Wir leben in einer großen Transformation. Niemand wird das bestreiten. Globalisierung, Digitalisierung, Neoliberalisierung, Klimawandel – wer kann die Schlagwörter noch hören? Eine dramatische Auswirkung des Umbruchs, in dem wir uns befinden, betrifft die Ratlosigkeit traditioneller linker Politik. In einer Zeit, die ihr mehr Angriffsflächen böte als jede andere, weiß sie nicht mehr, auf wen sie sich beziehen kann und soll. So kommt mit großer Verzögerung auch bei uns das Werk von einem der einflussreichsten Sozialwissenschafter des 20. Jahrhunderts, Karl Polanyi, ins Blickfeld. Sein Schaffen wurde wesentlich geprägt von seiner Zeit in Wien. Grund genug, dass ihm der Falter nun eine Sonderbeilage widmet.
Viele Texte, nicht nur, aber auch in diesem Heft, legen den Gedanken nahe, die Finanzkrise 2008 habe das Werk Polanyis wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Da ist was dran. Allerdings läuft die Sache im deutschen und im englischen Sprachraum einigermaßen verschieden.
Kaum wahrnehmbares Rauschen im Blätterwald
Während in England und in den USA die Linke eine Debatte über Polanyi führt und bedeutende Publikumszeitungen und -zeitschriften den Mann und sein Werk vorstellen, gibt es in deutschen und österreichischen Zeitungen durchaus eine Resonanz, aber die Zeitschriften schweigen fast gänzlich. Lediglich speziell auf Politik ausgerichtete Publikationen wie die Blätter für deutsche und internationale Politik brachten große Beiträge zu Polanyi oder durch Polanyi inspirierte Überlegungen.
Polanyis Hauptwerk erschien 1944; es dauerte 33 Jahre, bis es auf Deutsch herauskam. Außerhalb ökonomischer Fachkreise war der Name Polanyi kein Begriff. Das immerhin hat sich gründlich geändert. Heute kann man ihn en passant als Hinweismarke verwenden, wie dies der Politologe Ulrich Brand vor kurzem in einem Falter-Interview tat. „Wie weit muss Degrowth gehen?“, lautete die Frage. Brands Antwort: „Mit Karl Polanyi gesprochen: Wir müssen die gesellschaftspolitische und intellektuelle Gegenbewegung gegen eine immer weiter selbstverständliche, ignorante Naturvernutzung und imperiale Lebensweise einleiten. Dann sind Lernprozesse möglich, die ich bei einigen meiner Studierenden schon sehe: Die wollen gar kein Auto mehr haben, einige sogar nicht mehr fliegen. Sie wollen einfach und gut leben. Das wäre der Horizont: Ein wachsender Teil der Gesellschaft will diese andere Lebensweise“ (Falter, 1.5.2018).
2009 noch konnte die renommierte, bildungsbürgerliche Zeit schreiben, folge man dem „vergessenen Ökonom Karl Polanyi“, müsse man einsehen, dass „die Industriezivilisation sehr wohl zum Ruin des Menschen führen kann“ (16.7.). Nur noch einmal wird Polanyi wieder erwähnt, als Warner vor „Klimawandel, Wirtschafts- und Finanzkrisen“ (15.9.2011). Zu den wenigen Wochenzeitungen, die Polanyi nicht ausblenden, zählt die Wirtschaftswoche. „Man trifft in Hauptseminaren der Volkswirtschaft heute Studenten, die nicht Adam Smith und Friedrich August von Hayek gelesen haben. Die nicht wissen, wer François Quesnay oder Carl Menger waren. Wofür Albert O. Hirschman oder Karl Polanyi stehen“ (12.10.2018).
