In der Demokratie ist es notwendig, nicht nur den Beifall der Masse zu gewinnen, sondern auch deren Zustimmung. Die dabei sich aufdrängende Frage lautet: Wie bekommt man die Massen dazu, gegen ihre eigenen Interessen zu votieren und denen Beifall zu spenden, die für Ziele eintreten, die dem massenhaften Wohl oder der Wohlfahrt der Massen entgegengesetzt sind? Die Antwort ist oft verblüffend, ja beschämend einfach. Blind durch die selbsterzeugte Illusion der Aufklärung, in einem Konstrukt, das wir Öffentlichkeit nennen, meinen wir, es gebe nichts Stärkeres als die Macht des Arguments. Ideen setzen sich aber nicht durch, weil sie besser sind, sondern weil die Macht auf ihrer Seite ist.
Man könnte die Geschichte der Öffentlichkeit schreiben, wie sie als Forum der Demokratie dem Versuch, andere zu überzeugen, diente und zugleich als Forum der Manipulation missbraucht wurde. Man könnte der Geschichte des ökonomischen eine Geschichte des medialen Paradigmenwechsels zur Seite stellen. Der – auch ideelle – Rückzug des öffentlich-rechtlichen Wesens sollte als ein Moment einer neoliberalisierten Öffentlichkeit begriffen werden.
Dass andere Institutionen der Überzeugung in einer demokratischen Öffentlichkeit ebenfalls der Kontrolle des Staates oder öffentlicher Institutionen entgleiten, passt ins Bild. Die einseitige Ausbildung an den Wirtschaftsuniversitäten, die zunehmende privatwirtschaftliche Dotierung von Think-Tanks und Publizisten und nicht zuletzt das Wachstum der PR-Wirtschaft (die vor zwei Jahren auch personalmäßig die Medienindustrie überholte) müssen als Teil der neoliberalen Offensive begriffen werden. An deren Ende steht ein beinahe unbefragbares herrschendes Paradigma.
Von einer Sekte zur kulturellen Hegemonie
Naturgemäß geht es um einen Wettbewerb um die Gemüter. Viele Denkerinnen, die sich mit unserer Frage auseinandersetzen, zitieren deswegen Antoni Gramsci, den italienischen Marxisten, dessen Konzept der kulturellen Hegemonie auf einen intellektuellen Wettstreit abzielt. Gramsci zufolge erringt kulturelle Hegemonie nur, wer ein politisches Konzept hat, das er durchsetzen will. Wie er dieses Konzept durchzusetzen vermag, ist die entscheidende Frage.
Der Siegeszug des sogenannten Neoliberalismus ist ein Beispiel für den verblüffenden Siegeszug einer Ideologie, deren Folgen sich zuungunsten jener auswirken, die sie oder ihre Repräsentanten wählen; in den führenden Staaten des Westens mehrheitlich seit den 1970er-Jahren. Warum? Und wie war es möglich?
Im Angesicht des massiv auf Politik und Öffentlichkeit lastenden neoliberalen Paradigmas fragt man sich eher, ob und wie eine andere Weltsicht je möglich war. Und doch dominierte diese andere Weltsicht infolge der Krise in den späten 1920er- und 1930er-Jahren. Nach 1945, daran muss man erinnern, war der Neoliberalismus nicht mehr als eine ökonomische Sekte. Selbst Institutionen wie die Weltbank und die Welthandelsorganisation waren in keynesianischem Geist gegründet worden, um den internationalen Wettbewerb zu regulieren und nicht, um einzelne Staaten an die Kandare zu nehme und den Wettbewerb zu entgrenzen.
