Arbeiterkammern entstanden 1920/1921 im Rahmen der Sozialoffensive der ersten österreichischen Republik als Gegenüber der Handelskammern. So deklarierte das Parlament die Anerkennung der ArbeitnehmerInnen als vollwertige BürgerInnen über das Wahlrecht hinaus. Immer wenn der demokratische Sozialstaat unter Beschuss geriet, ob durch die autoritär-faschistische Politik der Zwischenkriegszeit oder den Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts, waren die Arbeiterkammern zusammen mit den Gewerkschaften im Visier. In der Zweiten Republik setzten die GegnerInnen jedoch nicht mehr auf eine Abschaffung der demokratisch bestellten Selbstverwaltung, sondern auf ein ähnlich effektives Instrumentarium: die Abschaffung der „Pflichtmitgliedschaft“ und eine massive Kürzung der Kammerumlage – bisher ohne Erfolg.
Gleichberechtigung der ArbeitnehmerInnen im demokratischen Sozialstaat
Während der zunehmenden Angriffe auf die Institution Arbeiterkammer in den 1990er-Jahren empfahl ein Marketingberater eine Kampagne unter dem Motto „Arbeitnehmer gehören dazu“. So könne der Unterschied zwischen gesetzlicher Zugehörigkeit, der sogenannten „Pflichtmitgliedschaft“, und freiwilliger Mitgliedschaft bei den Gewerkschaften positiv herausgearbeitet werden, denn jeder Mensch gehöre eben gerne irgendwo dazu. Die Kampagne wurde nicht realisiert, aber der Berater lag mit seiner Argumentation, was die Beweggründe für die Errichtung der Arbeiterkammern betrifft, genau richtig.
Mit der einstimmigen Beschlussfassung des ersten AK-Gesetzes 1920 und der rechtlichen Gleichstellung mit den damals schon 70 Jahre bestehenden Handelskammern (den heutigen Wirtschaftskammern) 1921 deklarierte die junge Republik Österreich die Anerkennung der ArbeitnehmerInnen als gleichberechtigte StaatsbürgerInnen über das ab 1919 endlich verwirklichte demokratische Wahlrecht hinaus. So sahen es auch die Richtungsgewerkschaften (es gab sozialdemokratisch orientierte „freie“, christliche und deutschnationale), deren Forderungen den Parlamentsbeschlüssen vorangegangen waren. Anton Hueber, der (leitende) Sekretär der freigewerkschaftlichen „Reichskommission“:
„Durch die Schaffung von Arbeiterkammern ist … die Arbeiterschaft erst zu uneingeschränkter gesellschaftlicher Gleichberechtigung aufgerückt, die durch jahrzehntelange gewerkschaftliche Arbeit vorbereitet wurde.“
BürgerInnen der „ArbeitnehmerInnengemeinde“
Das Recht auf Handelskammern in Selbstverwaltung sowie das Recht auf Gemeindeselbstverwaltung waren Errungenschaften der ersten demokratischen Revolution Österreichs, der Revolution von 1848. Volle Autonomie mit dem Recht auf Mitbestimmung durch demokratisch gewählte Organe brachte in beiden Fällen aber erst die Republik, die den Handelskammern außerdem noch die Arbeiterkammern gegenüberstellte. Die Idee dahinter: Wer in einem bestimmten Gemeindegebiet wohnt, ist BürgerIn dieser selbstverwalteten politischen Gemeinde, wer als UnternehmerIn tätig ist, ist BürgerIn der „UnternehmerInnengemeinde“ Handelskammer und wer seinen Lebensunterhalt als ArbeitnehmerIn verdient, ist BürgerIn der „ArbeitnehmerInnengemeinde“ Arbeiterkammer. Diese gesetzliche Zugehörigkeit ermöglicht einerseits repräsentative Wahlen, andererseits Unabhängigkeit in der Interessenvertretung durch Eigenfinanzierung wie Gemeindesteuern und Kammerumlagen. Damit wird der demokratische Handlungsspielraum der StaatsbürgerInnen ausgeweitet. Seit 2008 ist die “nichtterritoriale Selbstverwaltung” durch Kammern und Organe der Sozialversicherung in der Verfassung ausdrücklich verankert.
