Gestalten, what else? Das Update zur EU-Industriestrategie

07. September 2021

Als Reaktion auf die grüne und digitale Transformation („doppelter Übergang“) richtet die Europäische Union – zumindest teilweise – ihre Industriepolitik neu aus. Jedoch wurde mit der Corona-Pandemie schon ein Jahr nach Veröffentlichung der EU-Industriestrategie eine Aktualisierung notwendig. Sie soll Lehren aus der Bewältigung der Pandemie ziehen, einen „stärkeren Binnenmarkt für die Erholung Europas aufbauen“ und so neue Weichenstellungen für den Aufbau einer resilienten, nachhaltigen und klimaneutralen europäischen Wirtschaft schaffen. Ebenfalls erhält die strategische Unabhängigkeit in der Produktion und der Versorgung mit kritischen Gütern und Dienstleitungen einen besonderen Stellenwert, und die Regionalisierung von Liefer- und Wertschöpfungsketten sowie Bemühungen einer Reindustrialisierung sind Antworten auf aktuelle Abhängigkeitsverhältnisse, Gefährdungen der Versorgungssicherheit und Tendenzen der (De-)Globalisierung. Der aktivere industriepolitische Zugang ist ein wichtiger Schritt in der gesellschaftlichen Gestaltung laufender Transformationsprozesse, jedoch bleibt die Strategie in Zügen einer einseitigen markt- und wettbewerbszentrierten Ausrichtung treu. Um volles transformatives Potenzial zu entfalten, braucht es noch weitere Bausteine einer missionsorientierten und sozial gerechten Industriestrategie.

Die Notwendigkeit einer aktiven Strukturwandelpolitik

Europäische Industriepolitik muss aus Sicht der ArbeitnehmerInnen mehr sein als die Definition von allgemeinen Industriequoten, ein quantitativer Fokus auf Patente, das Schielen auf die Höhe der Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Innovation und deren horizontale Förderung. Vertikale Ansätze, die für die gezielte, längerfristig angelegte Gestaltung des Strukturwandels durch spezifische industrielle Technologien, Projekte und Allianzen notwendig sind, gewinnen mit der „European Digital Decade“, der „Industrie- und KMU-Strategie“ und dem „Europäischen Green Deal“ an Bedeutung. Gerade hochentwickelte, vernetzte Volkswirtschaften brauchen für ihre weitere Entwicklung eine zeitgemäße, strategische und missionsorientierte Industriepolitik. Ihre Ziele müssen fair verteilter materieller Wohlstand, gute Arbeit und hohe Beschäftigung, Lebensqualität, eine intakte Umwelt und ökonomische Stabilität sein. Außerdem muss sie ein ausgewogenes Zusammenspiel von quantitativen und qualitativen ökonomischen, ökologischen, sozialen, bildungspolitischen sowie Standort- und Wettbewerbsfaktoren verwirklichen. Eine moderne und sozialökologisch ausgerichtete Industriepolitik verlangt deshalb nach einer aktiven und stärker vertikalen Ausrichtung. Diese Notwendigkeit wurde von der Kommission erkannt und findet sich in der Aktualisierung der Europäischen Industriestrategie wieder. Die bisherige horizontale industriepolitische Linie, die auf allgemeine Industriequoten, Wettbewerb, Technologieoffenheit, den Schutz geistigen Eigentums und die Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation sowie Exzellenzinitiativen setzte, wird zwar grundsätzlich nicht verlassen, jedoch rücken von der Europäischen Daten- und Digitalstrategie und dem Europäischen Green Deal eingeleitete vertikale industriepolitische Ansätze stärker in den Mittelpunkt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Der industrielle Sektor als wirtschaftliches Rückgrat

