Vor hundert Jahren wurden die Fundamente für den modernen österreichischen Sozialstaat gelegt. Es war das Jahr 1919, als die konstituierende Nationalversammlung der jungen Republik das erste Betriebsrätegesetz und das erste Kollektivvertragsgesetz beschloss. Gleichzeitig machten die Richtungsgewerkschaften den Weg für den Beschluss des ersten Arbeiterkammergesetzes im Februar 1920 frei. Nach dem Bruch durch den Faschismus nahm die Zweite Republik dieses grundlegende Konzept des Sozialstaats wieder auf. Die Kombination aus parlamentarischer Demokratie, Wohlfahrtsstaat mit einem guten sozialen Netz und dem Recht auf eigenständige gewählte Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen in der Wirtschaft wurde zu einem Markenzeichen des modernen Österreich. 2019 wird das Demokratiekonzept Sozialstaat erstmals durch die Regierungspolitik wieder massiv infrage gestellt. Grund genug, sich dessen Entwicklung und aktuelle Bedeutung wieder bewusster zu werden.
1918: Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse sind ausgeschlossen
Voraussetzung für den Aufbau des Sozialstaats war die volle Gleichberechtigung der auf abhängige Arbeit angewiesenen Menschen als StaatsbürgerInnen. Der erste Schritt dazu erfolgte mit der Proklamation der Republik als gemeinsamer Staat „der Bürger, Bauern und Arbeiter“ im November 1918. Die Verfassung von 1920 machte es dann in ihrem Artikel 7 konkret: „Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse sind ausgeschlossen.“ Die Zweite Republik wurde ausdrücklich nicht nur mit dieser Verfassung, sondern in deren Geist gegründet. Wer dies infrage stellt, will tatsächlich eine „Dritte Republik“.
Der zweite Schritt war ebenfalls noch 1918 die Einführung eines wirklich demokratischen Wahlrechts für alle Männer und Frauen unabhängig von jeder Steuerleistung.
Der dritte Schritt erfolgte durch die Abschaffung des Arbeitsbuchs Anfang 1919: ArbeitnehmerInnen waren ab jetzt nicht mehr BürgerInnen zweiter Klasse, die unter der regelmäßigen Kontrolle durch Behörden und ArbeitgeberInnen standen.
Demokratie heißt Wahlrecht und Mitbestimmung auch im Betrieb
Die logische Konsequenz dieses auf Freiheit und Gleichheit ausgerichteten Demokratiekonzepts war das Recht auf eine nur von den ArbeitnehmerInnen gewählte und nur ihnen verpflichtete Belegschaftsvertretung. Ursprünglich sollte die Mitbestimmung noch viel weiter reichen: Als Beitrag zum friedlichen Übergang in eine gerechtere nachkapitalistische Gesellschaft wurde auch die konkrete Beteiligung am Management gesehen. So weit kam es aber nicht. Das Betriebsrätegesetz vom 15. Mai 1919 war ein Kompromiss zwischen den Gründungsparteien der Republik, also der Sozialdemokratie und dem rechts-konservativen-nationalistischen Block. Trotz des Kompromisses enthielt es mit seinen Neuerungen aber noch immer genug Sprengstoff. Eine Änderung der Arbeitsordnung bedurfte ab jetzt der Zustimmung des Betriebsrats. Er erhielt das Recht, Lohnlisten und Lohnauszahlungen zu kontrollieren, bei der Festlegung des Stücklohns mitzureden sowie Kündigungen aus politischen und gewerkschaftlichen Gründen anzufechten. Einsicht und Kontrolle über Produktion und Geschäftsgebarung sowie Einsicht in Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung standen ihm ebenfalls zu.
Industrie wettert – Basisnetzwerk für Gewerkschaft
Vor allem die Industriellenorganisationen wetterten, der Unternehmer hätte nun „endgültig aufgehört, Herr in seinem Haus zu sein“. Das Durchsetzen innerbetrieblicher Demokratie war also von Anfang an nicht einfach. Erschwerend wirkte und wirkt vor allem auch, dass die vorgesehene Verpflichtung zur Wahl von Betriebsräten nie erreicht wurde.
Den Betriebsräten wurde mit der Aufgabe, die Einhaltung der Kollektivverträge zu überwachen, eine weitere wichtige Kontrollfunktion übertragen. Damit war indirekt die enge Kooperation mit den Gewerkschaften eingefordert. Die Einbindung der Betriebsratsmitglieder in ihre Gewerkschaft und ihre Aktivität als FunktionärInnen bildete über Jahrzehnte das Basisnetzwerk, auf dem die gewerkschaftliche Organisation aufbaute. Zu Beginn der Zweiten Republik bildeten sich vielfach spontan Betriebsräte. Sie beriefen sich auf das Gesetz von 1919, weil eine neue demokratische Rechtsgrundlage fehlte. Aus ihren Delegierten setzten sich die ersten Beschlussgremien der wiedererstandenen ArbeitnehmerInnenorganisationen zusammen. Dies gilt für die Gründung der Österreichischen Gewerkschaften ebenso wie für das Zusammentreten der ersten AK-Vollversammlung.