Die zerstörerischen Erfahrungen von Krisen und Kriegen, von Totalitarismus und Nationalsozialismus ließen ein kontrolliertes internationales Miteinander als wünschenswert erscheinen. Vollbeschäftigung war das Ziel, gezähmter Kapitalismus der Weg. Dieser „embedded liberalism“ (David Harvey) mit seinen staatlich geführten Industrien, beschränkt mobilem Finanzkapital und dominanten öffentlich-rechtlichen Medien grenzte den Kapitalismus ein; diese Einschränkungen zu beseitigen war das Ziel des Neoliberalismus.
Machtabsicherung durch Entbettung der Wirtschaft
Die Krise der 1970er-Jahre brachte das keynesianische System in große Schwierigkeiten; auch die Stellung der ökonomischen Elite geriet in Gefahr. Das System des gemäßigten Kapitalismus, ob man ihn jetzt embedded, rheinisch oder sozial-marktwirtschaftlich nennen mag, hatte sich auch in Umverteilung ausgewirkt. Der Aktienbesitz des oberen einen Prozents der US-Gesellschaft war um 1970 auf ein Allzeittief seit 1913 abgestürzt; wollte die besitzende Oberschicht ihre Position nicht verlieren, musste sie handeln.
Und sie handelte. In den USA erhöhten von 1978 bis 1999 die oberen 0,1 Prozent der Einkommensbezieher ihren Anteil am nationalen Einkommen von zwei auf sechs Prozent; Ähnliches gelang anderswo, etwa in Großbritannien. Nach 1989 entstanden Oligarchien in Russland und anderen exkommunistischen Ländern. Auch andere Länder wie China, Indien, Mexiko und Schweden öffneten sich dem Neoliberalismus.
Der edle Wettstreit der Argumente grenzt zumindest im Bereich der Ökonomie an Fiktion, weil es hier um den unedlen Wettstreit der Interessen geht. So kommt es, dass kulturelle Hegemonie entweder durch schiere Machtausübung erzwungen wird, wie in Chile oder Argentinien. Oder sie wird – eine etwas subtilere Form der Machtausübung – ganz einfach erkauft.
Man nennt gern die Mont-Pèlerin-Society als Ausgangspunkt für den Triumphzug des Neoliberalismus. Aber diese Treffen dienten vor allem der intellektuellen Grundlegung, nicht der strategischen Durchsetzung. Noch war man Sekte.
Wirtschaft lernte „als politische Klasse Geld auszugeben“
Erst als der Anwalt und später von Nixon zum Bundesrichter ernannte Lewis Powell im August 1971 ein vertrauliches Memo an die amerikanische Wirtschaftskammer richtete, änderte sich das. Die amerikanische Wirtschaft müsse sich gegen jene wappnen, die sie zerstören wollen, schrieb Powell. Sie solle eine Offensive auf Universitäten, Schulen, Medien und Gerichte starten, um ein neues Wirtschaftsdenken durchzusetzen. Selten war ein Memo folgenreicher.
Die Chamber of Commerce steigerte ihre Mitgliederzahl innerhalb weniger Jahre von 60.000 auf eine Viertelmillion Firmen. Damit stieg ihre Finanzkraft. Bereits 1972 gab sie für ihre Propagandazwecke 900 Millionen Dollar im Jahr aus, „eine für jene Zeit ungeheure Summe“, wie Harvey bemerkt. Sie gründete Think-Tanks, publizierte Bücher und beeinflusste Medien, Institutionen und Debatten in einem Ausmaß, das der europäischen Öffentlichkeit lange Zeit entging. Die durch Nobelpreise scheinbar sanktionierte Autorität der neoliberalen Denker (sieben Nobelpreise für Mitglieder der Mont-Pèlerin-Society in 18 Jahren) half dabei. Diese relativiert sich allerdings, wenn man weiß, dass der Chef des Nobelpreiskomitees, der schwedische Zentralbanker Erik Lundberg, selbst Mitglied der Mont-Pèlerin- Society war.
