Schweden und Österreich: Ein Vergleich an der Spitze der EU

27. Juli 2016

Schweden und Österreich gehören heute zu den wirtschaftlich stärksten Ländern der Welt. Bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf holte Österreich Schweden schon zu Ende der Regierungszeit Bruno Kreiskys ein. Seither entwickelt sich die Wirtschaftsleistung ähnlich und liegt rund ein Viertel über dem EU-Schnitt, wenn auch in Schweden die konjunkturellen Schwankungen stärker ausfielen als im stabilen Österreich. Ungleichheit und Arbeitslosigkeit sind weniger stark ausgeprägt als in der EU, beide Wohlfahrtsstaaten zählen zu den leistungsfähigsten der Welt. Schweden und Österreich sind prädestiniert, ein progressives soziales Modell in der EU als Gegenpol zum dominanten neoliberalen Projekt zu entwickeln.

Schweden, BIP pro Kopf zu KKS, EU-Vergleich © A&W Blog
Quelle: Eurostat. © A&W Blog
Quelle: Eurostat.

Kollektivvertragliche Lohnverhandlungen nach wie vor prägend

Vor allem gehören beide Länder zu jener kleiner werdenden Gruppe von Industrieländern, in denen neokorporatistische Arrangements weiterhin eine wesentliche Rolle spielen. Dies zeigt sich unmittelbar in der großen Bedeutung von kollektivvertraglichen Lohnfestsetzungssystemen, geht aber weit darüber hinaus. In Österreich unterliegen 96% aller unselbständig Beschäftigten einem Kollektivvertrag, für Schweden weist das Working Life Country Profile von Eurofund einen Abdeckungsgrad von 84% aus, beide Werte werden von kaum einem Land in der EU erreicht. Die Lohnverhandlungen finden überwiegend auf Branchenebene statt, wobei in Österreich den Verhandlungen in der Metallindustrie eine für die gesamtwirtschaftliche Koordination prägende Lohnführerschaft zugeschrieben wird (sog. „pattern bargaining“). Koordinierte Lohnverhandlungen auf Branchenebene haben den unschätzbaren Vorteil, dass damit die Doppelrolle der Löhne gesamtwirtschaftlich sinnvoll Beachtung finden kann: Löhne sind sowohl Kosten für die Arbeitgeber und damit für den Export relevant, als auch Einkommen für die ArbeitnehmerInnen und damit für die Konsumnachfrage entscheidend.

Die Voraussetzung für gesamtwirtschaftlich erfolgreiche Kollektivvertragsverhandlungen ist ein hoher Organisationsgrad der Verhandlungspartner. In Österreich sind fast alle Arbeitgeber infolge der Pflichtmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer organisiert, auf Gewerkschaftsseite hat der Organisationsgrad über die Jahre stetig abgenommen, er liegt derzeit bei 27%. In Schweden sind 9 von 10 Arbeitgebern in Dachverbänden organisiert, der gewerkschaftliche Organisationsgrad bildet mit 70% den höchsten Wert aller EU-Länder. Starke Interessenvertretungen und kollektivvertragliche Lohnverhandlungen tragen zu sozialer Stabilität bei, die etwa in sehr geringen Streikraten zum Ausdruck kommt, haben aber auch wesentlichen Einfluss auf gesamtwirtschaftliche Indikatoren.

Hohe Arbeitslosigkeit und hohe Beschäftigung

Gemessen an den Arbeitslosenquoten ist die Arbeitsmarktlage in beiden Ländern im EU-Vergleich gut, doch sowohl in Schweden (6,9% der Erwerbspersonen), als auch in Österreich (5,8%) sind die Werte deutlich höher als gewohnt. Dies ist einerseits ein Ergebnis der Finanzmarktkrise in Europa, hat andererseits aber auch mit der starken Zuwanderung und den Problemen zunehmender Segregation der Arbeitsmärkte zu tun.