Erste verteilungspolitische Konzepte
Die beiden Beschlüsse zur AK-Gründung waren zentrale Elemente der sozialpolitischen Offensive nach dem Ersten Weltkrieg, die von der untrennbaren Verbindung zwischen dem Aufbau eines Sozialstaats und der Stabilisierung der Demokratie ausging. Der Gewerkschafter Ferdinand Hanusch, Sozialstaatssekretär der Gründungsregierung der Republik und dann erster Direktor der AK in Wien, formulierte damals das „Glaubensbekenntnis“ des demokratischen Sozialstaats:
„Das große Werk kann aber nur dann glücken, wenn für alle schaffenden Bewohner des Staatswesens die Möglichkeit gegeben ist, ‚auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen‘, aber nicht bloß als politisch Freie, sondern auch als wirtschaftlich Freie.“
Bei diesen Überlegungen standen bereits verteilungspolitische Konzepte Pate, wie sie in Österreich erst wieder in der Zweiten Republik aufgegriffen wurden. Hanusch vor der AK-Vollversammlung in Wien: „Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik stehen in engstem Zusammenhang und das eine lässt sich von dem anderen in der modernen Wirtschaft überhaupt nicht trennen.“
Verdrängung des „sozialpartnerschaftlichen“ Ansatzes
Die Parallelität der beiden gesetzlichen Interessenvertretungen bedeutete auch die Anerkennung der unterschiedlichen Interessen von „Arbeit“ und „Kapital“ und des Interessenausgleichs in demokratisch kontrollierten Bahnen. Mit den Arbeiterkammern bestünden ab jetzt, so die Erläuterungen zur Regierungsvorlage des AK-Gesetzes 1920, Einrichtungen, die „nicht nur völlig gleichwertig, sondern auch in ihrem Wirkungskreis derart ähnlich gestaltet sind, dass ein Zusammenwirken der beiden Körperschaften bei der Lösung von wichtigen Aufgaben der wirtschaftlichen Verwaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist.“
Dieser „sozialpartnerschaftliche“ Ansatz wurde nach dem Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Regierung rasch obsolet, die nunmehr rein bürgerlichen Regierungen sahen keine Notwendigkeit mehr, sich in den sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleich einzubringen.
Wegfallen der Systemkonkurrenz – AK mit Sozialstaat im Schussfeld
Wie in den 1980er-Jahren spielte auch in den 1920er-Jahren das Wegfallen der Systemkonkurrenz durch sozialistisch-kommunistische Regierungen in der Nachbarschaft Österreichs eine wesentliche Rolle. Nach dem Ersten Weltkrieg galt das für die Niederschlagung der Rätebewegungen in Bayern und Ungarn, während der 1980er-Jahre für das Ende der kommunistischen Staatssysteme in Europa. In beiden Fällen war die Akzeptanz des Sozialstaats nicht mehr Voraussetzung, um das eigene System als das bessere auszuweisen.
Das gilt auch für die Anerkennung unterschiedlicher Interessen von „Arbeit“ und „Kapital“, eine von liberaler und konservativer Seite häufig geleugnete Realität, was der Verfassungsrechtler Karl Korinek in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre auf den Punkt brachte: Die Einrichtung von Kammern setze die gemeinsame Überzeugung voraus, dass es „nicht ein Volksinteresse, sondern unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft gibt, auch wenn das von bestimmten politischen Ideologien her nur schwer verständlich sein mag.“
Jenen Kräften, die während der Ersten Republik darauf abzielten, den 1918 eingeschlagenen demokratischen Weg wieder zu verlassen, waren Arbeiterkammern mit demokratischer Selbstverwaltung noch aus anderen Gründen ein Dorn im Auge:
1. Die AK-Wahlen von 1921/1922 und 1926 ergaben eine klare Mehrheit der Freien Gewerkschaften in den Vollversammlungen.
2. Die Tätigkeit der AK-ExpertInnen stärkte die Position der Gewerkschaften bei den Kollektivvertragsverhandlungen.
3. Die Vollversammlungen boten die einzige Kommunikationsplattform für die Richtungsgewerkschaften, da ja noch kein überparteilicher Gewerkschaftsbund existierte.
