12 Thesen zur Finanzmarktregulierung

14. November 2018

Die Bedeutung des Finanzsektors in der Weltwirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen und hat erhebliche Ressourcen und Aufmerksamkeit von anderen Bereichen der Wirtschaft abgezogen. Auch die Auswirkungen der großen Finanzkrise 2008 waren – und sind nach wie vor – enorm, etwa punkto Arbeitslosigkeit, Einkommen und öffentliche Finanzen. Selbst wenn sich seither einiges getan hat, so bleibt im Sinne einer wohlstandsorientierten Finanzmarktregulierung noch viel zu tun, insbesondere auf europäischer Ebene.

Zunächst ist festzuhalten, dass sich einige der Hypothesen zum Wesen der Finanzmärkte in der Realität als falsch erwiesen haben:

  • Der potenziell negative Einfluss der Finanzmärkte auf die Realwirtschaft wurde massiv unterschätzt bzw. vernachlässigt.
  • Die Selbstregulierung und Selbststabilisierung von Finanzmärkten wurde maßlos überschätzt, Marktversagen unterschätzt.
  • Die von Finanzmärkten ausgehenden Krisen sind diejenigen Wirtschaftskrisen, die die größten Auswirkungen haben und sich weltweit am stärksten verbreiten. Unregulierte Finanzmärkte tragen nicht zur Stabilisierung der Realwirtschaft bei. Es kommt auf Finanzmärkten oft zu schädlichem Herdenverhalten. Unregulierte Finanzmärkte neigen zur Krisenverstärkung: In guten Zeiten befeuern sie übermäßiges (Kredit-)Wachstum und in schlechten Zeiten beschleunigen sie die Abwärtsspirale.
  • Risiko auf Finanzmärkten ist oft intransparent. Die Komplexität und Undurchsichtigkeit von vielen Finanzinstrumenten ist oft unnötig und dient nicht der besseren Risikostreuung, sondern der Verschleierung. Die tatsächlichen Risiken werden dadurch leicht unterschätzt – mit schwerwiegenden Folgen.
  • Wenn Banken zu groß werden, ist es der öffentlichen Hand budgetär nicht mehr möglich, sie zu retten: „Too big to fail“ kann somit auch zu „too big to bail/too big to rescue“ werden.

Ein neuer Konsens?

Durch die Finanzkrise hat sich langsam ein neuer Konsens entwickelt, basierend auf folgenden Eckpunkten:

  • starke Finanzmarktregulierung ist notwendig: Der Staat muss eine wichtige Rolle im Finanzsektor spielen, Staatsinterventionen gegen Marktversagen sind notwendig und heute auch akzeptiert.
  • Kredite sind wichtig, aber exzessives Kreditwachstum ist gefährlich: So führt ein exzessiver Anstieg von Privatkrediten zu Blasen und Gefahren auf Finanzmärkten, die schwere Krisen und infolge einen starken Anstieg der Staatsverschuldung auslösen können.

Bedeutung von Budget- und Fiskalpolitik

Finanzmarkt und Realwirtschaft müssen wirtschaftspolitisch gemeinsam betrachtet werden, denn nur ein gutes Zusammenspiel von Finanzmarktpolitik und Budgetpolitik erlauben eine effektive Gesamtsteuerung: Die Folgen der Weltwirtschaftskrise nach der Finanzkrise wurden in der EU durch eine restriktive Fiskalpolitik – das „berühmte (Kaputt-)Sparen“ – noch weiter verstärkt, während in den USA die Obama-Administration auf expansive Fiskalprogramme setzte und daher die Krise in den USA schneller bewältigt wurde.

Auch hier setzt sich nun ein neuer Konsens durch: Wenn die Zentralbank bei einem Nullzinssatz schon an den Grenzen ihrer Möglichkeiten steht, sollte mit aktiver Fiskalpolitik agiert werden, um schneller aus einer langen Rezession zu kommen. Die langjährige Stagnation der Wirtschaft der Eurozone war eine Folge der Durchsetzung der politischen Prioritäten und Sichtweisen konservativer und neoliberaler Kräfte. Das hat die europäische Wirtschaft und auch die Bevölkerung viel gekostet, und damit auch indirekt zum Zustrom zu populistischen Bewegungen beigetragen.

