Kassenzentralisierung: Innovation und Regionalität stehen auf dem Spiel

02. November 2018

Alle Maßnahmen dienen nur dem Wohle der Versicherten. Zu diesem gebetsmühlenartig wiederholten Mantra der Bundesregierung hinsichtlich der bevorstehenden Reform oder der – nennen wir es gleich beim Namen – Zentralisierung der Sozialversicherung kann man nur sagen: Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit. Allen Einwänden zum Trotz wird eigensinnig an Plänen festgehalten, die vom Bundesrechnungshof und unabhängigen GesundheitsexpertInnen abwärts sachlich und faktenbasiert geradezu zerrissen werden.

Eine Reform muss immer daran gemessen werden, welchen Mehrwert sie für die Betroffenen hat. Wo dieser nun genau liegt, weiß die Regierung offenbar selbst nicht so recht. So ist zum Beispiel von der berühmten Funktionärsmilliarde, die den Versicherten zugutekommen soll, bei genauerer Betrachtung ebenso wenig geblieben wie von diversen Einsparungsberechnungen, die mit Ausnahme der Bundesregierung niemand nachvollziehen kann.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wir sind nicht grundsätzlich gegen Reformen. Wir sind aber gegen die mutwillige Zerschlagung einer gut funktionierenden Gesundheitsversorgung, deren Basis Regionalität, Eigenverantwortung und Innovationskraft ist.

Regional heißt auch nahe bei den Versicherten

Wer sonst als die Versicherten bzw. ihre VertreterInnen, die tagtäglich mit der Lebenssituation in den Bundesländern, Talschaften und Regionen konfrontiert sind, soll besser wissen, welche Maßnahmen zur Schaffung und zum Erhalt einer zukunftsfähigen und leistbaren Gesundheitsversorgung notwendig sind? Mit Sicherheit kein Verwaltungsgremium in Wien, dem nicht einmal ein/e einzige/r VertreterIn aus den Bundesländern angehört. Eine optimale Organisation setzt voraus, dass Probleme im Detail bekannt sind, um flexible, der Region angepasste Lösungen zu finden. Das wird niemand ernsthaft bestreiten. In Richtung Brüssel fordert die Bundesregierung zwar gerne Subsidiarität ein. Im Inland, vor allem in einem so sensiblen Bereich wie der Gesundheitsversorgung, gilt das Prinzip jedoch offenbar nicht.

Abgesehen von mittel- bis langfristig absehbaren Versorgungsmängeln zeigen Berechnungen des deutschen Rechnungshofes, dass Kassenfusionen nicht zwingend große Einsparungen in der Verwaltung bringen. In unserem Nachbarland stiegen im Gegenteil diese Kosten in den meisten Fällen bis zu einem Fünftel über die früheren Werte. Mit 5,3 Prozent liegen sie Deutschland mehr als doppelt so hoch wie bei den Sozialversicherungsträgern in Österreich.

Zentralisierungsverluste

Eine Gleichschaltung bzw. Zentralisierung der Sozialversicherung hat massive Auswirkungen auf die Innovationskraft in den Ländern. Die Schaffung auf das jeweilige Bundesland zugeschnittener Schwerpunkte ist nicht mehr möglich. Ich denke dabei an die gelungene bessere Versorgung dezentraler Räume mit FachärztInnen, das Vorarlberger Modell der Darmkrebsvorsorge, das Raucherentwöhnungsprogramm in Kooperation mit dem Krankenhaus Maria Ebene oder die verschiedenen Job-Sharing-Vereinbarungen mit Ärztinnen und Ärzten. Solche Innovationen haben einen nachweisbaren Mehrwert für die Versicherten und sie animieren andere Träger zur Übernahme und Entwicklung eigener Ideen. Gestaltungsspielräume bedeuten also für die Länder in Summe die Möglichkeit zur Versorgungsverbesserung. Sie sind Inspiration für das Gesamtsystem und führen daher zu einer tatsächlichen Weiterentwicklung der Leistungen für alle. Welche Verbesserung die Verhinderung dieses innovativen Wettbewerbs für die Versicherten darstellen soll, kann möglicherweise die Bundesregierung beantworten. Für uns ist jedenfalls keine sichtbar.

Unsere Schlussfolgerungen entspringen keinem Wunschdenken. Sie sind unter anderem belegt durch einen Beitrag in der Zeitschrift „RPG, Recht und Politik im Gesundheitswesen“. Helmut Platzer (ehem. Vorstandsvorsitzender der AOK Bayern – Die Gesundheitskasse) beschäftigt sich darin mit der Krankenkassenstrukturreform in Österreich vor dem Erfahrungshintergrund der Entwicklung in Deutschland. Er schreibt unter anderem, dass Wettbewerb für jedes Wirtschaften das optimale Prinzip ist. Also auch für sogenannte atypisch konkurrierende Körperschaften wie die Sozialversicherung eine ist. Die leistungsfördernde Wirkung eines Aneinander-Messens von regionalen Trägern nach ihrem Geschäftserfolg sei offenkundig, auch wenn es sich nur um einen virtuellen Wettbewerb handle.

Erforderliche Instrumente dafür seien Handlungsfreiheit, Leistungsprinzip, Markttransparenz und die Adaption an spezifische Bedingungen. In Summe also nichts anderes als das, was wir von der Bundesregierung für das tatsächliche Wohl der Versicherten fordern. Dass das Rezept wirkt, haben die einzelnen Träger der Sozialversicherung bisher bereits mehrfach mit ihrer Innovationskraft und ihrer Ideenvielfalt unter Beweis gestellt.

Fazit

Platzer empfiehlt der Bundesregierung in seinem Artikel vor dem Hintergrund der zweifelhaften Synergieerwartungen und der absehbaren Gefährdung der Versorgungsqualität, die Reformen nochmals zu überdenken. Wenn die Regierung schon auf die Meinung der ExpertInnen im Inland wenig bis keinen Wert legt, vielleicht hilft der Blick über den Tellerrand, sprich nach Deutschland, um ein Umdenken einzuleiten. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.