Übergangspfade zur Klimaneutralität: von Rom über Paris direkt in die Zukunft

11. März 2022

Vor genau 50 Jahren wurde 1972 erstmals der Bericht „Grenzen des Wachstums“ des „Club of Rome“ veröffentlicht. Es war ein wissenschaftlicher Weckruf, um unsere Lebensgrundlage langfristig zu sichern. Nach langem Ringen verständigt sich die internationale Staatengemeinschaft langsam immer verbindlicher auf den Kampf gegen die Klimakrise. Auf europäischer Ebene soll der Weg dorthin anhand von konkreten Übergangspfaden für 14 industrielle Ökosysteme nun beschleunigt werden. Technisch-ökonomische Ansätze werden dafür aber nicht ausreichen.

Einmal Rom–Glasgow und zurück: 26 Welt-Klimakonferenzen und ein grüner Deal

Diskussionen und Debatten auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse über unseren Einfluss auf unsere Umwelt und unsere Lebensgrundlage wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer konkreter in internationale politische Zielsetzungen gegossen: vom Kyoto-Protokoll (3. UN-Klimakonferenz, 1997) bis zum Nachfolgevertrag von Paris (21. UN-Klimakonferenz, 2015) mit der Einigung auf die Begrenzung der Erderhitzung auf den Bereich 1,5 bis 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Durchschnittstemperaturniveau. Aus diesen internationalen Übereinkünften leiten sich auch die europäischen Zielsetzungen ab: Die EU will diese erfüllen und sogar der erste klimaneutrale Kontinent werden. Dafür sollen die CO2-Emissionen bereits bis 2030 um 55 Prozent gesenkt werden.

Europäische Bausteine zur Klimarettung: Green Deal und „Fit for 55“

Im Jahr 2019, also 47 Jahre nach Veröffentlichung des Berichts wurde die Umsetzung der Klimaziele von Paris in ein wirtschaftspolitisches Programm für die EU gegossen, den Europäischen Grünen Deal. Sein Ziel ist, Europa als globale Vorreiterin einer grünen und digitalen Ökonomie und als ersten klimaneutralen Kontinent zu positionieren. Die strategische Ausrichtung zeigt sich dabei in den unterschiedlichen Verordnungen, Richtlinien, Aktionsplänen, Konsultationen und Sondierungen (Abbildung 1). Ausgehend vom Europäischen Grünen Deal an sich über die aktualisierte Europäische Industriestrategie und das „Fit for 55“-Paket bis hin zur KMU-Strategie. Besonders interessant sind vor allem die Querverbindungen, Schnittstellen und Verweise zwischen den einzelnen Initiativen. Jeder und jede für sich ist ein Baustein eines umfassenden wirtschaftspolitischen Transformationsprogramms. In ihrem Zusammenspiel verfolgen sie das Ziel, den Strukturwandel zu steuern und erheblich zu beschleunigen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Jeder Weg beginnt mit einem ersten Schritt: industrielle Ökosysteme als Ausgangsbasis

Um zum Ziel „Klimaneutralität“ zu gelangen, braucht es einen Ausgangspunkt und einen Prozess, der die notwendigen Schritte und Verantwortlichkeiten vorsieht und Verbindlichkeit herstellt. Im Zuge der Neuausrichtung des Wirtschafts- und Wettbewerbsmonitorings durch den Europäischen Grünen Deal (2019), der aktualisierten Industriestrategie (2021) und des Europäischen Klimagesetzes (2021) wurde auch ein jährlicher Binnenmarktreport (2021) vorgelegt. In diesem Bericht identifiziert die Europäische Kommission 14 industrielle Ökosysteme (Abbildung 2). Sie sind nicht nur für die europäische Wirtschaft von großer Relevanz, sondern auch maßgeblich für das Gelingen des Umbaus hin zu einem klimaneutralen und digitalen Europa.

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Transition Pathways als Strategie und Prozess