Der industrielle Sektor ist für die gesamte österreichische und europäische Wirtschaft entscheidend: Die Wertschöpfung der Industrie ist zentral für die Volkswirtschaft und Gesellschaft. In Ländern mit starker industrieller Basis sind die Arbeitsbeziehungen konfliktfreier und stabiler. Die Industrie erfüllt auch eine zentrale Funktion im Sinne einer hochwertigen und zeitgemäßen Ausbildung – sowohl für die Erst- als auch für die Weiterbildung. Dies beeinflusst wiederum den Innovationsprozess entscheidend, da gut ausgebildete Menschen auch im Produktionsprozess innovativ sind. Deshalb muss sichergestellt werden, dass Beschäftigte in ihren individuellen Ausgangslagen bestmöglich beim Wandel von Betrieben und Branchen unterstützt werden. Der Übergang in eine digitale und klimaneutrale Wirtschaft kann nur dann gelingen, wenn die Menschen ins Zentrum der politischen Bemühungen gestellt werden. Von einer guten Fachausbildung, hochwertigen Arbeitsplätzen und einer innovativen, zukunftsfähig aufgestellten Wirtschaft und Industrie profitieren alle. Eines der wesentlichen politischen Handlungsfelder im doppelten Übergang ist daher die Gestaltung einer aktiven Strukturwandelpolitik mit besonderem Augenmerk auf eine „Just Transition“.

„Just Transition“: den gerechten Übergang gestalten!

Die Bewältigung der doppelten Transformation verlangt konkrete und regionale Strategiepläne für den Aus-/Umbau und die Ansiedelung von Industrieunternehmen. Eine einschätzbare und planbare regionalpolitische Entwicklung ist sowohl für die Unternehmen selbst als auch ihre Beschäftigten von großer Bedeutung, um mit den Veränderungen umgehen zu können und neue klimaneutrale und digitale Strukturen zu entwickeln. Die Gestaltung eines gerechten Übergangs braucht dazu entsprechende Governance-Strukturen und die Verschränkung bisher oftmals getrennt gedachter Politikfelder.

Die Verschränkung der Industrie-, Dienstleistungs-, Regional- und Arbeitsmarktpolitik ist dabei besonders wichtig, um den Strukturwandel strategisch zu begleiten. Im Übergang muss deshalb „Just Transition“ als leitendes Konzept durch eine integrative und qualitative Perspektive und einen Schwerpunkt auf beschäftigungs- und verteilungspolitische Ziele verankert werden. Mit diesem Commitment müssen alle Betroffenen, seien es die Beschäftigten, die Unternehmen, die Gemeinden und die Zivilgesellschaft, in einem regionalspezifischen Transformationsmanagement als perspektivenentwickelndes Instrument eingebunden werden. Es braucht einen starken Fokus sowie eine Verpflichtung der Unternehmen zur Aus- und Weiterbildung als auch zur Qualifizierung von Beschäftigten. Neben diesen Aspekten der Gestaltung des doppelten Übergangs im Sinne einer „Just Transition“ müssen die industriellen Strukturen – unter Beachtung ihrer regionalen und wirtschaftlichen, wertschöpfenden Verflechtung mit Dienstleistungsbereichen – auch gezielt weiterentwickelt und gefördert werden.

Den industriellen Sektor entwickeln: das Instrument der IPCEIs

Im Strukturwandel wird es für die Europäische Union als auch die einzelnen Mitgliedsstaaten äußerst relevant sein, sich in neu entstehenden Wertschöpfungsketten zu positionieren. Durch den Aufbau von Industrieallianzen und die Überarbeitung und Stärkung des Beihilfeinstruments „Important Projects of Common European Interests“ (IPCEI) zur strategischen Neuaufstellung europäischer Wertschöpfungsketten in Kernmarktsegmenten und zukunftsweisenden Schlüsseltechnologien, wie Batterien, Mikroelektronik und Wasserstoff, Prozessoren- und Halbleitertechnologien sowie Cloud-Technologien, setzt man mehr auf Kooperation und Integration, darauf, als Europäische Union wirtschaftspolitisch koordiniert vorzugehen. Bei der Anwendung und Ausgestaltung des Instruments der IPCEIs ist es aus arbeitnehmerInnenpolitischer Perspektive notwendig, die strukturpolitischen und sozialen Komponenten zu stärken. Industrieunternehmen, die in der Dekarbonisierung mit großen staatlichen Subventionen und/oder strategischen Investitions- und Innovationsförderungen unterstützt werden, müssen sich zu Auflagen zur Standort- und Beschäftigungssicherung, zur Ausbildung von Jugendlichen und zur Mitbestimmung der Beschäftigten im gesamten Prozess bekennen und verpflichten. Es muss außerdem gelten, dass Verstöße gegen arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen zu einem Ausschluss aus dem Instrument und zu einer Rückforderung der Förderung führen müssen. Die erheblichen öffentlichen Investitionen tragen entscheidend zum Unternehmenserfolg bei, weswegen deren Rückforderung inklusive einer fairen Verzinsung (bei entsprechender Gewinnentwicklung) im Sinne der Allgemeinheit geboten ist. Darüber hinaus sollte die Option offenstehen, dass der Beitrag der öffentlichen Hand in Form einer Beteiligung am Unternehmen eingebracht wird. Eine Verpflichtung eines fairen Rückforderungsmechanismus (z. B. in Form einer Claw-back-Klausel) für alle Mitgliedsstaaten ist notwendig, um eine allenfalls wettbewerbsverzerrende Wirkung innerhalb des Binnenmarkts zu verhindern. Ebenso sollten Steuervermeidung, Steuerhinterziehung oder aggressive Steuerplanung als Ausschlusskriterien gelten.

