Wohlstandsindikatoren als Instrument der Wirtschaftspolitik

04. Februar 2015

Materieller Wohlstand und Lebensqualität sind die eigentlichen Zwecke des Wirtschaftens. Die öffentliche Debatte bzw. die Wirtschaftspolitik wird jedoch nicht davon dominiert, sondern von einem potenziellen Mittel zum Zweck, nämlich einem möglichst hohen nationalen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Weltweit gibt es deshalb Initiativen, die Wohlstand und Lebensqualität in den Fokus rücken wollen. In Österreich bietet der Bericht von Statistik Austria eine gute Grundlage, wo eine ausgewogenere Wirtschaftspolitik ansetzen könnte.

Einer der wichtigsten Ursprünge für die Initiativen zur Messung materiellen Wohlstands war die stark verbreitete Wahrnehmung, dass Wirtschaftswachstum die Lebenssituation vieler Menschen nicht mehr verbessert. Angesichts der konzeptionellen Grundlagen des BIP ist das auch nicht weiter verwunderlich. Es gibt lediglich Auskunft über den im Inland generierten Mehrwert an Waren- und Dienstleistungen. Es gibt nun mehrere Gründe, warum ein realer BIP-Zuwachs nicht zwangsläufig zu einer materiellen Wohlstandssteigerung führen muss:

  • Die Zahl der EinwohnerInnen kann schneller steigen
  • Der Anteil, über den die Menschen im Inland verfügen, kann schrumpfen
  • Ein größerer Teil kann zum Abbau öffentlicher Defizite verwendet worden sein

Individuelle real verfügbare Einkommen besserer Indikator

Ein Indikator, der diese Einflussfaktoren berücksichtigt, ist das real verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der privaten Haushalte. Zusätzlich zum BIP werden darin Einkommen eingerechnet, die im Ausland entstehen (vor allem Vermögenseinkommen).

Dekoratives Bild © A&W Blog
Datenquelle: Statistik Austria (2014) © A&W Blog
Datenquelle: Statistik Austria (2014)

Vergleicht man die Entwicklung des BIP mit jenem der real verfügbaren Haushaltseinkommen pro Kopf (inkl. sozialer Sachtransfers), so ist klar zu erkennen, dass die Einkommen deutlich langsamer wachsen. Der Verlauf deutet darauf hin, dass die Konsolidierung öffentlicher Haushalte (1996/97, 2001, 2011-2013) bei dieser ungleichen Entwicklung eine wesentliche Rolle spielte. Gleichzeitig ist aber auch abzulesen, dass durch Konjunkturpakete und Steuerentlastungen das unmittelbare Durchschlagen des Wirtschaftseinbruchs 2009 auf die Haushalte abgeschwächt werden konnte.

Verteilungsfragen bleiben beim BIP ausgeblendet

Der Indikator der real verfügbaren Haushaltseinkommen kann jedoch den wahrscheinlich wichtigsten Effekt der Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Wohlstandsentwicklung auch nicht einfangen: die zunehmende – und in den letzten Jahren immer besser dokumentierte – Verteilungsschieflage, egal ob sie nun Einkommen, Konsum oder Vermögen betrifft. Eine der wichtigsten Empfehlungen der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission lautet deshalb auch, Verteilungsfragen in den Mittelpunkt der Messung von nachhaltigem Wohlstand und Lebensqualität zu rücken. Mit den Arbeiten von Thomas Piketty und anderen ist der theoretische und methodische Fortschritt in den letzten Jahren nicht zu übersehen, der zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftswachstum und der Konzentration des Wohlstandes in Form von Vermögen einiges beigetragen hat.

Trotz sichtbarer Bemühungen von Statistik Austria, Verteilungsfragen im Datensatz zur Messung von Wohlstand und Beschäftigung systematisch zu integrieren, bleibt dieser Bereich weiter ausbaufähig:

