsinvestitionen auf durchschnittlich drei Prozent des BIP. In einigen dieser Schlüsselbereiche gehören gerade Österreichs Unternehmen und Forschungseinrichtungen zur weltweiten Spitze und könnten von diesen Investitionen enorm profitieren.

Zum gemeinsamen Fahrplan für Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit gehört der verstärkte Kampf gegen hohe und volatile Energiepreise, unter anderem durch einen Aktionsplan für bezahlbare Energie und einen direkten Zugang zu sauberer und leistbarer Energie für Industrie und Haushalte. Weitere Maßnahmen wie der Clean Industrial Deal unterstützen europäische Unternehmen beim Umstieg auf saubere Technologien und auch der Auf- und Ausbau einer europäischen Kreislaufwirtschaft soll durch mehr Ressourceneffizienz zur Erhöhung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Die Erzählungen klingen grundsätzlich schlüssig, aber erst die konkreten Maßnahmen und ihre Ausstattung mit finanziellen Mitteln – die offenbleibt – werden zeigen, inwieweit das auch gelingen wird.

Die systematische Erhöhung der Versorgungssicherheit und der strategischen Unabhängigkeit der EU von Drittstaaten möchte die Kommission nicht nur durch die Diversifizierung von Lieferketten vorantreiben, sondern auch durch eine stärkere europäische Zusammenarbeit, etwa bei der Beschaffung von Rohstoffen, ermöglichen. Darüber hinaus soll ein gezielter und rascher Aufbau einer europäischen Kreislaufwirtschaft dazu beitragen, die Unabhängigkeit von Drittstaaten bei Komponenten und Rohstoffen zu stärken.

Querschnittsmaterien: von Deregulierung bis zur Kompetenzförderung

Die Europäische Kommission betreibt seit einigen Monaten eine Kampagne gegen „überbordende Bürokratie“. Während es durchaus Sinn macht, veraltete Regeln, die keinen Nutzen mehr haben, zu überarbeiten oder zu streichen, werden nun vor allem von Unternehmensverbänden Standards infrage gestellt, die einen hohen Mehrwert für Beschäftigte, Konsument:innen und die Gesellschaft haben. So fordert die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) eine Überarbeitung der Praktikumsrichtlinie mit der Meinung, die Unternehmen sollen selbst entscheiden, ob und wie hoch die Entschädigung für Praktikant:innen ausfällt. Einschlägige Forderungen stellt die DIHK auch bezüglich des Rechts auf gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, des Lieferkettengesetzes oder der Reparatur von Waren.

Die Arbeiterkammer hat bereits 2024 eine Studie vorgestellt, die vor einem Infragestellen wichtiger gesellschaftspolitischer Standards im Rahmen der „Besseren Rechtsetzung“ und des „Bürokratieabbaus“ warnt. Während eine Beschleunigung von Genehmigungsverfahren oder eine Überarbeitung von Meldepflichten grundsätzlich begrüßenswert ist, dürfen solche Maßnahmen nicht zu einer Narrenfreiheit für unredliche Unternehmen führen. Die Kosten einer derartigen Politik können immens sein, wie beispielsweise die Finanzkrise 2008 oder jüngste Insolvenzen von Immobilienkonzernen gezeigt haben. Vor Überarbeitungen oder Streichungen von Regelungen müssen Bewertungen stattfinden, die den Nutzen von Regeln für alle Akteur:innen einer Volkswirtschaft evaluieren, um eine Streichung auf Zuruf einzelner Lobbyist:innen zu verhindern.

Der Binnenmarkt soll vertieft und stärker als Zielmarkt für Investitionen und für den gezielten Aufbau europäischer Leitmärkte genutzt werden, um „kontinentale Größe in einer Welt von Giganten“ zu werden. Dafür sollen im Rahmen einer Spar- und Investitionsunion bzw. genauer gesagt in einer Kapitalmarktunion auch die Möglichkeiten zur Finanzierung einer aktiven und strategischen europäischen Industriepolitik erweitert werden, etwa durch ein breiteres und flexibleres Mandat für die Europäische Investitionsbank sowie durch einen Europäischen Wettbewerbsfonds und die stärkere Integration privater Investitionen. Im Vergleich zum Draghi-Bericht, der noch Mehrinvestitionen von 800 Mrd. Euro pro Jahr forderte, stellt das allerdings einen Rückschritt dar: Dort war noch die Rede von gemeinsamer Verschuldung, um den enormen Investitionsbedarf der EU zu finanzieren. Nun spricht die Kommission lediglich von Budgetverschiebungen und der großen Hoffnung steigender privater Investitionen. Bleibt dies so, ist die Kommission schon vom Start weg halb gescheitert.

Aufs Tapet kommen jedoch Maßnahmen wie Verbriefungen. Maßnahmen zum Schutz der Kleinanleger:innen werden von der Kommission nicht erwähnt, obwohl es in den letzten Jahren bereits viele negative Erfahrungen mit verbrieften Schuldtiteln gab, die für manche Beschäftigte oder Pensionist:innen herbe Verluste bedeuteten. Es droht damit ein erneutes Abgleiten in die Verantwortungslosigkeit.

