Die österreichische Sozialversicherung ist bislang ein solidarisches System. Sie bietet soziale Sicherheit unabhängig vom Einkommen und Gesundheitszustand der Menschen. Nichtsdestotrotz gibt es aber Bedarf, die Gerechtigkeit und Fairness der Mittelverteilung zu verbessern. Die angeblich „größte Strukturreform“ durch das Sozialversicherungs-Organisationsgesetz (SV-OG) sieht Trägerzusammenlegungen und eine Verschiebung des Einflusses zugunsten der WirtschaftsvertreterInnen vor. Begleitet wurde das Ganze mit Zahlenspielen („Patientenmilliarde“), die bislang niemand nachvollziehen konnte und die seitens der Regierung auch nicht begründet werden konnten. Die Änderungen durch diese „Sozialversicherungsreform“ beheben aber keinen der wesentlichen Punkte im System, bei denen ExpertInnen Reformbedarf geäußert haben. Weder werden die Leistungen harmonisiert noch werden die Finanzmittel gerechter und bedarfsbezogen zugeteilt.
Die Sozialversicherung vereinbart den Schutz einer Versicherung mit sozialem Ausgleich. In der Sozialversicherung bezahlt man Beiträge nicht nach dem individuellen Risiko (Gesundheitszustand, Lebenserwartung, Arbeitslosigkeitsrisiko, Unfallwahrscheinlichkeit), sondern nach der Einkommenshöhe. Das Prinzip ist die Basis des Sozialstaats in der Krankenversicherung: Jede/r trägt gemäß dem Einkommen, also der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, bei, und bekommt entsprechend dem Bedarf. Dadurch, dass die Krankenkassen eine Mischung aus GutverdienerInnen und GeringverdienerInnen, Gesunden und Kranken, Jungen und Älteren versichern, wird der notwendige Risikoausgleich erzielt. Aber nichtsdestotrotz haben nicht alle Krankenversicherungsträger dieselben Ausgangsbedingungen. Das spiegelt sich in erheblichen Unterschieden in den Budgets wider, die pro Kopf zur Verfügung stehen. Krankenversicherungsträger, die viele GutverdienerInnen und wenige Arbeitslose und PensionstInnen versichern, haben eine bessere finanzielle Situation als solche, die mit geringeren Einnahmen viele Menschen versorgen müssen, die einen höheren Bedarf haben.
Nahezu alle Länder, die mehrere Krankenversicherungsträger haben, berücksichtigen bei der Mittelzuteilung die Versichertenstrukturen und sorgen damit für mehr Fairness. Hier gibt es im österreichischen System erheblichen Reformbedarf und genau in diesem Punkt wird die Situation durch die Sozialversicherungsreform nicht verbessert, sondern verschlechtert. Alle Studien zum Thema weisen darauf hin, dass es im österreichischen System an einer fairen Mittelverteilung zwischen verschiedenen Krankenversicherungsträgern fehlt.
ExpertInnen empfehlen Risikostrukturausgleich
So hat die Studie zu Effizienzpotenzialen im Sozialversicherungs- und Gesundheitssystem, die 2017 von der London School of Economics erstellt wurde, ergeben, dass es eine Leistungsharmonisierung und einen finanziellen Ausgleich zwischen „reichen“ und ärmeren Kassen geben muss: „Eine weitere Herausforderung im derzeitigen System ist die Ungerechtigkeit aufgrund des unzureichenden Risikostrukturausgleichs zwischen den Krankenversicherungsträgern. Das hat zur Folge, dass die Krankenversicherungsträger ihren Versicherten trotz überwiegend einheitlicher Beitragssätze nicht dieselben Leistungen anbieten können.“ „Maßnahmen zur Sicherstellung eines Risikoausgleichs zwischen den Krankenversicherungsträgern sorgen für mehr Effizienz und Gerechtigkeit. In europäischen Sozialversicherungssystemen werden zu diesem Zweck unterschiedlichste Mechanismen eingesetzt. Österreich unterscheidet sich in zwei Bereichen deutlich von allen anderen Ländern. Zum einen ist der Ausgleichsfonds das wichtigste System für den Risikostrukturausgleich im Sozialversicherungssystem, doch es sind nur die Gebietskrankenkassen daran beteiligt. Zum anderen werden lediglich 1,64 % der Beitragseinnahmen der Gebietskrankenkassen in den Fonds eingezahlt. Demgegenüber liegt dieser Wert etwa in Deutschland, der Schweiz oder in den Niederlanden zwischen 50-100 %.“
Das hat auch eine Studie des IHS 2017 („Zukunft der Sozialen Krankenversicherung. Entwicklungsmöglichkeiten für Österreich“) konstatiert: „Die einzelnen Krankenversicherungsträger haben eine deutlich unterschiedliche Risikostruktur, fassen somit eben nicht unterschiedliche Risiken zusammen.“ „Dies wirkt sich günstig auf diese Träger aus, da i.d.R. die Krankheitslast bei Arbeitslosen, Asylwerbern und Asylwerberinnen sowie Beziehern und Bezieherinnen von Mindestsicherung eine höhere ist“ (IHS 2017, S. 42). „Zusammenfassend besteht die Problematik in Österreich darin, dass trotz des Anspruchs, ein solidarisches Sozialversicherungssystem zu haben, dieses Prinzip in vielerlei Weise durchbrochen wird. (…) Ein umfassender Risikostrukturausgleich ex-ante würde nahezu alle zuvor besprochenen Unzulänglichkeiten beheben. Das Mittelpooling erfolgt über alle Risikoträger und Einkommensbereiche hinweg. Die Zuweisung an die Krankenversicherungsträger richtet sich hingegen nach dem Bedarf der Versichertenpopulation, womit die entsprechenden WHO-Ziele erfüllt werden. Ein Risikostrukturausgleich bringt weiters verwaltungstechnisch Einsparungsmöglichkeiten.“
Was ist derzeit das Problem?