  • Lediglich für die Jahre 2008 bis 2013 wird der Gender-Pay-Gap und das Verhältnis der Einkommen zwischen dem einkommensreichsten und–ärmsten Fünftel der Haushalte verglichen.
  • Die Aussagekraft des letzteren Indikators ist zudem durch die Untererfassung der Einkommen (insbesondere der hoch konzentrierten Vermögenseinkommen) beschränkt.
  • Bei der Verteilung der nicht-bezahlten Arbeit zwischen Frauen und Männern fehlt eine kontinuierliche Erhebung (nur 3 Datenpunkte in 33 Jahren).
  • Die Datenlage zur Entwicklung niedriger und hoher Jahreseinkommen ist auf die unselbständig Beschäftigten beschränkt. Hier zeigt sich, dass die Bruttorealeinkommen im untersten Viertel der Verteilung kontinuierlich zurückgehen, vor allem durch die Zunahme atypischer Beschäftigung. Doch selbst bei den Beschäftigten mit „Normalarbeitsverhältnis“ – also ganzjährige Vollzeit-Beschäftigung – war die Einkommensentwicklung im Zeitraum 2004 bis 2012 schwach: Im untersten Viertel der Verteilung stagnierten die Bruttorealeinkommen, und selbst im obersten Quartil stiegen sie kumuliert um nur vier Prozent, während das reale BIP um 13 Prozent zulegte .
  • Für die Verteilung von Vermögen, das noch mehr ein Synonym für materiellen Wohlstand darstellt als Einkommen, bieten die bisherigen Indikatorensets kaum Anhaltspunkte. (Das ist auch jener Bereich, wo die aktuelle Datenlage den Ansprüchen der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission wohl noch am weitesten hinterher hinkt.)

Verteilung der Lebensqualität

Die zweite große Dimension der weltweiten Initiativen zur Wohlstands- und Fortschrittsmessung bilden zumeist großteils subjektive Indikatoren unter der Überschrift „Lebensqualität“. Selbst wenn der materielle Wohlstand wächst und alle gleichermaßen davon profitieren, kann es zu einer Lücke zwischen erwartetem und tatsächlich wahrgenommenem Zuwachs kommen.

Zudem zeigen Untersuchungen (zB hier), dass die Lebenszufriedenheit zumindest bei einem bereits hohen Niveau materiellen Wohlstands durch weitere Zuwächse nicht mehr steigt. Freizeit, Gesundheit oder soziale Beziehungen rücken dann in den Mittelpunkt.

Diese Faktoren bleiben allerdings an materiellen Wohlstand und seine Verteilung rückgekoppelt. Auch hier sorgte ein Buch für internationale Aufmerksamkeit: Richard Wilkinson und Kate Pickett konnten zeigen, dass ungleiche Gesellschaften insgesamt tendenziell unglücklicher, ungesünder, sozial immobiler usw. sind.

Im Projekt der Statistik Austria wird dieser Zusammenhang aufgegriffen. Die Messung der Ausgrenzungsgefährdung greift sehr direkt den Zusammenhang aus verminderter gesellschaftlicher Teilhabe und Armut auf. Ähnliches gilt für Erwerbs- und Arbeitslosenquoten. Mittels Subindikatoren zur Messung der Lebensqualität wird aber auch gezeigt, wie Lebenserwartung, der individuelle Gesundheitszustand oder die subjektive Umweltbelastung von der Höhe des Einkommens (oder von Bildung als Näherungswert) abhängen.

Subjektiver Gesundheitszustand nach Einkommensquintilen

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Am unmittelbarsten zeigt sich der Zusammenhang zwischen Lebensqualität und Verteilung am Umfrageergebnis zum subjektiven Wohlbefinden: Je höher der relative Einkommensanteil, desto höher ist auch die Lebenszufriedenheit.

Konsequenzen für eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik

Schon im Endbericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission wird den politischen Verantwortlichen empfohlen, ihre Entscheidungen auf eine neue Grundlage zu stellen:

In this time of crises, when new political narratives are necessary to identify where our societies should go, the report advocates a shift of emphasis from a “production-oriented” measurement system to one focused on the well-being of current and future generations, i.e. toward broader measures of social progress.

Auch wenn einige Weiterentwicklungen des Indikatorensets der Statistik Austria noch wünschenswert sind, bietet es bereits jetzt eine sehr gute Ausgangsbasis, um die Erreichung wirtschaftspolitischer Ziele im Rahmen einer ausgewogenen, wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik mit folgenden Eckpfeilern zu überprüfen:

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Eigene Darstellung basierend auf Rothschild (1996). © A&W Blog
Eigene Darstellung basierend auf Rothschild (1996).

Es bleibt zu hoffen, dass „Wie geht’s Österreich“ zukünftig einen größeren Beitrag zur wirtschaftspolitischen Debatte in Österreich leisten kann. Statt sich zusätzlich zum BIP an Indikatoren für eine einseitige restriktive Ausrichtung der Budgetpolitik, einem fragwürdigen Scoreboard zur Vermeidung unbestimmter Ungleichgewichte oder dubiosen Wettbewerbsrankings zu orientieren, sollte die Politik wieder verstärkt auf den Zweck des Wirtschaftens achten: einen möglichst hohen nachhaltigen materiellen Wohlstand und Lebensqualität für möglichst viele Menschen.