Ein nachhaltiges Finanzwesen? – Schlussfolgerungen aus einer aktuellen Debatte

13. Januar 2022

„Klimawandel und Umweltschädigung bestimmen die globalen Herausforderungen unserer Zeit.“ Das stellt die EU-Kommission in ihrer Mitteilung zu einem nachhaltigen Finanzwesen klar. Mit einem komplexen Regelwerk sollen über den Finanzsektor private Investitionen in Richtung Nachhaltigkeit umgelenkt werden. Kann das gelingen? Welche Irrwege gilt es zu verhindern? Und wie sieht es mit der Berücksichtigung sozialer Ungleichheit aus, die ebenfalls eine globale Herausforderung darstellt. Auch im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) wurde dazu eine heftige Debatte geführt.

Strategie der Europäischen Kommission zur Finanzierung der nachhaltigen Wirtschaft

„Klimawandel und Umweltschädigung bestimmen die globalen Herausforderungen unserer Zeit.“ So beginnt die Mitte 2021 publizierte Mitteilung der Kommission zur neuen „Strategie zur Finanzierung einer nachhaltigen Wirtschaft“, welche auf dem „Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ aus dem Jahr 2018 aufbaut. Diese neue Strategie soll eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung der Ziele des europäischen Grünen Deals spielen und zu einer nachhaltigen Erholung aus der COVID-19-Pandemie beitragen. Laut Kommission geht der Umfang der dafür nötigen Investitionen deutlich über die Kapazitäten des öffentlichen Sektors hinaus, sodass es notwendig sei, auch private Finanzströme in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten umzulenken. Hierbei soll dem Finanzsektor eine wichtige Rolle zukommen. Damit dies gelingt, wird ein umfangreiches Paket mit etwa neunzig Aktionen in folgenden vier Bereichen vorgelegt:

  • Rahmen zur Unterstützung von Zwischenschritten auf dem Weg zur Nachhaltigkeit
    Die EU-Taxonomie gibt Kriterien vor, „um damit den Grad der ökologischen Nachhaltigkeit einer Investition ermitteln zu können“. Einem delegierten Rechtsakt zur Klimaschutz-Taxonomie sollen weitere folgen, zum Beispiel bezogen auf Wasser, biologische Vielfalt, Kreislaufwirtschaft und Vermeidung von Umweltverschmutzung. Besonders umstritten ist ein ergänzender Rechtsakt zur Klimataxonomie, welcher diese auf Bereiche wie Kernenergie, Erdgas und Landwirtschaft ausdehnen soll. Außerdem werden Maßnahmen zur Verbesserung der Gütesiegel vorgeschlagen sowie Offenlegungspflichten für Unternehmen.
  • Inklusiverer Rahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen

In diesen Bereich fallen zum Beispiel die Erarbeitung einer Definition von „grünen Krediten und Hypotheken“, ein verbesserter Zugang zu nachhaltigen Finanzdienstleistungen, Nachhaltigkeits-Daten und ein Bericht über eine Sozialtaxonomie sowie die Erarbeitung einer Methodologie für die Erfassung von Ausgaben für Klimaschutz und biologische Vielfalt in öffentlichen Haushalten.

  • Verbesserung der Widerstandsfähigkeit und des Beitrags zur Nachhaltigkeit des Finanzsektors

Hier geht es um die Erfassung und Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken in Rechnungslegungsstandards, Ratings und in Risikomanagementsystemen und Eigenkapitalvorschriften von Banken und Versicherungen. Ebenso Thema sind klimabezogene Stresstests und Maßnahmen zur Stärkung der allgemeinen Finanzstabilität. Außerdem sollen der Nachhaltigkeitsbeitrag des Finanzsektors selbst sowie das Instrumentarium der Aufsichtsbehörden verbessert werden.

  • Globale Ambitionen fördern

Auch auf internationaler Ebene soll man sich auf die Bedeutung von Offenlegungsrahmen und auf Ziele und Grundsätze für Taxonomien verständigen. Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen sollen besonders unterstützt werden.