Den Rahmen abstecken: Monitoring und Zielsetzungen

Strategische Abhängigkeiten von Handelspartnern, etwa bei Rohstoffen, pharmazeutischen Chemikalien, Batterien, Halbleitern etc., haben zu Engpässen in der Versorgung und Produktion geführt und sich in der COVID-19-Krise für die Resilienz des Binnenmarkts als besonders nachteilig erwiesen. Stärkere strategische Investitionen in solchen Bereichen schaffen nicht nur größere Ressourcenautarkie für Europa, sondern generieren auch neue, hochwertige Arbeitsplätze. Bei den noch vorzulegenden konkreten Maßnahmen ist die soziale Dimension des Binnenmarktes, etwa bei der Überarbeitung der Wettbewerbsregeln, besonders zu berücksichtigen. Resilienz und Prosperität erfordern auch soziale Sicherheit und breite Kaufkraft. Daher ist zu gewährleisten, dass es zu keinen „Race-to-the-Bottom“-Entwicklungen im Bereich von sozialen, ökologischen und arbeitnehmerInnen-relevanten Standards kommt. Insbesondere müssen unsolidarische Formen des Steuerwettbewerbs und Sozialdumpings zwischen den Mitgliedsstaaten stärker unterbunden werden.

Damals wie heute stellen hohe Arbeitslosenzahlen und steigende Armut ein zentrales Problem in der Europäischen Union dar. Die Verfolgung einer angebotsorientierten, unternehmensgetriebenen Binnenmarktpolitik unter Heranziehung von entsprechenden Wettbewerbsindikatoren hat sich in den Krisen als unzulänglich erwiesen. Es braucht daher die Verankerung einer zeitgemäßen Messung und Überwachung industrieller Entwicklung über die bisher reine Fokussierung auf Wettbewerbsfähigkeit durch Innovationspolitik und quantitativ bemessenen Leistungsindikatoren hinaus. Im Gegensatz dazu sollte eine wesentlich stärkere Orientierung der Messung an der Qualität des Standorts und dem Beitrag zu Nachhaltigkeitszielen und Wohlstand, etwa auf Basis der 17 Sustainable Development Goals (SDGs), verankert werden.

Strategische Autonomie

Die COVID-19-Pandemie hat wie ein Brennglas die hohe Abhängigkeit der europäischen Industrie von internationalen Liefer- und Wertschöpfungsketten unter anderem in Bezug auf Medizinprodukte aus Drittstaaten sichtbar gemacht. Doch auch darüber hinaus bestehen Abhängigkeiten von globalen Wertschöpfungsketten in sensiblen Bereichen. Diese sind nicht zuletzt auch Konsequenz einer einseitig auf Liberalisierung und Deregulierung globaler Märkte ausgerichteten Handelspolitik. Vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Spannungen und Extremwetterereignisse ist davon auszugehen, dass globale Wertschöpfungsketten weniger zuverlässig sein werden und der Versorgungssicherheit ein noch größerer Stellenwert zukommen wird. Allein die Diversifizierung von Wertschöpfungsketten, wie aktuell in der EU-Handelspolitik forciert, wird zu kurz greifen. Stärkung und Aufbau von lokalen Produktionskapazitäten und regionalen Wirtschaftskreisläufen müssen daher forciert und durch industriepolitische Initiativen, wie z. B. IPCEIs, unterstützt werden. Produktionskapazitäten in strategisch wichtigen Bereichen, kritische Infrastrukturen sowie reproduktive gesellschaftliche Kapazitäten der Grund- und Daseinsvorsorge (Gesundheit, soziale Dienstleistungen, Wasser, Wärme, Strom oder öffentlicher Verkehr) sind zu stärken und auszubauen.