Dadurch kam es öfters – und auch gegen die Pläne der Regierung – zu gemeinsamen Forderungen im Interesse der ArbeitnehmerInnen.
Das „Aus“ für die demokratische AK unter diktatorisch-faschistischem Vorzeichen
Die explodierende Arbeitslosigkeit als Folge der Weltwirtschaftskrise bot die Handhabe, die AK-Wahlen immer wieder zu verschieben und dann, schon unter dem „autoritären“ Kurs, abzuschaffen. Da Arbeitslose nicht AK-zugehörig waren, wurde argumentiert, die Zahl der Wahlberechtigten sei so sehr geschrumpft, dass kein repräsentatives Ergebnis mehr zu erzielen wäre.
Nach dem Parlament (März 1933) und dem Verfassungsgerichtshof (Mai 1933) waren die Arbeiterkammern zur Jahreswende 1933/1934 die dritte Institution der ersten österreichischen Demokratie, die ihrer Funktion beraubt wurde. In der ersten Phase der diktatorisch-faschistischen Ära bis 1938 blieben sie als Geschäftsstellen des staatlich errichteten „Gewerkschaftsbunds der österreichischen Arbeiter und Angestellten“ zwar formell bestehen, aber als reine Servicestellen ohne jede autonome interessenpolitische Funktion. Unter dem NS-Regime verschwanden die Arbeiterkammern dann ganz, ihre Ressourcen gingen an die „Deutsche Arbeitsfront“.
1945 – neue Konjunktur für den demokratischen Sozialstaat, AK und Gewerkschaften
Nach der Niederlage Hitlerdeutschlands war der demokratische Sozialstaat wieder „in“. Die Westmächte der antifaschistischen Allianz, vor allem die USA, forcierten ihn als Bollwerk gegen den braunen Untergrund und die Sowjetunion betonte ebenfalls die Traditionen der Ersten Republik.
Aus einer starken Position heraus konnte der im April 1945 gegründete Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) einen Gesetzesbeschluss zur Wiedererrichtung demokratisch fundierter Arbeiterkammern schon am 20. Juli dieses Jahres erreichen. Nach diesem Provisorium brachte das AK-Gesetz von 1954 unter anderem eine klare Festlegung der Zugehörigkeit und der Aufgaben sowie eine genauere Bestimmungen zum Wahlrecht.
Dazu kam eine einheitliche gesetzliche Regelung der Höhe der Kammerumlage, während bisher die einzelnen Länderkammern selbst berechtigt waren, den Beitrag der Zugehörigen festzulegen. Damals hatte man einfach die administrative Entlastung der Kammern im Auge und niemand dachte daran, dass der Sozialstaat mit seinen Institutionen je wieder infrage gestellt werden könnte. Aber die gesetzliche Regelung der Kammerumlage sollte ab den 1980er-Jahren eine wesentliche Angriffsfläche für jene bieten, die unter neoliberalem und/oder rechtspopulistischem Vorzeichen versuchten und versuchen, die Durchsetzungskraft der Gewerkschaftsbewegung und die Funktionsfähigkeit der Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft als Instrument des Interessenausgleichs zugunsten der „Marktfreiheit“ zu schwächen.