Hoffnungen, die in ein nachhaltiges Finanzwesen gesetzt werden

Das private Finanzwesen ist sicher kein Zauberstab für die Erreichung von Nachhaltigkeitszielen und kann weder eine Regulierung der Realwirtschaft durch Umweltnormen noch die Rolle der öffentlichen Hand im Bereich der Forschung und Entwicklung und bei Investitionen in eine nachhaltige Infrastruktur ersetzen. Möchte man Nachhaltigkeit dennoch mithilfe des Marktmechanismus fördern, braucht es einen umfangreichen legistischen Rahmen und erheblichen Ressourceneinsatz, was auch aus der groben und nicht abschließenden Aufzählung oben deutlich wird. Obwohl keineswegs sicher ist, dass dies im erforderlichen Ausmaß gelingt, ist der Ansatz eine genauere Betrachtung wert.

Tatsächlich ist die Nachfrage nach nachhaltigen Investments groß und steigend. Wenn Kriterien nachhaltiger Entwicklung verstärkt in die Anlageentscheidungen privater und institutioneller InvestorInnen einfließen, ist dies erfreulich, denn ohne die Mobilisierung privaten Kapitals sind die notwendigen Investitionen für eine dekarbonisierte Wirtschaft und zukunftsfähige Gesellschaft kaum zu stemmen – zumindest nicht ohne kurzfristige massive Änderungen des Wirtschaftssystems. Eines der größten Probleme dabei ist die Informationsasymmetrie zwischen AnbieterInnen nachhaltiger Anlageprodukte und (Klein‑)AnlegerInnen. Erforderlich sind daher Transparenz, Zertifizierung und eine adäquate Risikoerfassung. Hier setzen Taxonomie und Veröffentlichungsbestimmungen an.

Und auch die Ambitionen zur Verstärkung internationaler Kooperationen zur Setzung von Standards sind vom Grundgedanken her zu begrüßen. Selbstverständlich ist es auch sinnvoll, Nachhaltigkeitsaspekte im Rahmen der Risikovorsorge von Banken und Versicherungen zu erfassen und in den Eigenkapitalvorschriften abzubilden, um die Finanzstabilität zu gewährleisten.

Viele Fragen sind noch offen

Insgesamt ist die Debatte um ein nachhaltiges Finanzwesen jedoch noch lange nicht abgeschlossen und die Strategie weist trotz ihres Umfangs noch erhebliche Mängel auf. Angesichts des großen Handlungsdrucks erscheint sie in vielen Punkten zu zögerlich. Außerdem befördert der derzeit enge Fokus auf Klimapolitik das Bestreben, den Einsatz von Kernkraft als „nachhaltig“ einzustufen. Und es bleiben andere wichtige Aspekte der Nachhaltigkeit im Sinne der ESG-Ziele der UNO, welche sich auf Environment/Umwelt, Soziales und Unternehmensführung/Governance beziehen, bislang weitgehend unberücksichtigt, vor allem soziale Nachhaltigkeit im Sinne eines umfassenden Wohlstandsbegriffs. Entscheidend wird auch sein, dass es gelingt, Grünfärberei zu verhindern.

Es kann aber durchaus auch als Chance gesehen werden, den Schwung der aktuellen Diskussion aufzunehmen, um auch eine soziale Taxonomie und mehr Transparenz durchzusetzen. Diese Punkte wurden im Rahmen der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) zur Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen aufgegriffen.

Die Debatte zur Atomenergie

Dass die EU-Taxonomie eine hohe Relevanz in Bezug auf den Schwerpunkt zukünftiger Investitionen hat, spiegelt sich auch in der im EWSA heftig geführten Debatte rund um die Frage wider, ob Kernkraft Teil der EU-Taxonomie sein soll oder nicht. Während in den meisten Fragestellungen die Kontroversen zwischen den drei im EWSA vertretenen Gruppen verlaufen – wobei sich vor allem die ArbeitnehmerInnen- und Arbeitgebergruppe gegenüberstehen –, waren hier die unterschiedlichen Standpunkte über alle drei Gruppen verteilt und unterschieden sich zu einem großen Teil nach nationaler Zugehörigkeit. Zum Beispiel argumentierten französische KollegInnen aus der ArbeitnehmerInnengruppe, dass der Übergang ohne den Einsatz von Kernkraft kaum zu sozial akzeptablen Bedingungen zu schaffen sei, Arbeitsplätze auf dem Spiel stünden, die europäische Industrie ins Hintertreffen geraten würde und dass andere EU-Staaten Atomstrom importieren würden.