Die Realwirtschaft benötigt funktionierende, robuste Finanzmärkte, die ihr dienen und sich nicht zum Selbstzweck abkoppeln; wir alle benötigen stabile Finanzmärkte, um nicht unter den fatalen Folgen einer neuen Finanzkrise zu leiden. Eine gute Finanzmarktregulierung ist dafür zentral.

12 Thesen zur Finanzmarktregulierung

Der G20-Gipfel 2009 in Pittsburgh hatte sich, in Reaktion auf die Finanzkrise 2007/2008, hohe Ziele in Sachen Finanzmarktregulierung gesteckt. Während unbestreitbare Fortschritte – höhere Kapitalquoten, intensivere Bankenaufsicht – erzielt wurden, blieb vieles nur Stückwerk. Nachdem die Finanzkrise überwunden scheint, werden immer mehr Stimmen laut, die Deregulierung sowie weniger Aufsicht fordern und teils auch Gehör in der Politik finden. Der fragmentierten Regulierung als auch der Tendenz zur Deregulierung – und damit dem Beginn der nächsten Krise – muss nun entschieden begegnet werden. Die folgenden zwölf Thesen sollen als Leitfäden für eine sozial gerechte und ökonomisch stabile Finanzmarktwirtschaft dienen:

  1. Der Mut zur Einfachheit fehlt – Komplexität auf den Märkten wird durch Komplexität der Regulierung begegnet:
    Komplexität nützt den FinanzmarktakteurInnen, da sie erfolgreich Lobbying bzw. Gerichtsverfahren nutzen, um Ausnahmen bzw. Schlupflöcher zu finden. Komplexität führt zu noch mehr „too big to fail“, da sich nur die großen Unternehmen die Compliance- und Rechtsberatung leisten können, um diese Regulierung zu verstehen und optimal anzuwenden.
    Der Mut zur Einfachheit fehlt: Wollte man wirklich effektive Regulierung, so müssten gewisse Produkte und Praktiken schlicht untersagt bzw. wesentlich strikter reglementiert werden. Dazu fehlt der politische Wille und Mut. Die Politik scheint den LobbyistInnen des Finanzkapitals zu glauben, dass das Kapital ein scheues Reh sei und vor zusätzlicher Regulierung aus Europa fliehe. Dabei unterschätzt die Politik ihre eigenen Handlungsspielräume und hat Angst davor, einfache, verständliche Grundregeln einzuführen und zu vollziehen.
  2. „Too big to fail“ ist nach wie vor Realität:
    Das Versprechen, riesige Finanzunternehmen so zu teilen, dass sie nicht mehr zu groß sind, um geordnet abgewickelt werden bzw. in Insolvenz gehen zu können, wurde nicht eingelöst. Riesen wie die Deutsche Bank würden nach wie vor zu gravierenden systemischen Krisen führen, sollten sie in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Dieses Marktversagen wird auch nicht durch Wettbewerbsrecht korrigiert. Die Politik muss im Austausch mit der Wissenschaft effektive Lösungen erarbeiten.
  3. Bail-in statt bail-out funktioniert (noch) nicht:
    Vor der Finanzkrise wurden die hohen Gewinne von wenigen AktionärInnen lukriert. Während der Finanzkrise wurden die massiven Verluste oft von der öffentlichen Hand getragen und damit sozialisiert. Es war ein großes Versprechen der Politik, dass in Zukunft nie wieder Steuergeld zur Bankenrettung verwendet werden würde. Wie jüngste Beispiele zeigen, ist die Einlösung dieses Versprechens bisher bestenfalls zweifelhaft.
    Die Politik muss den Mut finden, GläubigerInnen zur Verlusttragung heranzuziehen und ihnen somit klarzumachen, dass höhere Verzinsung bzw. Rendite immer mit höherem Risiko einhergeht. Es ist wichtig, das geregelte Ausscheiden von Banken aus dem Markt wenn notwendig zu ermöglichen. Dabei müssen Mechanismen geschaffen werden, um zu verhindern, dass KleinanlegerInnen überproportional Bankenkrisen finanzieren (im Vergleich zu GroßaktionärInnen). Bestehende Lücken im europäischen Rechtsrahmen dürfen nicht zur Aushöhlung des Verursacherprinzips führen.