Strukturelle Vorteile und Benachteiligungen setzen an der Einnahmen- und der Ausgabenseite der Krankenversicherung an. Während Gebietskrankenkassen neben Vollzeitbeschäftigten und PensionistInnen auch viele Arbeitslose, prekär Beschäftigte und GeringverdienerInnen versichern, sind der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA) und den Betriebskrankenkassen vor allem stabil Beschäftigte und PensionistInnen versichert. Dadurch steht bei diesen Trägern oft pro Kopf ein höheres Budget zur Verfügung und daher kann ein besseres Leistungsniveau finanziert werden und es gibt etwa in der BVA auch mehr Vertragsärzte/Vertragsärztinnen als alle Gebietskrankenkassen zusammen haben. Das äußert sich in besseren Leistungen und kürzeren Wartezeiten. Auch wenn man dafür korrigiert, dass manche Träger wie die BVA allgemeine Selbstbehalte einheben, ist das Pro-Kopf-Budget der BVA weitaus höher als das einer Gebietskrankenkasse.
Bessere Leistungen wegen der Selbstbehalte?
Die BVA hatte 2017 2.071 Euro an Beitragseinnahmen pro Kopf, eine Gebietskrankenkasse im Schnitt hingegen nur 1.592 Euro (siehe Grafik 1). Damit liegen die Pro-Kopf-Einnahmen in der BVA um 30 % höher! Auch wenn man die Selbstbehalte berücksichtigt, die die BVA einhebt, bleibt die viel bessere Finanzlage der BVA durch ihre spezifische Versichertenstruktur determiniert. Die Pro-Kopf-Einnahmen an Selbstbehalten in der BVA sind um 50,66 Euro höher als in den Gebietskrankenkassen, die Gesamteinnahmen je Versicherter/Versicherten sind hingegen um 479 Euro höher (siehe Grafik 1). Die Selbstbehalte erklären damit nur einen sehr kleinen Teil des Unterschieds in den Finanzzahlen. Die Einnahmen aus Kostenbeteiligungen pro Kopf lagen 2017 in den Gebietskrankenkassen (GKK) bei 60,37 Euro, in der BVA bei 111,03 Euro. Die BVA hat wegen ihrer hohen Rücklagen die Selbstbehalte reduziert. Mit 1.4.2016 sind diese von 20 % auf 10 % gesenkt worden. Zu beachten ist außerdem, dass die BVA Leistungen anbietet, die die Krankenkassen nicht in derselben Höhe anbieten und daher von den Versicherten selbst zu bezahlen sind. Die BVA zahlt ihren Versicherten beispielsweise deutlich mehr bei Zahnimplantaten, bei Psychotherapie, bei festsitzenden Zahnspangen. Diese wichtigen Leistungen sollten trägerübergreifend allen Sozialversicherten angeboten werden. Eine Reform im System sollte daher zu mehr Fairness und besseren Leistungen führen. Das aber wird durch die Kassenzusammenlegungen nicht erreicht. Die Zusammensetzung der Versicherten der verbleibenden Kassen bleibt unterschiedlich und einen Ausgleich wird es nicht geben. Hinzu kommt, dass dem Sozialversicherungssystem Einnahmen in beträchtlicher Höhe entzogen werden.