Wohlfahrtsstaat und sozial-ökologische Transformation: Wachstumsabhängigkeit reduzieren!

08. November 2022

Die multiplen Krisen unserer Zeit lassen sich in einem wachstumszentrierten ökonomischen System nicht bewältigen. Es braucht daher eine sozial-ökologische Transformation in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft. Zentrale Bedingung hierfür ist die wachstumsunabhängige Gestaltung des Wohlfahrtsstaates als elementare Institution für eine „Just Transition“. Um den Wohlfahrtsstaat fit für die Postwachstumsgesellschaft zu machen, ist eine Restrukturierung der Finanzierung nötig. Hierbei muss die Besteuerung von Kapital und Vermögen in den Mittelpunkt gestellt und der Faktor Arbeit grundlegend entlastet werden.

Sozial-ökologische Transformation in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft

Wie kann ein gutes Leben für alle innerhalb planetarer Grenzen gewährleistet werden? Dies ist wohl die drängendste Frage des 21. Jahrhunderts. Denn Länder, die – wie Österreich – bei sozioökonomischen Indikatoren im globalen Vergleich gut abschneiden, tun dies auf Basis eines nicht mit planetaren Grenzen zu vereinbarenden Niveaus an Umweltbelastungen. Um diese sozial-ökologische Herausforderung zu bewältigen, wird nichts Geringeres als eine grundlegende Transformation unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems vonnöten sein. Zunehmend wird jedoch klar, dass sich gängige Lösungsstrategien – allen voran jene des „grünen Wachstums“ – als ökologisch unzureichend erweisen. Vielmehr braucht es eine Überwindung des ökologisch und sozial destruktiven Wachstumszwangs; es braucht eine Transformation in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft.

Zentrales Anliegen einer Postwachstumsgesellschaft ist die sozial gerechte Steigerung individuellen Wohlbefindens im Rahmen ökologischer Grenzen. Neben einem multidimensionalen Wohlstandsbegriff braucht es hierfür primär eine Abkehr vom Fokus auf das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion von Gütern und Dienstleistungen, um Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen auf nachhaltige Niveaus zu senken. Eine quantitative Einschränkung der Wirtschaftsleistung kann hierbei nur mit einer begleitenden qualitativen Umstrukturierung der Wirtschaft gelingen. Während nicht nachhaltige Produktions- und Konsumpraktiken rückgebaut werden müssten, sollten sowohl sozial essenzielle (z. B. Bildung und Gesundheit) als auch für die Transformation unerlässliche Bereiche (z. B. erneuerbare Energien und öffentliche Verkehrsmittel) weiter ausgebaut werden.

Gesellschaftliche Wachstumsabhängigkeiten als strukturelles Hindernis

Die Idee einer Postwachstumsgesellschaft sieht sich jedoch mit einer zentralen Herausforderung konfrontiert: Die Stabilität und Funktionalität unserer gesellschaftlichen Institutionen sind derzeit von einer kontinuierlich wachsenden Wirtschaftsleistung abhängig. Bleibt Wirtschaftswachstum aus, folgen soziale und ökonomische Verwerfungen. Zentrales Anliegen und Voraussetzung für eine sozial-ökologische Transformation muss daher die Überwindung struktureller Wachstumsabhängigkeiten sein. Die Reduktion von Wachstumsabhängigkeiten scheint jedoch nicht nur aus einer Postwachstumsperspektive sinnvoll. Denn eine wachstumsunabhängige Gestaltung unserer Institutionen kann deren Krisenresilienz substanziell steigern, indem die negativen sozioökonomischen Auswirkungen von Rezessionen und mittelfristig sinkenden Wachstumsraten besser bewältigbar werden.