Demgegenüber wird in der EWSA-Stellungnahme jedoch sehr wohl darauf verwiesen, dass strikt nach dem Vorsorgeprinzip vorgegangen werden muss, sodass auch die Risiken und Gefahren berücksichtigt werden müssen. Außerdem ist die Vermeidung erheblicher Beeinträchtigung anderer ökologischer Ziele einzuhalten, und die Glaubwürdigkeit der Taxonomie muss gewahrt werden, damit sie die Erwartungen erfüllt. Daher muss unbedingt berücksichtigt werden, dass in großen Teilen der europäischen Zivilgesellschaft massive Zweifel an der Nachhaltigkeit von Kernkraft oder auch Erdgas und Landwirtschaft herrschen. Inzwischen droht die Aufnahme der Kernenergie in die Taxonomie, wozu sich eine Mehrheit im EU-Rat abzeichnet, das Vertrauen in dieses Projekt tatsächlich zu gefährden. Das Mindeste wäre es daher, umstrittene Wirtschaftstätigkeiten (wie eben Kernkraft) losgelöst von der Taxonomie zu behandeln.

Mangelhafte demokratische Mitgestaltung

Letztere Forderung offenbart eine weitere Schwäche der Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen. Da man sich hier im Politikbereich der Finanzmarktregulierung befindet, werden viele Maßnahmen in delegierten Rechtsakten geregelt, sodass es zu keinem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren kommt. Obwohl dieses Vorgehen nur für technische Regulierungen vorgesehen ist, wird es hier auf hochpolitische Fragen, wie eben zum Beispiel jene der geeigneten Energieform, angewandt. Fragwürdig ist auch, dass diese fachspezifischen Debatten teilweise nun ausgerechnet im Rahmen der Finanzmarktregulierung stattfinden.

Auch insgesamt ist die Einbindung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft an der Konzeption und Umsetzung der Strategie äußerst mangelhaft. Obwohl es bei ESG-Kriterien, in der Taxonomie und der Nachhaltigkeitsberichterstattung vielfach um Fragen der Arbeitswelt geht, sind vor allem Gewerkschaften nur äußerst schwach repräsentiert. Zum Beispiel findet sich in der einflussreichen Plattform für nachhaltiges Finanzwesen nur ein Vertreter des EGB.

Vernachlässigung sozialer Nachhaltigkeit

Auch die Berücksichtigung der sozialen Nachhaltigkeit hinkt in der Strategie weit hinterher. Demgegenüber wird in der Stellungnahme des EWSA ein ganzheitlicher Nachhaltigkeitsansatz gefordert, welcher ökologische und soziale Ziele gleichermaßen berücksichtigt. Denn schließlich bestimmen nicht nur der Klimawandel und Umweltschädigung die globalen Herausforderungen unserer Zeit, sondern auch eine massive Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen.

Der EWSA kritisiert, dass die vorgeschlagenen Schritte zur „Unterstützung glaubwürdiger Sozialinvestitionen“ bei Weitem nicht ausreichen, um die Lücke der Strategie im sozialen Bereich zu schließen. Die Taxonomie-Verordnung bietet zwar einen Mindestschutz, indem sie sich unter anderem auf die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation bezieht. Das reicht jedoch bei Weitem nicht, um sozialen Fortschritt zu fördern. Daher soll unter Einbeziehung der Sozialpartner zügig eine ganzheitliche Taxonomie entwickelt werden, wofür die Basis mit der europäischen Säule sozialer Rechte und den UNNachhaltigkeitszielen bereits vorhanden ist.