1947 trat nach langen und schwierigen Verhandlungen ein neues Betriebsrätegesetz in Kraft. Die Belegschaftsvertretungen erhielten durch das neue Gesetz einige zusätzliche Rechte, die 1919 nicht durchzusetzen gewesen waren. Dazu gehörten etwa die Mitwirkung bei Aufnahmen, Versetzungen und Entlassungen oder Mitbestimmung bei der Führung und Verwaltung der Betriebe, und auch der Kündigungs- und Entlassungsschutz für Betriebsratsmitglieder war eine neue Errungenschaft. Mit der Integration des Betriebsrätegesetzes in das Arbeitsverfassungsgesetz erfolgte 1973 eine weitere Aufwertung der Belegschaftsvertretungen. Sie erhielten vor allem die Möglichkeit, mehr Betriebsvereinbarungen mit kollektivvertragsähnlicher Wirkung abzuschließen, was vor allem im Hinblick auf die Arbeitszeitregelungen eine besondere Schutzfunktion für die KollegInnen darstellte.
Angriffe auf BR-Rechte und Gewerkschaftsfreiheit
Als die Regierungsmehrheit im Parlament den Maximalarbeitstag von zehn auf zwölf Stunden erhöhte, schränkte sie gleichzeitig auch ein wichtiges Mandat ein: Sie schaffte die verpflichtende Zustimmung des Betriebsrats zur Arbeitszeitverlängerung ab. Das entspricht der Politik der rechtskonservativen Regierungskoalition, die den Rückbau des Sozialstaats und damit die Einschränkung demokratischer Handlungsspielräume vorantreibt.
Hier reiht sich auch die kürzlich getroffene „Karfreitagsregelung“ ein, mit der die Regierung einen zusätzlichen Staatsfeiertag für die protestantische Minderheit strich. Dieser zusätzliche Feiertag war nicht nur im Gesetz, sondern auch in einem gültigen Generalkollektivvertrag verankert, was einfach ignoriert wurde. Das bedeutet einen Eingriff in die Kollektivvertragsautonomie der Arbeitsmarktparteien.
Gegen Staatseingriff bei KV-Verhandlungen
Österreichs Gewerkschaften legten von Anfang an auf die volle Autonomie von KV-Verhandlungen großen Wert. Bis heute wehren sie sich mit Erfolg gegen staatliche Schlichtung bei Arbeitskämpfen, wie sie etwa in Deutschland bei Pattstellungen vorgeschrieben ist. Schon das erste KV-Gesetz vom Dezember 1919 verzichtete auf eine solche Regelung. Durch dieses Gesetz waren auch die Gewerkschaften, die in den Jahren der Republikgründung eine entscheidende politische Rolle spielten, in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Kollektivverträge, bisher in einer Grauzone zwischen privatem und öffentlichem Recht gelegen, wurden jetzt für die Dauer ihrer Gültigkeit bindendes Recht, wenn auch vorerst nur für die Mitglieder der abschließenden Gewerkschaften. Die österreichische Besonderheit, dass auch Nichtmitglieder unter KV-Schutz gestellt werden, ist eine Errungenschaft aus der Praxis der Zweiten Republik. Das Arbeitsverfassungsgesetz, das 1974 in Kraft trat, schuf für diese Praxis eine gesetzliche Grundlage und bestätigte auch nochmals den Vorrang der von den Gewerkschaften vereinbarten Kollektivverträge vor Betriebsvereinbarungen. Die Arbeiterkammern durften und dürfen im demokratischen Österreich nur Kollektivverträge verhandeln, wenn keine gewerkschaftlich vereinbarten existieren.
Schwächung der AK ist Angriff auf Gleichberechtigung
Die Kollektivvertragsfähigkeit der Arbeiterkammern ist in der Kollektivvertragsfähigkeit der UnternehmerInnenkammern begründet. Wie schon aus den Erläuterungen zum AK-Gesetz vom Februar 1920 hervorgeht, sollen beide Kammern so konzipiert sein, dass sie „nicht nur völlig gleichwertig, sondern auch in ihrem Wirkungskreis derart ähnlich gestaltet sind, dass ein Zusammenwirken der beiderseitigen Körperschaften bei der Lösung von wichtigen Aufgaben der wirtschaftlichen Verwaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist“.
Waren mit dem KV-Gesetz 1919 die Gewerkschaften in der Mitte der Gesellschaft angekommen, so wurden die arbeitenden Menschen des Landes mit der Errichtung der Arbeiterkammern 1929 als gleichberechtigte Akteure in der gesamtstaatlichen Politik anerkannt.