Die Wachstumsabhängigkeit des Wohlfahrtsstaates

Auch der Wohlfahrtsstaat ist eine vom Wirtschaftswachstum abhängige Institution. Wenn das gesamtwirtschaftliche Niveau an Produktion, Konsum und Arbeit sinkt, so schrumpfen ebenso staatliche Einnahmen aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Das Ausbleiben wirtschaftlichen Wachstums führt somit dazu, dass Wohlfahrtsstaaten unter Finanzierungsdruck geraten. Die Wachstumsabhängigkeit des Wohlfahrtsstaates liegt daher in seiner Finanzierungsstruktur begründet. Um einen Rückbau sozialstaatlicher Leistungen im Rahmen einer Postwachstumstransformation zu verhindern, muss die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates wachstumsunabhängig gestaltet werden. Dies ist auch insofern essenziell, als der Wohlfahrtsstaat die Transformation durch klimasoziale Politiken unterstützen kann und somit als zentrale Institution für eine „Just Transition“ gesehen werden muss.

Die Finanzierung des österreichischen Wohlfahrtsstaates

Der österreichische Wohlfahrtsstaat umfasst eine Vielzahl an Geld- und Sachleistungen zum Zwecke sozialer Sicherung. Hierbei ist es möglich, die Einnahmen zur Finanzierung dieser wohlfahrtsstaatlichen Leistungen nach vier ökonomischen Quellen zu differenzieren: Arbeit, Konsum, Kapital und Boden. Hierzu werden die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern den oben genannten Quellen einzeln zugeordnet und anschließend die Anteile der vier Kategorien an den Gesamteinnahmen errechnet. Basierend auf Daten der Statistik Austria und von Eurostat ergibt sich folgende Finanzierungsstruktur des österreichischen Wohlfahrtsstaates.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Der Großteil wohlfahrtsstaatlicher Leistungen in Österreich wird durch den Faktor Arbeit finanziert, auch wenn dessen Finanzierungsanteil im Zeitverlauf leicht zurückgegangen ist. Selbst im Krisenjahr 2020 wurden mehr als zwei Drittel aller wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben durch Abgaben auf Arbeit finanziert. Konsumsteuern deckten 2020 etwa 16,4 Prozent der Wohlfahrtsstaatsausgaben, mit leicht fluktuierender Tendenz seit 1995. Der Beitrag des Faktors Kapital zur Finanzierung des österreichischen Wohlfahrtsstaates ist im Vergleich zum Beitrag des Faktors Arbeit bescheiden. Selbst nach moderater Steigerung des Finanzierungsanteils deckte der Faktor Kapital im Jahr 2020 lediglich 11,9 Prozent der wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben. Fast vernachlässigbar sind die Einnahmen durch Bodenbesteuerung, welche beinahe über den gesamten Beobachtungszeitraum lediglich 0,3 Prozent der Gesamteinnahmen ausmachten.

Die Wachstumsabhängigkeit des österreichischen Wohlfahrtsstaates

Diese Finanzierungsstruktur deutet nicht nur auf eine verteilungspolitisch höchst problematische Schieflage hin, sie trägt auch substanziell zur Wachstumsabhängigkeit des österreichischen Wohlfahrtsstaates bei. Denn der Faktor Arbeit ist selbst wachstumsabhängig. Würde Wirtschaftswachstum mittel- bis langfristig ausbleiben, käme es unter derzeitigen Umständen zu technologischer Arbeitslosigkeit. Dieses Phänomen ist allen voran der Richtung des technologischen Wandels geschuldet, welcher primär auf Arbeitsproduktivitätssteigerungen ausgerichtet ist. Unternehmen tendieren dazu, den (teuren) Faktor Arbeit durch vergleichsweise billige Inputs aus Energie und Kapital zu substituieren, um so ihre Kosten zu minimieren. Steigende Arbeitsproduktivität bedeutet jedoch, dass der gleiche makroökonomische Output mit weniger Arbeitsaufwand produziert werden kann. Steigende Arbeitsproduktivität resultiert daher in technologischer Arbeitslosigkeit, wenn dieser Effekt nicht durch hinreichendes Wirtschaftswachstum ausgeglichen werden kann. Zwar war dieses Phänomen technologischer Arbeitslosigkeit in Österreich bisher nicht zu beobachten, könnte aber bei abnehmender Wirtschaftsleistung im Rahmen einer Postwachstumstransformation zu Verwerfungen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt führen. Den Wohlfahrtsstaat primär durch Abgaben auf Arbeit zu finanzieren, trägt somit substanziell zu seiner Wachstumsabhängigkeit bei und verschärft somit seine Krisenanfälligkeit.