Auch bei den Beschäftigungsdaten übertreffen beide Länder den EU-Schnitt, Schweden liegt dabei noch besser als Österreich: Die Beschäftigungsquote (15 bis 64 Jahre) beträgt in Schweden 74%, in Österreich 71%. Der Beschäftigungsanteil von Menschen im Alter von 55 bis 64 Jahren ist mit 74% noch immer markant höher als in Österreich (45%, 2005 noch 30%) und auch jene von Frauen (15-64 Jahre) ist höher (73%) als bei uns (67%). Vor allem ist die Qualität der Jobs besser: Die Teilzeitquote bei Frauen ist in Österreich (47%) mittlerweile höher als in Schweden (38%). Teilzeitbeschäftigten Schwedinnen können aber im Durchschnitt deutlich mehr Wochenstunden arbeiten (eher im Bereich öffentlicher denn im Bereich privater Dienstleistungen, der mit besseren Arbeitsbedingungen einher geht) und damit auch mehr verdienen.

Weniger ungleiche Verteilung

Der Median des verfügbaren äquivalenzgewichteten Nettoeinkommens zu Kaufkraftstandards zeigt, dass der materielle Lebensstandard in der Mitte der Einkommensverteilung in Österreich und Schweden (abgesehen vom Sonderfall Luxemburg) die höchsten Werte der EU bildet.

Österreich, Schweden, Top-5, Big-5, EU-Vergleich Einkommen © A&W Blog
Quelle: Eurostat. (Der Indikator misst das verfügbare Einkommen pro Kopf unter Berücksichtigung öffentlicher Leistungen, der Haushaltsgröße und der nationalen Kaufkraft) © A&W Blog
Quelle: Eurostat. (Der Indikator misst das verfügbare Einkommen pro Kopf unter Berücksichtigung öffentlicher Leistungen, der Haushaltsgröße und der Kaufkraftunterschiede zwischen den Ländern.)

In der Verteilung der Vermögen weisen beide Länder relativ hohe Konzentration auf, das oberste Zehntel der Haushalte besitzt über 60% des Privatvermögens. Der Gini-Koeffizient der Ungleichheit der Verteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen liegt in Schweden (2014: 0,254) und Österreich (2015: 0,272) merklich unter dem EU-Durchschnitt (2014: 0,309). In beiden Ländern hat die Ungleichheit der Einkommensverteilung über einen längeren Zeitraum hinweg allerdings zugenommen.

In Schweden hat das wesentlich mit der Politik der konservativen Regierung (2006-2014) in Form von Steuersenkungen auf Einkommen und Vermögen und Transferkürzungen im Sozialbereich zu tun.

In Österreich prägt vor allem die starke Zunahme prekärer Beschäftigung (Teilzeit mit wenigen Stunden, unterbrochene Erwerbskarrieren ua) die zunehmende Ungleichheit in der Verteilung der Einkommen; die Umverteilungswirkung des Sozialstaates ist weiterhin kräftig, kann die zunehmende Ungleichheit in der Primärverteilung aber weniger ausgleichen.

Wohnpolitik in Schweden kein Vorbild

In Schweden folgten in den letzten Jahrzehnten kräftigen Boomphasen regelmäßig tiefe Rezessionen. Diese hohe Volatilität der Konjunktur war vor allem durch die starken Schwankungen der Immobilienpreise bestimmt. Ein Mix aus starkem Bevölkerungswachstum, zu geringem öffentlichen Wohnbau, steuerlicher Begünstigung von Privatverschuldung, ungenügend reguliertem Finanzsektor und niedrigen Zinssätzen führte zu kräftiger kreditfinanzierter Nachfrage nach Häusern und Wohnungen und steigenden Immobilienpreisen. Dies machte leistbares Wohnen für die Mittelschicht oft zur Illusion und sobald die Immobilienblase platzte, drohte Ungemach für den Bankensektor, die Staatsfinanzen und die Konjunktur.