Leider hat es die Kommission mit der Aktualisierung zur Industriestrategie verabsäumt, die mit dem Rohstoffabbau häufig einhergehenden Umweltkatastrophen, schweren Menschenrechtsverletzungen sowie die Ausbeutung von Beschäftigten zu adressieren. Gerade in Fragen der strategischen Abhängigkeiten und des Außenhandels braucht eine zukunftsfähige Industriestrategie mehr Ambition. Im Zuge der Neuausrichtung der EU-Handelspolitik sollten einklagbare Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards in den Handelsverträgen verankert werden. Ebenso braucht eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik verbindliche und gesetzliche Sorgfaltspflichten der Unternehmen entlang der gesamten Lieferkette. Die Sorgfaltspflichten sollten ebenfalls die Rohstoffherkunft inkludieren.

Stärkung der Resilienz des Binnenmarktes

Wie die Corona-Pandemie und die mit ihr verbundenen Auswirkungen gezeigt haben, muss die Krisenanfälligkeit des Binnenmarkts gestärkt werden. Einerseits, um strategische Abhängigkeiten zu reduzieren, und andererseits, um den Binnenmarkt im Umgang mit dem doppelten Übergang krisenfester zu machen. Die Aktualisierung der Industriestrategie enthält dazu einige Vorschläge, die jedoch im Detail nach einer kritischen Auseinandersetzung verlangen. Gerade in Fragen des Binnenmarktes ist eine stärkere Berücksichtigung der ArbeitnehmerInnen- und VerbraucherInneninteressen unbedingt notwendig, um dem Ziel eines fairen doppelten Übergangs näherkommen zu können. Eine einseitige Perspektive auf Unternehmensinteressen greift sicherlich zu kurz und wäre bereits Ausdruck des Gegenteils eines fairen und gerechten Wandels. Dementsprechend muss bei einer vollständigen Durchsetzung der Dienstleistungsrichtlinie das demokratische Prinzip gewährleistet werden, und es darf zu keiner Blockade nationaler Regeln im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen kommen. Jedenfalls braucht die Task-Force zur Beseitigung regulatorischer Bestimmungen die Einbindung der Sozialpartner und KonsumentInnenschützer. Ebenso helfen eine effektivere Durchsetzung der Entsenderichtlinie als auch eine verpflichtende europaweite Anwendung des Bestbieterprinzips bei öffentlichen Ausschreibungen, den Binnenmarkt gerechter und auch resilienter zu gestalten.

Bausteine für eine zukunftsfähige Industriestrategie

Mit der europäischen Industriestrategie und der nun vorliegenden Aktualisierung möchte die Europäische Union nicht nur den doppelten Übergang weiter beschleunigen, sondern auch die strategischen Abhängigkeiten der Europäischen Union von Drittstaaten reduzieren, den Binnenmarkt stärken und ihn krisenfester organisieren. Die Neuorientierung der Europäischen Union hin zu einer aktiven und vertikalen Industriepolitik ist sicherlich ein wichtiger und längst überfälliger Schritt, um die mit dem doppelten Übergang verbundenen großen Herausforderungen zu bewältigen. Trotzdem müssen einige der Bausteine der Industriestrategie verbessert und qualitativer integriert bzw. nachgeschärft werden, um einen fairen und gerechten Übergang zu gewährleisten. Die Vorschläge dazu liegen längst auf dem Tisch. Es braucht nur noch den politischen Willen zur Gestaltung einer zukunftsfähigen europäischen Industrie.

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