  4. Eine Debatte über die gesellschaftlich wünschenswerte Struktur des Finanzsystems wurde nicht geführt:
    Nach wie vor wird mit Einlagen von SparerInnen spekulatives und riskantes Investmentbanking in ein und derselben Bank „quersubventioniert“. Das an sich wichtige und notwendige System der Einlagensicherung trägt zur Verzerrung des Risikos und damit zu spekulativerem Verhalten sowohl auf Seiten der Bank als auch bei den SparerInnen bei.
    Abgesehen von Versuchen der neuen EZB-Bankenaufsicht, in einigen wenigen problematischen Banken „aufzuräumen“, kam es bisher zu keiner fundamentalen Änderung der Bankenlandschaft. Ein Vorschlag der Kommission zur Strukturreform im Bankensektor war zwischen Rat und Europäischem Parlament nicht konsensfähig und wurde daher zurückgezogen. Nach wie vor bestimmt eine Reihe von Großbanken das Marktgeschehen und nicht selten auch die politische Agenda. Andererseits kämpfen kleine Genossenschaftsbanken ums Überleben, verschweigen jedoch, dass sie oft über konzernartige Verflechtungen an denselben spekulativen Geschäften wie viele Großbanken partizipieren.
  5. Die generelle Rolle der Bank als Finanzintermediärin wurde nicht hinterfragt:
    Weshalb Kreditvergabe und Einlagenhaltung im Internetzeitalter immer noch so wie vor Jahrzehnten organisiert sein soll, ist zumindest kritisch zu diskutieren. Derzeit läuft die Politik Gefahr, von der Entwicklung im Bereich Digitalisierung und Fintech überrollt zu werden, die zusehends von US-amerikanischen Internetgiganten getrieben wird, wo traditionelles Wettbewerbsrecht möglicherweise nicht ausreicht, um faire Märkte zu garantieren. Insbesondere muss geprüft werden, ob staatliche Lösungen nicht privatwirtschaftlichen – ähnlich wie im Falle anderer öffentlicher Versorgungseinrichtungen – überlegen wären.
  6. LobbyistInnen des Finanzkapitals haben immensen Einfluss auf Regulierung:
    LobbyistInnen der Banken, Versicherungen und Wertpapierdienstleister setzen in den europäischen Institutionen viel zu oft ihre Anliegen durch. Gleiches gilt für nationale Regierungen, wo die Finanzministerien nur allzu oft die Interessen der VertreterInnen heimischer Bankkonzerne mit dem „nationalen Interesse“ gleichsetzen. Die Anliegen der KonsumentInnen, SparerInnen und ArbeitnehmerInnen haben hier keine Stimme in Europa. Strengere Regeln für Lobbyismus und mehr Transparenz sind durchzusetzen, damit die Interessen von KonsumentInnen, SparerInnen bzw. aller besser vertreten werden.
  7. Unabhängige Expertise im Finanzmarktbereich ist rar und nicht immer leicht zu erkennen:
    Nicht wenige vorgeblich nur der Wissenschaft verpflichtete ExpertInnen und Institute haben ein (teilweise nicht offengelegtes) Naheverhältnis zur Finanzindustrie und sind z. B. über Vortragstätigkeiten und Drittmittelzuwendungen von dieser wirtschaftlich abhängig. Kritische WissenschafterInnen, die sich gegen den Mainstream stellen, riskieren damit manchmal sogar ihre Anstellung.
    Gerade für ein Feld, in dem wirtschaftlich dermaßen große Summen für die Gesellschaft auf dem Spiel stehen, muss die Politik für unabhängige Forschung und fachliche Beratung sorgen und entsprechende Einrichtungen und Stellen langfristig öffentlich finanzieren.
  8. Kapitalverkehrsfreiheit ist weder Selbstzweck noch unantastbar:
