Große Herausforderungen – aber auch Chancen
Am Beginn des neuen Jahrzehnts steht Europa vor großen Herausforderungen. Die COVID-19-Pandemie ist dabei nur eine Ouvertüre zu den großen strukturellen Veränderungen, die die europäische Wirtschaft in den kommenden Jahren maßgeblich prägen werden. Die Notwendigkeit, die energetische Basis unseres Wirtschaftsmodells auf neue und vor allem erneuerbare Beine zu stellen, stellt dabei nur eine der großen Herausforderungen dar. Bioökonomie, Kreislaufwirtschaft und der Umbau unserer bestehenden Infrastrukturen in Richtung einer nachhaltigen und CO2-neutralen Nutzung und Produktion stellen eine tiefgreifende Umorientierung dar. Hinzu kommt noch die rasant voranschreitende und umfassende Digitalisierung. Diese Herausforderungen bergen aber auch enorme Potenziale für zukünftige Beschäftigung und Wertschöpfung innerhalb Europas.
Die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union reagiert damit nicht nur auf die generellen Entwicklungen der Dekarbonisierung und Digitalisierung, sondern auch auf den interventionistischen wirtschafts- und industriepolitischen Ansatz Chinas und auf die protektionistischen Tendenzen in den USA. Diese Entwicklungen verlangen nach einer europäischen Antwort und haben den Ruf nach einer aktiven und strategischen Industriepolitik lauter werden lassen. Die EU aktualisiert ihre im März 2020 vorgestellte Industriestrategie daher bereits nach einem Jahr. Die neue Version wird am 28. April 2021 erwartet. Im Gegensatz zu Österreich, wo die Standort- bzw. Industriestrategie 2040 noch im Ankündigungsstadium verharrt.
Die Europäische Union ändert ihre Strategie
Damit zeichnet sich eine teilweise Umorientierung in der europäischen Industriepolitik ab, denn bisher verfolgte die EU einen horizontalen industriepolitischen Ansatz, der auf Wettbewerb, Technologieoffenheit, den Schutz geistigen Eigentums und die Förderung von Exzellenzinitiativen in Hochschulen, Forschung und Lehre setzte. In Reaktion auf das sich verändernde geopolitische Umfeld traten in der letzten Zeit sukzessive vertikale Ansätze in den Vordergrund. Mit der European Digital Decade, der Industrie- und KMU-Strategie und dem European Green Deal stellt sich die EU industriepolitisch neu auf. Die Gelder dafür soll der EU-Haushalt (30 Prozent sind für Klimamaßnahmen vorgesehen) und die „Fazilität für den Wiederaufbaufonds“ bereitstellen. Letztere beinhaltet ebenfalls Quoten für digitale (20 Prozent) und klimapolitische Maßnahmen (37 Prozent). Aufbauend auf der Idee des Juncker-Plans, der Invest-EU-Initiative und der Neuausrichtung der Europäischen Investitionsbank hin zu einem stärkeren Fokus auf die Finanzierung der Energiewende und des grünen Strukturwandels, können die Strategien als umfassendes industrie- und wirtschaftspolitisches Programm angesehen werden, welches im Gegensatz zu früher eine viel stärkere Betonung des öffentlichen Sektors und der öffentlichen Steuerung bei der Strategie zur Erreichung des Ziels von nachhaltigem Wachstum sowie digitalen und klimarelevanten Investitionen erkennen lässt.
Trotz der oft vorgebrachten Kritik an der grundsätzlich doch sehr marktzentrierten Perspektive und am Fehlen von stärker lenkenden Elementen in den beiden Schwerpunktprogrammen, um einen sozialen, nachhaltigen und fairen Umbau zu erreichen, stellen diese – und die sie begleitenden Initiativen, legislativen Richtlinien und Verordnungen – eine Neuorientierung hin zu einer aktiveren Industriepolitik dar. Dennoch hat insbesondere die Industriestrategie die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zum Ziel. Dies soll auch in einem engen Monitoring überwacht werden.
Strategie benötigt! Industriepolitik ist mehr als das Schielen auf Industriequoten
In den Diskussionen um die wirtschaftspolitische Reaktion auf die geopolitischen Herausforderungen, die Klimakrise und nun auch die Corona-Pandemie erweitert sich dieser einseitige industriepolitische Fokus auf spezifische Kennzahlen (z. B. Industrie-Quoten) zunehmend um eine strategische Ausrichtung.
Industriepolitik wird nun breiter gedacht, setzt im Bereich Wettbewerbsrecht und Digitalisierung neue Schwerpunkte und präsentiert sich nun im Angesicht der Klimakrise als wirtschaftspolitische Strategie, welche auch das Umfeld für die Erzeugung erneuerbarer Energien, den Umgang mit Ressourcen in einer Kreislaufwirtschaft und das Thema der grünen Finanzierung (z. B. green bonds, green loans etc.) einschließt. Damit soll eine neue Entwicklungsstrategie etabliert werden, die der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung ein Ziel und einen Rahmen gibt. Ziel ist dabei nicht die sozial-ökologische Transformation unserer Produktions-, Arbeits- und Konsumweisen, sondern die weitere Entfaltung „grüner“ Wachstumspotenziale und der Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
Es steht also eine umfassende industrie- und wirtschaftspolitische Strategie auf der Agenda, mit dem Ziel, spezifische Wertschöpfungsketten zu entwickeln. Als zukunftsweisend wurden dabei die Schlüsseltechnologien Mikroelektronik, Hochleistungscomputer und Batteriezellfertigung identifiziert. Daneben wurden sechs weitere wichtige strategische Wertschöpfungsbereiche für Europa genannt: vernetzte, saubere und autonome Fahrzeuge, Smart Health, CO2-arme Industrie, Wasserstofftechnologien und -systeme, Internet der Dinge und Cybersecurity. Die Entstehung bzw. Förderung dieser zentralen Wertschöpfungsketten soll mittels länderübergreifender Industrieallianzen und mithilfe des Beihilfeinstruments der „Important Projects for Common European Interest“ (IPCEI) erfolgen. Dieses Instrument erlaubt staatliche Beihilfen über den Forschungsbereich hinaus bis hin zur „ersten gewerblichen Nutzung“. Österreich versucht im Bereich Mikroelektronik, Batterien und Wasserstoff sich ebenfalls in diese neuen europäischen Wertschöpfungsketten einzuklinken.
Mit der COVID-19-Pandemie trat zusätzlich noch die Frage nach einer strategischen wirtschaftspolitischen Autonomie Europas bei Arzneimittel- und Medizinprodukten stärker ins Zentrum der politischen Bestrebungen. Und so verfolgt die EU nun doch einen inhaltlich relativ breiten Ansatz in Sachen Strukturwandel.
Industriepolitik 5.0: Wie geht es weiter?
Der Versuch, in der EU aktive Industriepolitik zu betreiben, ist angesichts der großen Herausforderungen jedenfalls zu begrüßen. Es wird sich jedoch noch zeigen, ob es gelingt, eine wirklich umfassende Industriestrategie zu entwickeln, die strategische Wertschöpfungsketten in der EU etabliert, um Beschäftigung und nachhaltigen Wohlstand für den europäischen Binnenmarkt zu erzeugen und zu sichern.
Der strukturelle Wandel von Industrie und Wirtschaft, den die EU in den nächsten zehn Jahren bewältigen muss, wird aber auch zu VerliererInnen und GewinnerInnen führen. Es stellen sich somit Fragen, wer vom notwendigen raschen Umbau hin zu einer ökologisch nachhaltigen und zukunftsfähigen Industrie profitiert und wer davon benachteiligt wird. Damit wird auch deutlich, dass ein solcher Strukturwandel im Kern eine soziale und verteilungspolitische Frage in mehreren Dimensionen darstellt. Einerseits im Hinblick auf die unterschiedliche Betroffenheit durch die Auswirkungen der Klimakrise, andererseits hinsichtlich der Frage eines sozial ausgewogenen Lastenausgleiches in der Finanzierung wichtiger Investitionen sowie Fragen der Teilhabe, der demokratischen Gestaltung und der regionalpolitischen Zielsetzungen. Die verteilungspolitische Dimension muss aufgrund ihres faktischen Stellenwertes gemeinsam mit der Beschäftigungspolitik ins Zentrum der politischen Initiativen rücken.
Es braucht dringend beschäftigungspolitische Ziele
Das Fehlen von expliziten beschäftigungspolitischen Zielen wiegt umso schwerer, als Digitalisierung und Dekarbonisierung zu einer substanziellen Veränderung von Beschäftigungsmöglichkeiten, Qualifizierungserfordernissen und strukturellen Änderungen im branchenspezifischen Arbeitsvolumen führen werden. Das Beispiel MAN Steyr zeigt, wie schnell Veränderungen eintreten können und wie nötig Schutzbestimmungen und Mitspracherechte für ArbeitnehmerInnen sind. Immerhin arbeiten aktuell rund 24 Prozent der Beschäftigten in der EU im Industriesektor. Je nach Industriezweig werden sie unterschiedlich stark von den Anforderungen der Digitalisierung und Dekarbonisierung betroffen sein. Konfrontiert mit den Herausforderungen der COVID-19-Krise und der damit verbundenen Rekordarbeitslosigkeit wie auch mit dem mittel- bis langfristigen Strukturwandel hin zu einer digitalen und CO2-neutralen Industrie, braucht es umfassende regional- und beschäftigungspolitische Strategien. Die derzeit bereitgestellten Mittel über den Just Transition Fund reichen in Anbetracht des Umfangs der Herausforderungen sicherlich nicht aus, um im Prozess des Wandels in ausreichendem Maße Perspektiven für betroffene Regionen und Beschäftigte zu schaffen. Im Zuge des Strukturwandels braucht es Programme, die es einerseits erlauben, die Qualifikationserfordernisse in aufstrebenden „Zukunftsfeldern“ zu erfüllen und in diesen Bereichen neue Möglichkeiten für Beschäftigte zu schaffen, und andererseits eine grundsätzliche wirtschaftspolitische Orientierung hin zu mehr Zeitwohlstand und zu einer besseren Verteilung des bestehenden Arbeitsvolumens. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die dazu genutzt werden können, sind mannigfaltig und reichen von Kurzarbeitsmodellen mit Qualifizierungsmöglichkeiten und Transformationsarbeitsstiftungen bis hin zu Modellen der Arbeitszeitverkürzung.