Wachstumsabhängigkeit reduzieren! Aber wie?

Es zeigt sich somit, dass die Wachstumsabhängigkeit des Wohlfahrtsstaates nicht nur ein budgetpolitisches, sondern vor allem ein verteilungspolitisches Problem darstellt. Um die Wachstumsabhängigkeit des österreichischen Wohlfahrtsstaates zu reduzieren, braucht es in diesem Sinne vor allem umverteilende Maßnahmen. Hierfür bietet sich die Besteuerung jener ökonomischen Werte an, welche weniger von Wachstum abhängig sind und somit relativ stabile Einnahmen sichern können. Steuern auf Erbschaften, Grund und Boden, Finanzvermögen sowie unbewegliche Vermögenswerte sind zu diesem Zwecke gut geeignet und können außerdem helfen, den weiteren Ausbau des österreichischen Wohlfahrtsstaates zu finanzieren. Ohnehin erscheinen solche Steuern im Hinblick auf die hohe Vermögensungleichheit in Österreich als unerlässlich. Ein weiterer Vorteil von vermögensbezogenen Steuern ist, dass diese Wachstums- und Akkumulationsimperative abschwächen können, was den Übergang zu einer Postwachstumsgesellschaft erleichtert. Schließlich bietet eine Erhöhung von Steuern auf Vermögen und Kapital die Möglichkeit, Abgaben auf den Faktor Arbeit zu senken und somit die Finanzierungsstruktur des österreichischen Wohlfahrtsstaates wachstumsunabhängiger zu gestalten. Hierbei sollten allen voran kleine und mittlere Einkommen entlastet werden.

Ein weiterer Ansatzpunkt, um die fiskalische Resilienz von Wohlfahrtsstaaten zu erhöhen, ist, die Wachstumsabhängigkeit von Arbeit zu reduzieren. Zwei Maßnahmen erscheinen hier sinnvoll. Erstens können Arbeitszeitverkürzungsmaßnahmen technologischer Arbeitslosigkeit entgegenwirken, indem Produktivitätsgewinne in kürzere Arbeitszeiten übersetzt werden. Damit alle Arbeitnehmer:innen das Angebot kürzerer Arbeitszeiten auch tatsächlich in Anspruch nehmen können, sollte Lohn- und Personalausgleich gewährleistet werden. Zweitens könnte bei den relativen Preisen der Produktionsfaktoren angesetzt werden, um technologischen Wandel in andere Bahnen zu lenken. Neben der oben erwähnten Entlastung von Arbeit empfehlen sich hier effektive (allerdings sozial verträgliche) Umweltsteuern, um Anreize für arbeitsintensivere sowie kapital- und energiesparende Produktionsformen zu schaffen.

Es zeigt sich somit, dass Maßnahmen zur Reduktion der Wachstumsabhängigkeit des Wohlfahrtsstaates nicht nur verteilungspolitisch sinnvoll, sondern auch gut mit den Zielen einer gerechten sozial-ökologischen Transformation vereinbar sind. Insofern bildet die wachstumsunabhängige Gestaltung des Wohlfahrtsstaates einen geeigneten Hebelpunkt, um eine Transformation in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft in Gang zu setzen. Denn der Wohlfahrtsstaat wird im Rahmen einer sozial-ökologischen Transformation essenziell sein, um ein gutes Leben für alle innerhalb planetarer Grenzen zu gewährleisten.

Dieser Beitrag basiert auf der Masterarbeit „The post-growth funding dilemma of the welfare state: An explorative analysis of the growth dependence of the Austrian welfare state“ von Raphael Kaufmann.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung