Gesundheit nur für Vermögende? Gesundheitssysteme im Mittelpunkt sozialen Protests

27. Januar 2020

Am 1. Jänner 2020 ist das türkis-blaue Sozialversicherungs-Organisationsgesetz in Kraft getreten – und mit ihm das Ende der Selbstverwaltung der Krankenkassen durch die versicherten Beschäftigten. Auch in anderen Ländern stehen Gesundheitssysteme im Zentrum politischer Auseinandersetzungen und sozialer Proteste. Wer welche Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen kann und welche Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen bestehen – darum wird derzeit etwa in Russland, aber auch in anderen Ländern gerungen.

Ein Erbe von Türkis-Blau: Eingriff in dieSelbstverwaltung der Arbeitnehmer*innen

Im Dezember 2018 beschloss die türkis-blaue Koalition die von ihr angestrebte Reform der Sozialversicherungen. Neben der Zentralisierung der Gebietskrankenkassen, die ab 2020 in der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) aufgehen, hat die Reform vor allem Auswirkungen darauf, wer in den Kassen künftig das Sagen haben wird: Während die Spitzengremien der Gebietskrankenkassen bisher mehrheitlich von Vertreter*innen der versicherten Beschäftigten besetzt waren, entfällt im Verwaltungsrat der ÖGK nun die Hälfte der Sitze auf Vertreter*innen der Arbeitgeber*innen.

Österreichist bei Weitem nicht das einzige Land, in dem über das öffentlicheGesundheitssystem in der politischen und gesellschaftlichen Debatte gegenwärtighöchst kontrovers diskutiert wird. Wer hat Zugang zu welchen Leistungen deröffentlichen Gesundheitsversorgung? Und welche Arbeitsbedingungen haben dieBeschäftigten im Gesundheitswesen? In Russland, aber auch in anderen Ländern wirdderzeit intensiv um diese Fragen gerungen – mitunter auch im Rahmen vonStreiks.

Systemversagen

Das russische Gesundheitssystem wird gemeinsam von den 86 Regionen und der Föderation getragen und finanziert. Um den in den letzten Jahren immer weiter gestiegenen Subventionsbedarf unter Kontrolle zu bringen, wurde 2010 eine Modernisierung des Systems mit dem Ziel der „Ausgabenoptimierung“ beschlossen. Was nach Effizienzsteigerung klingen sollte, kam einer gnadenlosen Kürzung der ohnehin schon unzureichenden Mittel gleich. Zur Durchsetzung folgte ein präsidialer Erlass, der die medizinische Unterversorgung zusätzlich verschärfte.

DieFolgen sind dramatisch: Patient*innen bringen ihre Medikamente, Spritzen undKanülen für die Behandlung im Krankenhaus selbst mit. Auf dem Land beträgt derWeg zur Hausärztin oft 200 Kilometer, zum Facharzt 400 Kilometer. In manchenRegionen hat ein Arzt bzw. eine Ärztin 50.000 Kinder zu versorgen, dieWartezeit auf einen Facharzttermin beträgt im staatlichen Gesundheitssystemmehrere Wochen bis mehrere Jahre. Anders bei einem Termin mit Privatzahlung:Ähnlich wie in Deutschland verkürzt sich hier die Wartezeit deutlich; Palliativmedizinwird überhaupt nur privat angeboten.

Inentlegenen Regionen wie Nowosibirsk ist die Zahl der Ärzt*innen um 58 Prozentzurückgegangen, aber auch in Moskau und Sankt Petersburg beträgt der Rückgang10 Prozent. Die Notfallversorgung ist nicht mehr gewährleistet, in 43 der 86russischen Regionen sind die Notfall-Krankenwagen mit nur einer Person besetzt,die die anfallenden Notbehandlungen allein gar nicht leisten kann. Zwischen2011 und 2016 wurden 50 Prozent der Krankenhäuser geschlossen, die Zahl derÄrztezentren fiel um 13 Prozent. 33 Prozent der ländlichen Ortschaften habenkeinen direkten Zugang zu medizinischer Versorgung, viele Ärzt*innen wurdenarbeitslos.

Wehrhafte Ärzt*innen

Arbeitszeitenvon 83 Wochenstunden bei einer Bezahlung entsprechend der offiziellen 35-Stunden-Woche,keine Pausen, Freiheitsstrafen und Berufsverbote gegen Ärzt*innen, die auf dieunhaltbaren Zustände aufmerksam machen: Das ist der Berufsalltag im russischen Gesundheitswesen.Die Geduld der Ärzt*innen ist am Ende: Regelmäßige Kundgebungen, unangekündigteStreiks und Massenkündigungen – in den letzten zehn Monaten kündigten rund 15.000Ärzt*innen ihren Arbeitsvertrag im staatlichen Gesundheitswesen – sind seit Monatenan der Tagesordnung. Weil es so nicht weitergehen kann, schlossen sich dieBeschäftigten des Gesundheitssektors am 22. September 2019 zur neuen„Allrussischen Gewerkschaft der Gesundheitsbeschäftigten – Deistvie (Aktion)“ unterdem Dach der unabhängigen Gewerkschaft „Konföderation der Arbeit Russlands“ (KTR) zusammen.

Putin: Schuld sind immer die anderen

Die Unzufriedenheit der Bevölkerung drang zuletzt auch zu Präsident Putin vor. Seinen Ruf als Lichtgestalt relativiert dieser im Fall von Missständen gerne: „Wenn im Land etwas nicht gut läuft, dann ist es die Schuld von allen“, sagte er 2018 zum Thema Lohnungleichheit in Russland. Angesichts der aktuellen Situation in Arztpraxen und Krankenhäusern kündigte er eine Erhöhung des Gesundheitsbudgets um 22 Prozent auf 63,7 Milliarden Euro an.

Putin selbst bezeichnete das Gesundheitssystem als „unmenschlich“ und rief sein Volk auf, zusammen mit ihm „die Menschlichkeit wiederherzustellen“ – ganz im Sinne seiner „Wir-sind-alle-gleichermaßen-verantwortlich“-Rhetorik. Vielleicht erreicht er damit wieder seine legendären Beliebtheitswerte von 2014, als er selbst bei kritischen Bevölkerungsteilen mit einer Zustimmungsrate von 80 Prozent bewertet wurde (derzeit ist sie auf knappe 30 Prozent gesunken). Ob die zusätzlichen Milliarden jedoch tatsächlich Verbesserungen für die Menschen – insbesondere in den entlegenen Regionen – bringen werden, steht auf einem anderen Blatt.

Krankes Gesundheitssystem: keinEinzelfall

Gewerkschaftliche und politische Mobilisierung gegen ein ungerechtes und unterfinanziertes Gesundheitssystem lassen sich derzeit nicht nur in Russland beobachten. In Frankreich haben die Belegschaften der öffentlichen Krankenhäuser am 14. November 2019 zu einem landesweiten Streik aufgerufen. Die angeprangerten Zustände sind schon lange besorgniserregend: In den letzten Monaten mussten zahlreiche Notaufnahmestationen im ganzen Land zeitweise geschlossen bleiben – es fehlte schlicht an Ärzt*innen, um die Behandlungen sicherzustellen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da 97 Prozent der französischen Krankenhäuser Schwierigkeiten haben, vakante Stellen zu besetzen. Schlechte Löhne und die immer prekärer werdenden Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen sind die Ursache.

In den USA avanciert die Gesundheitspolitik derweil zu einem der entscheidenden Themen im demokratischen Vorwahlkampf. Vor allem die linken Bewerber*innen um die Präsidentschaftskandidatur Elizabeth Warren und Bernie Sanders rücken die öffentliche Gesundheitsversorgung in den Fokus der Debatte: Mit ihren Plänen zu „Medicare for all“ kämpfen sie dafür, alle US-Bürger*innen in eine staatlich organisierte Krankenversicherung aufzunehmen. Derzeit sind mehr als 30 Millionen Menschen in den USA nicht krankenversichert; hinzu kommt die große Zahl derer, die zwar eine private Krankenversicherung haben, aber nur unzureichend abgesichert sind.

Fazit

Die Beispiele zeigen: Ein allgemeiner, flächendeckender und leistbarer Zugang zu hochqualitativer Gesundheitsversorgung auf der Basis guter Arbeitsbedingungen für die im Gesundheitswesen Beschäftigten ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Er ist vielmehr Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Wird das Feld den Gesundheitskonzernen (von Pflegeheim- bzw. Krankenhaus-Imperien wie der MK-Kliniken AG und Vivantes bis zu den Pharmakonzernen) und digitalen Dienstleistern (wie der neuen Telemedizin-Plattform des Amazon-Konzerns „Amazon Care“) überlassen, so entsteht am Ende ein Zweiklassen- oder ein exklusives Eliten-System. Dagegen müssen Arbeitnehmervertreter*innen mit Entschlossenheit vorgehen.

Der Großteil der im Beitrag verwendeten Daten entstammt den Kongressdokumenten und Redebeiträgen auf dem Gründungskongress der „Allrussischen Gewerkschaft der Gesundheitsbeschäftigten – Deistvie (Aktion)“.

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