Auf dem Weg zur Klimaneutralität und hin zur digitalen Zukunft sollen nun für jedes einzelne der industriellen Ökosysteme Übergangspfade („Transition Pathways“) entwickelt werden. Der Prozess zur Entwicklung dieser Übergangspfade hat dabei zum Ziel, die wichtigsten Eckpfeiler, Stoßrichtungen und Herausforderungen im Wandel für jedes der 14 industriellen Ökosysteme zu identifizieren. Dafür sollen die jeweils relevanten Stakeholder (Sozialpartner, Forschungs- und Technologieorganisationen, NGOs und Bürger:innen) sowie Unternehmen entlang der jeweiligen Wertschöpfungsketten transparent und effizient kooperieren. Mit diesem Ansatz sollen komplexe gesellschaftliche Probleme gelöst werden. Wie diese Aktivitäten tatsächlich verbunden werden sollen, ist aktuell noch nicht klar. Es zeichnet sich jedoch schon ab, dass eine Kooperation über Sektoren hinweg notwendig sein wird, um groß angelegten Projekten oder Missionen gerecht zu werden. Das bestätigt auch den Ansatz von Mariana Mazzucato in ihren innovationsökonomischen Arbeiten. Darüber hinaus zeigen ihre Forschungen auch, dass öffentliche und strategische Beteiligungsmodelle einen substanziellen Beitrag zur Bewältigung von gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Unterstützung von transformativen Innovationen geleistet haben und auch in Zukunft leisten könnten – insbesondere durch die aus diesen entstehenden Spill-over-Effekte auf private Sektoren, die übergreifend wirken. Es braucht also ein dynamisches, partnerschaftliches Verhältnis zwischen dem Staat, dem öffentlichen Sektor und privaten Unternehmen.

Erfolgreiche Transformation braucht mehr als technisch-ökonomische Ansätze

Wirtschafts- und industriepolitisch stehen derzeit neben technischen Aspekten vor allem strategische Abhängigkeiten in den Liefer- und Wertschöpfungsketten, das Ausmaß an notwendigen Investitionen sowie Kompetenzen, Fähigkeiten und Qualifikationen von Arbeitskräften in den jeweiligen industriellen Ökosystemen im Fokus. Der Prozess soll auch einen Raum für einen systematischen Austausch der Stakeholder über die Entwicklungen, Szenarien und Optionen im Umbau ermöglichen. Die Debatten verharren jedoch überwiegend in einem technisch-ökonomischen Lösungsraum und beschränken sich damit selbst. Unklar ist auch, wie die Bevölkerung Europas breit eingebunden wird, und auch, wie mit den sich durch die aktuellen Krisen vertieften sozioökonomischen Disparitäten umgegangen werden soll. Denn es sind genau diese steigenden Ungleichheiten, die einer Akzeptanz von tiefgreifenden Transformationen entgegenstehen. So wirkt sich die Klimakrise genauso wie Digitalisierung in Regionen und Länder der Europäischen Union sehr unterschiedlich aus. Die strategische Entwicklung und Qualität der Infrastruktur oder notwendige finanzielle Spielräume, um der Klimakrise zu begegnen, sowie das Ausmaß der digitalen Kluft beeinträchtigen die Fähigkeit und Bereitschaft zur Transformation entscheidend. Für das Gelingen nachhaltiger und tragfähiger Übergangspfade braucht es daher:

  • eine Wohlstandsorientierung der Wirtschaft,
  • eine gehaltvolle Verschränkung von Dekarbonisierung mit Fragen der Beschäftigungspolitik,
  • die Berücksichtigung von Verteilungsaspekten,
  • die Einbeziehung der nationalen und europäischen Sozialpartner in das Transformationsmanagement, welches die Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Soziale Innovation und Teilhabe als Schlüsselfaktoren

Die tatsächlich notwendige sozial-ökologische Transformation ist jedoch mehr als eine reine Umstellung auf emissionsarme oder -freie Produktion, Wettbewerbsfähigkeit und Employability. Damit eng verbunden sind soziale Fragen der politischen Teilhabe und des guten Lebens für alle. Wesentliche Fragestellungen, wie etwa die Rolle sozialer Innovation, der Absicherung der Daseinsvorsorge und sozialer Ausgleich spielen bislang gegenüber technischen Aspekten eine eher untergeordnete Rolle. Zwar werden Fragen der Energiearmut und der Teilhabe an der Energiewende sowie Fragen der Qualifizierung und Umschulung thematisiert, aber es fehlen weitergehende Überlegungen, etwa zur Verteilung von Kosten und Nutzen, der Förderung gesellschaftlichen Zusammenhalts und sozialer Innovation hinsichtlich der Arbeitsorganisation und von sozialen Anerkennungs- und Verhaltensnormen. Die Beantwortung dieser Fragen ist jedoch zentral für die Ausgestaltung der Übergangspfade, prägen doch die gewählten Antworten auf diese Fragen wesentlich die Richtung, das Ausmaß und vor allem den Erfolg des Wandels mit. Daher braucht es auch eine aktive und breite Beteiligung von Arbeitnehmer:innen- und Konsument:innen-Vertretungen als auch der Zivilgesellschaft in diesen Prozessen. Nur so kann es gelingen, dass sich der Weg nach Rom schlussendlich nicht als etwas anderes herausstellt: Eulen nach Athen zu tragen.

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