Man kann, was geschehen war, in den Worten des Sozialtheoretikers David Harvey so beschreiben: Die Wirtschaft hatte gelernt, „als politische Klasse Geld auszugeben“. Und sie schlug so gründlich zurück, dass bald kein Grashalm mehr wuchs, der nicht neoliberal aussah. Medien beklagen sich selten über sich selbst und ihren Wandel, und schon gar nicht tun das die wohlausgestatteten Think-Tanks und PR-Agenturen. Immerhin beklagen sich Studenten in einer europäischen Initiative über die herrschende neoliberale Monokratie und mangelnden Pluralismus auf Wirtschaftsuniversitäten.
Neoliberaler Freiheitsbegriff als weiteres Erfolgselement
Der Siegeszug der neoliberalen Ideologie stützte sich auch auf die Attraktivität des Freiheitsbegriffs, den schon Hayeks Hauptwerk „Der Weg zur Knechtschaft“ polemisch beansprucht. Im Manifest der Mont-Pèlerin-Society war ausdrücklich von menschlicher Würde und individueller Freiheit die Rede. In Wahrheit schufen nicht nur die wirtschaftlichen Probleme der keynesianisch regierten Staaten, sondern auch die Emanzipationsbewegungen der 1968er Voraussetzungen für jene Missverständnisse, die zum Erfolg der neoliberalen Sektenideologie beitrugen. Der Protest der 68er richtete sich gegen staatliche Institutionen, gegen als versteinert empfundene öffentliche Einrichtungen, gegen muffige kulturelle Konventionen. Ihre Rebellion wollte aus ganz anderen Motiven Strukturen wegfegen, die auch den Neoliberalen im Weg standen. So ergaben sich merkwürdige Allianzen; während die emanzipatorischen Impulse der 1968 kulturell verpufften, konnten wirtschaftliche Interessengruppen diese antistaatlichen Impulse für sich nutzen.
Die klassischen „protektiven“ Arbeitnehmer-Schutzorganisationen wie Gewerkschaften wurden immer unattraktiver und sahen immer unfreier aus, geradezu wie Exponenten der „Knechtschaft“. Der befreite Markt hingegen glänzte mit dem Versprechen postmoderner Konsumentenfreuden umso attraktiver. Wie diese endeten, nämlich im Debakel diverser platzender Spekulationsblasen, steht auf einem anderen Kontoblatt.
Die neoliberale Bedrohung ist noch nicht gebannt
Karl Polanyi, der große Wiener Wirtschaftsanalytiker, beschrieb die Umwandlung der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in eine industrialisierte Marktgesellschaft, die alles zur Ware macht. Er schilderte deren Konsequenzen noch mit ungläubigem Unterton: „Die Schlussfolgerung ist zwar unheimlich, aber für die völlige Klarstellung unvermeidlich: Die von solchen Einrichtungen (jenen des Marktes, Anm.) verursachten Verschiebungen müssen zwangsläufig die zwischenmenschlichen Beziehungen zerreißen und den natürlichen Lebensraum des Menschen mit Vernichtung bedrohen.“
Polanyi war 1943 noch der Ansicht, die Zeiten seien vorbei, da sich die Gesellschaft die Kontrolle über die Wirtschaft je wieder entreißen lassen würde. Er erlebte das Regime von Margaret Thatcher nicht mehr, die kaltschnäuzig die Summe aus der Ideologie der an die Macht gebrachten Sekte zog und deklarierte: „There is no such thing as society.“ Es gab, ebenfalls ihre Worte, keine Alternative. Dagegen gab es zwar viele Argumente, aber sie vermochten die Mehrheit nicht zu überzeugen. Die machtvollen Überredungskünstler behielten bis heute die Oberhand. Wie lange noch?
Dies ist die gekürzte Version eines Beitrages, der gemeinsam mit dutzenden anderen in der 64 Seiten starken Sonderbeilage “die Krise verstehen” des Falter erscheint (in Kooperation mit der AK Wien). Die Beilage ist Teil der Reihe “Ökonomie – Eine eine kritische Handreichung”.