Die Anzeichen eines überhitzten Immobilienmarktes sind auch heute unübersehbar: Die Haus- und Wohnungspreise haben sich seit 2000 verdoppelt, die Verschuldung der privaten Haushalte beträgt bereits 180% des verfügbaren Einkommens, in Österreich liegt sie halb so hoch. Der verschuldungsfinanzierte Bauboom treibt das Wirtschaftswachstums 2015/16 auf real 3-4%, ob das nachhaltig ist, bleibt abzuwarten.

Österreichs Wohnungsmarkt ist durch sozialen Wohnbau und Mietenregulierung viel stabiler, wenn es auch in den Ballungsräumen, vor allem in Wien, über mehrere Jahre versäumt wurde, die Neubauleistung geförderter Wohnungen den Anforderungen der rasch wachsenden Bevölkerung anzupassen. Deshalb ist in manchen Segmenten des Immobilienmarktes auch bei uns eine Blase entstanden und die Immobilienpreise sind in den letzten Jahren rascher gestiegen als gesund.

Schwedischer Sozialstaat: In Teilen nach wie vor Vorbild

Das umfassende Angebot an sozialen Dienstleistungen macht den nordischen Wohlfahrtsstaat einzigartig. Bei ähnlich hohen Gesamtkosten der Familienförderung gehen in Schweden die Hälfte der Mittel in Sachleistungen wie Krippen und Kindergärten; in Österreich ist das nur ein Fünftel. Für Pflege gibt Schweden in Relation zum BIP drei Mal so viel aus wie Österreich, ausschließlich in Form von Sachleistungen wie Heimhilfen oder Pflegeheime.

Die Vollversorgung mit sozialen Sachleistungen schützt in besonderem Ausmaß die Menschen in den Phasen am Beginn und Ende des Lebens, bringt echte Wahlfreiheit für die betreuenden Personen, investiert umfassend zugunsten von Frauen und erfüllt das Prinzip der Gleichheit. Hier kann in Österreich noch viel verbessert werden. Hingegen steht das heimische Gesundheitssystem heute in Umfang und Qualität der Leistungen besser da als das schwedische, einzig bei der Vorsorge haben die Schweden die Nase vorne.

Kein Vorbild ist auch das schwedische Bildungssystem: Die konservative Regierung hat in Schweden nicht nur Steuern gesenkt und Sozialtransfers gekürzt, sondern auch das Schulsystem privaten Anbietern geöffnet. Das sollte die Wahlfreiheit der Eltern erhöhen, mündete aber in hohen Gewinnen privater Schulbetreiber und schlechten PISA-Ergebnissen.

Gemeinsam aktiver in der EU?

Schweden und Österreich liegen bei nahezu allen Wohlstandsindikatoren besser als der Rest der EU. Sie könnten gemeinsam ein Vorbild für die anderen Länder bilden.

Doch die Bereitschaft zu einer Führungsrolle in der EU ist in Stockholm wie Wien gering ausgeprägt. Dies hat auch damit zu tun, dass die Brüsseler Vorstellungen zu Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie ArbeitnehmerInnenrechten oft in Konflikt mit den Errungenschaften der nationalen Wohlfahrtsstaaten geraten. Doch auf der anderen Seite ist auch die Vorstellung irreführend, man könne den Sozialstaat langfristig ausschließlich mit nationalstaatlichen Instrumenten bewahren. Wer den Sozialstaat sichern und ausbauen will, der muss ihn mit einer aktiven Sozial-, Beschäftigungs- und Verteilungspolitik auf europäischer Ebene absichern.

Deshalb besteht dringender Bedarf in der Europäischen Union, dem dominanten neoliberalen Projekt ein progressives soziales Projekt entgegenzustellen. Der schwedische Regierungschef Stefan Löfven stellt Fragen der Verteilung und Beschäftigung in den Mittelpunkt seiner europäischen Politik und hat für 2017 einen Gipfel der EU-Regierungschefs zu einem sozialen Europa angekündigt.