Angriffe unter neoliberalem und populistischem Vorzeichen
Auch wenn die Existenz von Kammern in der Zweiten Republik als Bestandteil des politischen Systems Jahrzehnte unbestritten blieb, kam es schon bald nach 1945 aus verschiedenen Motiven und Positionen zu Angriffen gegen die gesetzlichen Interessenvertretungen. Auf der einen Seite lautete die Kritik, die Sozialpartnerschaft mit ihren Kammern würde freie demokratische Entscheidungen einengen, andererseits führten bereits 1955 Vertreter des rechten Lagers aus wirtschaftsliberaler Sicht Attacken gegen die „Diktatur der Kammern“. 1973, am Höhepunkt sozialstaatlicher Politik, prangerte das freiheitliche „Manifest zur Gesellschaftspolitik“ die „Entartung“ zum „Kammerstaat“ an. Ab den 1980er-Jahren erfolgten dann die FPÖ-Angriffe unter populistischem Vorzeichen und erhielten eine neue politische Dimension. Allerdings beteiligten sich manchmal auch andere Parteien und nach wie vor Opinionleader an den Attacken.
Die erste nennenswerte Angriffswelle, deren Intensivphase 1987 einsetzte, galt jedoch vordergründig nicht der AK allein, sondern der als „Zwangsmitgliedschaft“ diffamierten gesetzlichen Zugehörigkeit zu allen Kammern. Mit der Kritik an tatsächlich unhaltbaren Gehalts- und Pensionsregelungen für einige AK-Spitzenfunktionäre in ein paar Bundesländern wurde versucht, negative Stimmung zu machen. Dieser Versuch blieb aber erfolglos – aus drei Gründen:
1. Alle Kammern waren betroffen – und wehrten sich gemeinsam.
2. Verfassungsrechtliche Gutachten stellten klar, dass die Abschaffung der „Pflichtmitgliedschaft“ in Wirklichkeit die Abschaffung der Kammern als autonome Interessenvertretungen bedeute. Dazu der schon erwähnte Karl Korinek: „Beseitigt man die Pflichtmitgliedschaft, so verzichtet man auf die Selbstverwaltungskonstruktion als solche.“
3. Die Ergebnisse der Mitgliederbefragungen 1996 belegten mit einer Zustimmung von 90 Prozent bei hoher Beteiligung eine sehr große Akzeptanz aller Kammern.
Damit war die Debatte über die gesetzliche Zugehörigkeit vorerst vom Tisch. Stattdessen folgten wenig später Vorschläge zur Reduktion der Arbeiterkammerumlage in Parteiprogrammen und Regierungsvorlagen.
Es geht wieder um den Sozialstaat und seine Institutionen
Mit der Reduktion der AK-Umlage, so hofft man wohl, kann der Effekt erzielt werden, den nach 1930 das Abschaffen der autonomen Selbstverwaltung hatte: die Einschränkung des nur den ArbeitnehmerInneninteressen verpflichteten politischen Handlungsspielraums der AK und ihrer Funktion als „Thinktank“ der Gewerkschaftsorganisation beziehungsweise mit dieser gemeinsam der Unterstützung der BetriebsrätInnen. Ausreichende Kapazitäten wären dann nicht mehr vorhanden, um wie nach dem Jahr 2000 wesentlich an der Verhinderung von Plänen mitzuwirken, in Österreich ähnlich wie in Deutschland Pensionskürzungen (siehe WSI-Vergleich oder kabarettistisch zugespitztes Video) oder Sozialabbauprojekte wie Hartz IV durchzuführen.
Wenn auch Arbeiterkammern mit freiwilliger Mitgliedschaft ins Spiel gebracht werden, so gilt der Angriff nicht nur der Schwächung der Interessenvertretung von ArbeitnehmerInnen wie insbesondere die Durchsetzung des Arbeitsrechts; es wird damit auch – bewusst oder unbewusst – entweder ein staatlich kontrolliertes Konkurrenzunternehmen zum ÖGB gefordert oder eine aus welchen öffentlichen Mitteln auch immer finanzierte Servicestelle. Eine Kammer für ArbeitnehmerInnen nach österreichischer Rechtsauffassung würde damit nicht mehr existieren. Die Folge wäre, prognostizierte der Ökonom Gunther Tichy, „eine Unzahl von kleinen Interessengruppen, die mit einer Unzahl von Petitionen und Lobbyisten das Parlament vor schwer zu lösende Koordinationsprobleme stellen würde und überdies die Interessen der zahlungskräftigeren Gruppen noch stärker dominieren ließe.“