Bereits im April jährte sich der Tod des gebürtigen Wieners und großen Denkers Karl Polanyi zum 50. Mal. Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise taucht sein Name wieder öfter auf. Zum einen weil die letzte große Krise einen Schwerpunkt seiner Arbeiten bildete, zum anderen weil seine allgemeine Betrachtung von menschlichen Vorstellungen, Wirtschaft und Gesellschaft bzw. die politische Konstituierung von Märkten nach wie vor aktuell ist. Wie zu Polanyis Zeiten kommt es heute darauf an, die Absurdität der Marktutopie deutlich zu machen und mit der sozialen Wirklichkeit zu konfrontieren. Nicht Märkte, sondern Freiheit und Demokratie sind Ziele, die es zu verteidigen gilt.
Karl Polanyi, 1886 in Wien geboren und in Budapest aufgewachsen, kehrt nach dem Ersten Weltkrieg in seine Geburtsstadt zurück. Hier verbringt er die entscheidende Phase seines Lebens. Und hier verfasst er den größten Teil seiner Schriften, die vor einigen Jahren in drei Bänden gesammelt veröffentlicht wurden.
Geprägt vom Roten Wien, der Krise und den Kriegen
Aber das Wien des Jahres 1919 ist nicht mehr das Wien der Vorkriegstage. Aus der Hauptstadt der Donaumonarchie ist das ‚Rote Wien‘ geworden. Polanyi ist Sozialist, auch wenn er die Idee der zentralwirtschaftlichen Planung ablehnt und dem Bolschewismus kritisch gegenübersteht. Er vertritt gildensozialistische Ideen (ähnlich wie George D. H. Cole in England). Er mischt sich aktiv in die Diskussionen ein, an denen sich auch Otto Bauer, Max Adler, Rudolf Hilferding, Karl Renner und andere Protagonisten des Austromarximus beteiligen. Am bekanntesten sind seine Beiträge zur Debatte über die sozialistische Rechnungslegung (gegen Ludwig Mises). Gleichzeitig arbeitet er als Redakteur für den ‚Österreichischen Volkswirt‘. Im Jahr 1933 zur Emigration gezwungen, lebt er das folgende Jahrzehnt in England, später in Nordamerika, wo er während des Zweiten Weltkriegs sein bekanntestes Werk ‚The Great Transformation‘ verfasst.
Karl Polanyi betätigt sich als Sozialwissenschaftler, Ökonom, Journalist, Historiker und Anthropologe. Kategorien wie ‚Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft‘ oder ‚Doppelbewegung‘ gehören längst zum Standardkanon des sozialwissenschaftlichen Diskurses. Die Aktualität von Polanyis Arbeiten aber resultiert aus seinem Ansatz oder – wenn wir diesen Begriff in einem substantiellen Sinn verstehen – seiner Methode. Von der Möglichkeit des gesellschaftlichen Wandels in Richtung einer menschlicheren, sozialistischen Gesellschaft überzeugt, versucht Polanyi die Ursachen und die historische Bedeutung der beiden Weltkriege, der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs des Faschismus herauszuarbeiten.
Märkte und Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft
Was zeichnet seinen Ansatz aus? Polanyi macht deutlich, dass die bürgerliche Epoche eine in der menschlichen Geschichte ganz und gar außergewöhnliche historische Periode darstellt, in der das Marktsystem und somit ‚die Wirtschaft‘ der Gesellschaft insgesamt ihren Stempel aufdrückt. Polanyi schlussfolgert, dass die Desaster des 20. Jahrhunderts in ihrem Kern nicht als ökonomische, sondern als Krise der modernen Zivilisation in ihrer Gesamtheit verstanden werden müssen. Das Verhältnis von menschlichen Vorstellungen, Wirtschaft und Gesellschaft rückt ins Zentrum der Betrachtung. Letztendlich sind es die Menschen, die, wie Marx formuliert hatte, ‚ihre eigene Geschichte machen‘, wenn auch nicht aus freien Stücken.
Das bedeutet nicht, in eine ökonomisch-deterministische Interpretation zurückzufallen. Polanyi ist davon überzeugt, dass die Klassenlage und Interessen relevant, aber nicht entscheidend sind. Die Basis-Überbau-These greift zu kurz. Was die Zivilisation des 19. Jahrhundert in Europa und Amerika charakterisiert, ist der Glaube an die Utopie eines sich selbst regulierenden Marktsystems. Auch wenn die Marktutopie eine „Absurdität“ darstellt, die sich auf eine bizarre Vorstellung über die Natur der menschlichen Beziehungen stützt und die „über längere Zeiträume nicht bestehen (konnte), ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten“, so ist der Glaube real.
Das ist Polanyis zentrale Erkenntnis. Die im 19. Jahrhundert herrschenden wirtschaftsliberalen Kräfte versuchen tatsächlich, das Unmögliche möglich zu machen. Gesellschaftspolitische Ideen haben Konsequenzen, auch wenn sie einseitig überhöht, fiktiv und utopisch sind, weil sie das politische Handeln und damit die Richtung der institutionellen Transformation bestimmen.
Die transformatorische Kraft der Marktutopie
In ‚The Great Transformation‘ untersucht er genau dies: die faktische Macht des liberalen Credos, d.h. des Glaubens an die segensreiche Wirkung eines seelenlosen Mechanismus. Anhand der Entwicklung in England arbeitet er heraus, wie die Marktutopie die Politik veranlasst, Arbeit, Geld und Natur (die nicht für den Verkauf produziert werden und daher an sich keine Waren sind) tatsächlich in Waren zu verwandeln und entsprechende Märkte künstlich zu etablieren. Er zeichnet die verheerenden Konsequenzen nach, die die glaubensbasierte Politik für die Mehrzahl der Menschen hat. Die Ausbeutung wird sichtbar als Aspekt einer viel umfassenderen Kommodifizierung des Lebens und der Natur. Polanyi analysiert die Bedrohungen von Demokratie und Freiheit, die aus dem Festhalten an der Warenfiktion resultieren, die Gegenbewegungen, die die Realität der Gesellschaft gegen die Umsetzung der Marktutopie zu verteidigen suchen, sowie die fatale Entwicklung in Richtung Weltwirtschaftskrise und Faschismus.
Die Tatsache, dass Polanyis Arbeiten heute so aktuell sind, resultiert nicht zuletzt aus der Bedeutung, die marktfundamentalistische Ideen erneut gewonnen haben. Wenn Paul Krugman heute vom „seltsamen Triumph gescheiterter Ideen“ oder Colin Crouch vom „befremdlichen Überleben des Neoliberalismus“ sprechen, so verweisen beide auf die praktische Macht, die die Marktutopie in den vergangenen Jahrzehnten wiedererlangt hat. Die Erfahrung allein kann den neoliberalen Glauben nicht widerlegen.
Entscheidend sind nicht die Tatsachen als solche, sondern die Interpretation der Ereignisse. Wie zu Polanyis Zeiten kommt es heute darauf an, den utopischen Charakter der neoliberalen Politik deutlich zu machen und diese mit der sozialen Wirklichkeit zu konfrontieren. Mehr denn je sind kritische Beiträge gefordert, die die Irrtümer aufzeigen, die der Gleichsetzung von Markt und Freiheit unterliegen. Nicht Märkte, sondern Freiheit und Demokratie sind Ziele, die es zu verteidigen gilt, wenn die Errungenschaften der modernen Zivilisation bewahrt und erweitert werden sollen.
Dieser Beitrag erscheint in gekürzter Form in der am Mittwoch erscheinenden Ökonomie-Sonderbeilage zum Falter.