Die Polanyi-Rezeption in Österreich
Österreichische Qualitätsblätter haben überraschenderweise einiges zur Polanyi-Renaissance beigetragen. In der Presse vom 25.11.2016 stellte der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Ernst Langthaler seinen ausführlichen Text über „The Great Transformation“ in einen aktuellen Kontext, den Aufstieg Donald Trumps zum Präsidenten der USA. „Was wie ein Kommentar zum Sieg Donald Trumps bei der US-Präsidentenwahl klingt, wurde sinngemäß vor mehr als 70 Jahren gedacht, gesagt und geschrieben. Karl Polanyi beantwortete 1944 in seinem Buch ,The Great Transformation‘ eine der drängendsten Fragen jener Zeit: den Aufstieg des Faschismus, der – zusammen mit dem Kommunismus – dem 20. Jahrhundert den Stempel ,Zeitalter der Extreme‘ (Eric Hobsbawm) aufgedrückt hat“, schreibt Langthaler, ohne jedoch Trump als Faschisten zu klassifizieren; er hält ihn für einen Nationalpopulisten, dessen Erfolg sich jedoch mit Polanyis Kategorie der Gegenbewegung erklären lasse.
Auch im Standard wird Polanyi ab und an zitiert, etwa vom Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk am 13.5.2016 in einem Plädoyer für eine europäische Politik, die ein „europäisches Weiterwursteln“ sein müsse. Denn „ihr Zusammenbruch würde jene politischen Kräfte demokratischer Selbstzerstörung freisetzen, die zu einer dramatischen Herausforderung für Europa geworden sind. Sie würde zu jener Regression und völligen Marginalisierung des Halbkontinents führen, die Karl Polanyi kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs beschrieben hat.“
Insgesamt bleibt die Rezeption in Österreich verhalten, wobei es immer wieder lobenswerte Ausnahmen gab: Etwa ein großes Porträt Polanyis samt Interview mit Kari Polanyi-Levitt von Tanja Traxler anlässlich der Polanyi-Konferenz in Linz. Oder diverse Berichte in der Wiener Zeitung, etwa auch ein Kommentar der Ökonomin Sigrid Stagl für „neue Spielregeln des Wirtschaftens im Anthropozän“.
Die Polanyi-Rezeption in deutschen und Schweizer Tageszeitungen
Je nach Ausrichtung des Blatts kommt Polanyi zu Ehren oder zu mitunter auch hämischer Kritik. Die konservative Neue Zürcher Zeitung bleibt erstaunlich neutral und zitiert Polanyi ab und an in großen Essays; so etwa verwenden die Raumplanungsexperten Robert Kaltenbrunner und Olaf Schnur ganz selbstverständlich mit Bezug auf Polanyi den Begriff „Kommodifizierung“.
Die Süddeutsche Zeitung und die taz sympathisieren deutlich mit Polanyi. In der Süddeutschen rezensiert der Politologe Claus Leggewie die Werke von Gareth Dale und Robert Kuttner über Polanyi. Und der englische Literaturprofessor Jeremy Adler schreibt zum Thema Brexit: „Die zutreffende Diagnose stammt von Hayeks Gegenspieler Karl Polanyi. Der Wirtschaftshistoriker hielt den ,freien Markt‘ für einen Mythos, weil er in Wahrheit auf zahllosen Gesetzen beruhe: ,Das Laisser-faire war geplant.‘ Die einseitige Bevorzugung des Marktes unterminiere die Demokratie. Eine natürliche Ökonomie sei sozial eingebettet. Nach Polanyi zu urteilen, hat Hayek die Krankheit mit der Kur verwechselt. Der Faschismus entstamme ,einer Marktwirtschaft, die nicht funktioniert‘“. Der Wirtschaftssoziologe Jens Beckert wiederum nennt „The Great Transformation“ als das für ihn wichtigste Buch (14.6.2016). Wenig überraschend wird Polanyi in der taz durchaus zustimmend zitiert, ja, als selbstverständlich vorausgesetzt (zum Beispiel beim Politologen Franz Walter).
Am interessantesten ist die Polanyi-Rezeption in der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zwar überwiegt in der FAZ und deren Ableger, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Tenor, Polanyi-Schüler hingen seiner Theorie nur im Rahmen der allgemeinen Ratlosigkeit der Linken an, doch ist es dieses Blatt, in dem ausführliche, manchmal sogar sympathisierende Auseinandersetzungen mit Polanyi stattfinden. Hier konstatierte die amerikanische Ökonomin Shoshana Zuboff unter Bezug auf Polanyis Analyse der Destruktivität des Marktes: „Google führt uns an den Wendepunkt in der Reichweite der Marktwirtschaft. Eine vierte fiktive Ware entsteht hier und wird zum beherrschenden Merkmal der Marktdynamik des 21. Jahrhunderts. Die ,Realität‘ erfährt dabei dieselbe Umwandlung ins Fiktive und wird als ,Verhalten‘ wiedergeboren. Dazu gehört das Verhalten der Lebewesen, ihrer Körper und ihrer Dinge, das Verhalten selbst sowie Daten über das Verhalten. Es ist der weltumspannende Organismus samt den winzigsten Elementen darin“.