28. Rechtsregime als massive Bedrohung für das Arbeitsrecht

Brandgefährlich wird es bei dem Vorschlag der Europäischen Kommission in bestimmten Bereichen ein 28. Rechtsregime einzuführen. Auch das Arbeitsrecht, das Insolvenzrecht, das Steuerrecht und das Unternehmensrecht soll davon erfasst sein. Wird beispielsweise für Unternehmen die Wahlmöglichkeit eingeführt, sich zwischen einer nationalen Rechtsordnung oder einem 28. Rechtsregime zu entscheiden, könnte das zu einer massiven Aushöhlung von nationalen Standards und im schlimmsten Fall zu erheblichen Verschlechterungen für Beschäftigte, Konsument:innen und die Gesellschaft führen.

Abzulehnen ist auch eine Erweiterung der KMU-Definition. Die Kommission plant nämlich Betriebe, die nach jetziger Regelung als Großunternehmen gelten, nach neuer Regelung als KMU darzustellen. Das bringt eine Reduktion der Unternehmenspflichten mit sich, die zwar gut für das jeweilige Unternehmen, aber riskant für die Volkswirtschaften ist. Wichtige Informationen werden nicht beziehungsweise zu spät übermittelt, beispielsweise hinsichtlich einer wirtschaftlichen Schieflage eines Unternehmens. Bereits heute stellen nach geltender Definition 99,8 Prozent der Unternehmen KMU dar. Nun auch noch die letzten 0,2 Prozent der Großbetriebe als kleines oder mittleres Unternehmen darzustellen ist einfach nur noch als absurd zu bezeichnen.

Wettbewerbsfähigkeit Europas liegt in den Köpfen der Beschäftigten

Die Kommission erkennt, dass die europäische Wettbewerbsfähigkeit in den Köpfen – den Fähigkeiten und Kompetenzen – der Menschen Europas liegt. Die Initiative „Union of Skills“ soll zu einem starken Bildungs- und Ausbildungssystem sowie qualitativ hochwertiger Forschung und resilienten Wohlfahrtsstaaten beitragen. Dazu möchte die Kommission unter Einbindung der Sozialpartner und anderer Stakeholder spezifische Strategiepläne und Aktionspläne vorlegen und die Bemühungen in der nationalstaatlichen Abstimmung und Umsetzung unterstützen. Umso mehr verwundert aber, dass diese Dimension nur marginal behandelt wird. Eine dezidierte Schwerpunktsetzung auf die Menschen und ihre Fähigkeiten, gute Arbeit und den Sozialstaat als Sicherheitsgeber in Zeiten der Transformation ist notwendig und in Anbetracht der Umbrüche am Arbeitsmarkt durch Dekarbonisierung, Digitalisierung und demografischer Entwicklung mehr als angebracht.

Der EU-Wettbewerbsfähigkeitskompass betont als fünfte Querschnittsmaterie die Notwendigkeit einer koordinierten und gemeinsamen Anstrengung, um der bisherigen Fragmentierung und unabgestimmten nationalen Wirtschaftspolitiken entgegenzuwirken. Dafür sieht die EU-Kommission das Competitiveness Coordination Tool vor, das mit dem Europäischen Semester abgestimmt wird. Hier ist große Vorsicht angebracht, da wichtige sozialstaatliche Errungenschaften mit einem derartigen Instrument unter Druck geraten können.

Noch in diesem Jahr soll ein Vorschlag für den nächsten EU-Finanzrahmen ab 2028 vorgelegt werden. Darin wird festgelegt, welche Schwerpunkte bei der Vergabe von EU-Förderungen gesetzt werden. Geht es nach der Kommission soll es nur noch einige wenige Förderprogramme geben, das wichtigste davon soll ein Wettbewerbsfähigkeitsfonds sein. Dies darf keinesfalls zulasten von Sozial- und Beschäftigungspolitik gehen, die aktuell bereits zu wenig Berücksichtigung findet. Hinzu kommt der enorme Investitionsbedarf, den Mario Draghi in seinem Bericht dargelegt hat und dessen Finanzierung nun weiterhin völlig offenbleibt.

Europas Zukunft in den Sternen?

Die EU-Kommission gibt mit dem ersten zentralen Dokument, dem EU-Wettbewerbsfähigkeitskompass, die Richtung der nächsten fünf Jahre vor. Die Analyse der Herausforderungen gelingt nur teilweise, vieles – Antworten, wie die Finanzierungsfrage – fehlt, und wesentliche Aspekte werden nicht ausreichend adressiert. Das betrifft vor allem die Rolle und Bedeutung der Arbeitnehmer:innen und der Gesellschaft in Phasen großer Umbrüche. Die Kommission muss deshalb in den kommenden Initiativen, Plänen und Verordnungen beweisen, dass Klimaschutz, Umwelt, Soziales und Beschäftigung gleich wichtig sind wie die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen.

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