    Einschränkungen sind unter gewissen Bedingungen geboten. Während in der Griechenland- und Zypernkrise plötzlich das Tabu der Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit fiel, um KleinanlegerInnen zu beschränken, gibt es keinen politischen Willen und/oder Mut, dies auch für alle – insbesondere große FinanzmarktakteurInnen – zu tun. Wo dies zur Durchsetzung effektiver Finanzmarktregulierung notwendig ist, darf die Einschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit kein Tabu sein.
  9. Gewinne, die auf Finanzmärkten erzielt werden, werden momentan nicht gerecht versteuert:
    Arbeitende Menschen schultern die schwerste Steuerlast, die FinanzmarktakteurInnen leisten keinen fairen Anteil am Steueraufkommen. Die Finanztransaktionssteuer wäre ein Schritt in die richtige Richtung und muss endlich Realität werden. Weiters müssen grenzüberschreitende Transaktions- und Firmenkonstruktionen zur Steuerflucht verboten werden, um eine gerechte Steuerbelastung aller FinanzmarktteilnehmerInnen durchzusetzen.
  10. Finanzbildung erreicht nur einen Bruchteil der Bevölkerung:
    Um Menschen zu ermöglichen, mündige KonsumentInnen zu sein, muss Finanzbildung Teil der Pflichtschulbildung sein. Jede/r muss wissen, dass mehr Ertrag nur in Verbindung mit mehr Risiko erzielbar ist. Finanzbildung darf jedoch nicht als Alibi dienen, die Verantwortung den KonsumentInnen zu übertragen.
  11. Die Europäische Bankenunion ist noch Stückwerk:
    Europäische Krisen (inkl. globaler Krisen mit Auswirkungen auf Europa) erfordern eine europäische Lösung. Der Auf- und Ausbau der europäischen Bankenunion (bestehend aus den drei Säulen gemeinsame Aufsicht, Abwicklung von Banken und gemeinsame Einlagensicherung) ist deshalb essenziell: Schnelle Erfolge konnten bereits im Aufbau der gemeinsamen Aufsicht erzielt werden, indem die EZB als bestehende und mächtige europäische Institution für die gemeinsame Aufsicht zuständig ist. Der Aufbau eines europäischen Abwicklungssystems mit insbesondere einem gemeinsamen Abwicklungsfonds zur Verhinderung der Belastung der öffentlichen Hand [siehe These 2 und 3] ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Eine neuerliche Finanzkrise könnte das System noch nicht auffangen. Die europäische Einlagensicherung als dritter Baustein zum gesamteuropäischen Schutz von Ersparnissen bis 100.000 Euro fehlt noch. Die europäische Bankenunion muss dringend vervollständigt werden.
  12. Die Politik hat das Primat über die Wirtschaft verloren:
    Obwohl viele FinanzmarktakteurInnen nur durch Interventionen der öffentlichen Hand – und häufig durch Steuergeld – gerettet wurden, lässt sich die Politik zu oft mit Pseudo-Horrorszenarien wie einer angeblich drohenden „Kreditklemme“ von sinnvollen Regulierungsmaßnahmen wie Verboten bestimmter Produktkategorien oder Praktiken abbringen. Das Primat der Politik im Auftrag der Gesellschaft zurückzuerobern, muss das übergeordnete Ziel der Finanzmarktpolitik sein.

FAZIT

Das Feld der Finanzmarktregulierung darf nicht LobbyistInnen des Finanzkapitals und interessengeleiteten FinanzmarktexpertInnen überlassen werden. Wie die Verwerfungen nach der Finanzkrise gezeigt haben, hat jede Schieflage einer größeren Bank das Potenzial, das Volumen mehrerer Steuerreformen zu vernichten. Gewinne werden hingegen nach wie vor privatisiert, während nationale Bankkonzerne von „ihren“ nationalen Regierungen protegiert und teilweise künstlich am Leben gehalten werden.

Finanzmarktpolitik kann dabei nur europäisch konzipiert sein. Das ausschließliche Agieren auf nationaler Ebene ist nicht erfolgsversprechend. Finanzmarktpolitik muss der sozialen Gerechtigkeit, Realwirtschaft, Krisenprävention und damit Finanzstabilität dienen.