Auch Wirtschaftsredakteur Rainer Hank bemerkt in seinem Polanyi-Porträt durchaus zustimmend am Ende: „Viele der heutigen Kapitalismuskritiker weiden auf der Wiese Polanyis. Die Kritik am ,Ökonomismus‘ und ,Kapitalismus pur‘, die Mahnung zu Maß und Mitte, die von Sahra Wagenknecht bis Volker Kauder täglich ertönt, hat hier ihren Ursprung. Wenn Bundeskanzlerin Merkel findet, wir brauchten eine ,marktkonforme Demokratie‘, würden Polanyis heutige Freunde dagegen einen ,demokratiekonformen Markt‘ fordern“ (FAS 24.8.2018). Obwohl der gleiche Hank, über das Erbe Polanyis und dessen differenzierte Kapitalismuskritik verstimmt, diesem gern auch „antikapitalistischen Romantizismus“ vorwirft (FAS 13.1.2013). Hank kommt immer wieder auf Polanyi zurück, sei es in einer Dickens-Rezension (FAS 16.3.2014) oder in einer Philippika gegen Kapitalismuskritiker, die nicht wüssten, dass sie Polanyis Erben sind (FAS 24.8.2014).
Ein anderes Bild in England und den USA
In England ist der Grund einfach: Jeremy Corbyns Wirtschaftspolitik beruft sich auf Polanyi und orientiert sich an ihm. Konservativere Medien wie das Magazin Economist haben sich nicht nur aus diesem Grund ausführlich mit Polanyi befasst; in der linksliberale Tageszeitung Guardian hatte der Politologe Adrian Pabst lange zuvor schon apodiktisch festgestellt, Polanyi, nicht Keynes sei „der einzige Ökonom, der die wahren Grenzen von Kapitalismus und Sozialismus erfasst hat“. In einem Editorial hielt der Guardian fest: „Corbynomics wurde in solchen moralischen (Polanyi’schen, Anm.) Begriffen geframt – und das ist eine sehr gute Sache“ – es fehle nur an Mut zu konkreten Beispielen.
In den USA widmen Publikumszeitschriften wie der New Yorker Polanyis Thesen 15-seitige Essays (The Merchants of Doom – eine Rezension von Robert Kuttners Polanyi-Buch). Die einflussreiche New York Review of Books publizierte eine Kritik ebendieses Robert Kuttner von Gareth Dales Polanyi-Biografie unter dem Titel „The Man from Red Vienna“. Dass Bernie Sanders’ marktkritische Ideen mit Polanyi begründet wurden, versteht sich fast von selbst („Polanyi for President“). Das Dissent Magazine, eher klassisch links, angesiedelt zwischen kommunitaristisch und sozialdemokratisch, publizierte mehrere große Texte zu Polanyi, außer dem erwähnten etwa „The elusive Karl Polanyi“ (Frühjahr 2017) oder „The return of Karl Polanyi“ (Frühjahr 2014).
Karl Polanyis Werk lebt
Karl Polanyis Werk lebt, es wird darüber berichtet, es wird als aktueller Wegweiser für linke Politik leidenschaftlich diskutiert. Das könnte unserer (medialen) Linken ein Beispiel geben. Diese Beilage macht einen Anfang!
Dieser Beitrag erschien in einer ähnlichen und ausführlicheren Form im heute veröffentlichten Sonderheft „Transformation des Kapitalismus? Karl Polanyi – Wiederentdeckung eines Ökonomen“, die der aktuellen Ausgabe der Stadtzeitung Falter beigelegt ist. Die Beilage ist Teil der Reihe „Ökonomie – eine kritische Handreichung“ (ältere Ausgaben online verfügbar).