Die Forderung nach einer ganzheitlichen Strategie wurde auch im Rahmen der Plenardiskussion des EWSA mit der für Finanzdienstleistungen zuständigen EU-Kommissarin McGuinness vorgebracht. Außerdem wird im kommenden Jahr eine Initiativstellungnahme zum Thema „Soziale Taxonomie“ im EWSA erarbeitet werden, um der Stimme von Sozialpartnern und Zivilgesellschaft hierzu ein besseres Gehör zu verschaffen.

Umweltziele als Vorwand für fragwürdige politische Maßnahmen

Nachhaltige Finanzierung darf keineswegs als Vehikel oder Vorwand dienen, um das Rad wieder in die Zeit vor der Lehman-Pleite zurückzudrehen. So wird trotz stets wiederholter Bekenntnisse zur Finanzmarktstabilität in der allgemeinen Debatte immer wieder das Ansinnen vorgebracht, über eine gesonderte Behandlung von Klimarisiken bestehende Vorschriften aufzuschnüren und zu lockern. Zum Beispiel wird dafür lobbyiert, grüne Investitionen durch geringere Eigenkapitalquoten zu erleichtern. Dabei wird aber ignoriert, dass der Zugang zur Finanzierung nur ein geringes Problem für Unternehmen darstellt und dass vor der COVID-Krise gleichzeitig Eigenkapital aufgebaut und mehr Investitionen finanziert wurden. Banken sind vor allem deshalb gut durch die Pandemie gekommen, weil sie nach der Finanzkrise höhere Eigenkapitalpuffer vorhalten mussten und die EZB sie in dieser Zeit zur Zurückhaltung bei Ausschüttungen aufgefordert hat, um diese Puffer nicht auszudünnen.

Schwer nachzuvollziehen ist auch die Behauptung, mehr Transparenz würde europäische Unternehmen im internationalen Wettbewerb in Form höherer Kosten benachteiligen. Tatsächlich erleichtert Transparenz den Zugang zu Finanzierungen und sollte – nicht zuletzt in einem funktionierenden nachhaltigen Finanzwesen – Finanzierungskosten senken, weil sie Unsicherheit und Informationsasymmetrie reduziert. Und die Umsetzung eines nachhaltigen Finanzwesens darf auch nicht als Vorwand verwendet werden, um zentrale Bereiche der Daseinsvorsorge zu privatisieren, sodass sich diese im Portefeuille von institutionellen Investoren, Versicherern und Pensionskassen wiederfinden.

Fazit

Auch eine perfekt ausgearbeitete Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen wird nicht ausreichen, um einen gerechten Strukturwandel hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft durchzusetzen. Sie kann nur dann die gewünschten Steuerungseffekte entfalten, wenn sie in eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete allgemeine Politik eingebettet ist. Zum Beispiel schlägt sich eine klare Umweltgesetzgebung im Risikomanagement am Finanzsektor nieder und hat Einfluss auf die Profitabilität von Finanzanlagen. Daher braucht es neben dem Willen, an der Wurzel regulatorisch und industriepolitisch einzugreifen, sowie klugen Grenzausgleichsmechanismen vor allem auch zielgerichtete öffentliche Investitionen, deren Kosten durch ein gerechteres Steuersystem zu finanzieren sind. Im Rahmen der Überarbeitung der wirtschaftspolitischen Steuerung wird daher die Umsetzung einer goldenen Regel unumgänglich sein. Denn nur so lassen sich die Herausforderungen der Transformation hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise im erforderlichen Ausmaß meistern. Der private Sektor könnte so dem „Lead“ der öffentlichen Hand folgen.

Die Debatte rund um die Taxonomie zeigt aber auch, dass in allen Politikbereichen stets auf einen möglichst ganzheitlichen Ansatz zu achten ist, sodass alle relevanten Ziele berücksichtigt werden und keine neuen Problembereiche entstehen, indem andere gelöst werden. So ist eine Durchsetzung der Klimaziele, die auf Kosten der ArbeitnehmerInnen und sozialer Ziele geht und gleichzeitig einen Ausbau der Kernkraft bedingt, nicht vereinbar mit einem ganzheitlichen Nachhaltigkeits- und einem sozialen Fortschrittsbegriff.

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