Viele politische Diskussionen drehen sich derzeit um die Frage, ob bestimmte Bevölkerungsgruppen (z. B. ArbeiterInnen) immer mehr dazu tendieren, rechte und rechtspopulistische Parteien zu wählen. Wenig beachtet wird dabei, dass viele Menschen überhaupt nicht mehr zur Wahlurne schreiten und dass sich die Wahlbeteiligung stark nach Klassenlagen unterscheidet.
Als Donald Trump 45. Präsident der USA wurde, eine Mehrheit in Großbritannien für einen Ausstieg aus der EU stimmte und rechte Parteien europaweit Wahlgewinne feierten, las man im Feuilleton beinahe täglich von „zornigen und aufbegehrenden ArbeiterInnen“, die ihren Unmut an den Wahlurnen zum Ausdruck brachten. Von bürgerlich-liberaler Seite wurde dies vor allem dazu genutzt, um sich von diesen WählerInnengruppen zu distanzieren und zu argumentieren, dass diese die Segnungen der Globalisierung schlichtweg ignorieren würden.
SozialwissenschafterInnen wie Didier Eribon oder Oliver Nachtwey versuchten demgegenüber zu zeigen, dass hinter der scheinbar unerklärlichen Wut dieser Menschen reale Abstiegserfahrungen und -gefährdungen sowie Enttäuschungen und Identitätsverletzungen liegen. Was in der Debatte jedoch häufig vergessen bzw. ausgeblendet wurde, ist die Frage, wer denn überhaupt noch zu Wahlen geht? Verzichten z. B. ArbeiterInnen – sofern sie überhaupt wahlberechtigt sind – vermehrt auf ihr Wahlrecht, da ihnen die etablierte Politik keine Antworten mehr auf ihre drängendsten sozialen Probleme bietet?
Wer geht eigentlich wählen?
Neben vielen anderen hat sich der bekannte Verteilungsforscher Thomas Piketty in seinem neuen Buch „Kapital und Ideologie“ mit den NichtwählerInnen befasst. Für ausgewählte Länder zeigt er, dass einkommensschwächere bzw. formal gering qualifiziertere Gruppen seit den 1990er-Jahren zunehmend von der Politik enttäuscht sind und gar nicht mehr wählen gehen.
Für Österreich gibt es nur wenig Forschung zum Lager der NichtwählerInnen und dessen sozialer Zusammensetzung. Aufhorchen ließ jüngst aber eine Studie der SORA-Forscherin Martina Zandonella, die bei der letzten Armutskonferenz im März 2020 präsentiert wurde. Die Sozialwissenschafterin zeigt, dass einkommensschwache Gruppen in Österreich viel seltener zur Wahl gehen als einkommensstarke Gruppen. Demzufolge verzichten im ökonomisch stärksten Drittel 17 Prozent auf ihr Wahlrecht, im ökonomisch schwächsten Drittel gehen aber satte 41 Prozent nicht zur Wahlurne. Sehr ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch für Deutschland.
Klassenlage und Wahlverhalten
Wie sieht dieses Bild nun nach Klassenlage aus? Mit den aktuellen Daten einer europaweiten Befragung zu sozialen und politischen Themen (European Social Survey, kurz: ESS) haben wir versucht, die Forschungen zu den sozialen Bedingungen des Nicht-Wählens um diesen Aspekt zu erweitern.
In unseren Analysen haben wir das EGP-Konzept (benannt nach den UrheberInnen Erikson, Goldthorpe und Portocarero) verwendet, das die Klassenlage mit dem Beschäftigtenstatus und der beruflichen Tätigkeit verbindet. Zusätzlich wird nach der Art der Regulierung des Beschäftigungsverhältnisses, also nach dem Arbeitsvertrag (ArbeiterInnen oder Angestellte), und dem Sektor (Landwirtschaft/nicht-agrarischer Sektor) differenziert. Die EGP-Klassifikation präsentiert ein mehrdimensionales Klassenschema, das folgende Klassenlagen unterscheidet:
Unqualifizierte manuell Arbeitende (z. B. BauarbeiterInnen)
Qualifizierte manuell Arbeitende (z. B. FacharbeiterInnen)
Einfache Angestellte und BeamtInnen mit Routinetätigkeiten (z. B. Angestellte im Verkauf)
Angestellte und BeamtInnen mit mittlerer Qualifikation („untere Dienstklasse“) (z. B. Angestellte in Gesundheitsberufen)
höhere und leitende Angestellte und BeamtInnen mit hoher Qualifikation („obere Dienstklasse“) (z. B. kaufmännische LeiterInnen)
Dazu haben wir noch die Gruppe der Arbeitslosen als eigene Kategorie genommen, da man diese, dem Sozialforscher Guy Standing folgend, auch als eine weitere Klassenlage verstehen kann.
Ergebnisse bestätigen: Wählen ist eine Klassenfrage
Die ersten Ergebnisse sind eindrucksvoll und bestätigen die bisherige Forschung zum Thema NichtwählerInnen. Während die obere und untere Dienstklasse mit über 86 Prozent bei der zum Erhebungszeitpunkt letzten Nationalratswahl (2017) teilgenommen hat, waren es bei den unqualifiziert manuell Arbeitenden um rund 10 Prozentpunkte weniger (rund 76 Prozent). Arbeitslose gehen am seltensten zur Wahl: Nur rund die Hälfte (53 Prozent) gibt an, an der letzten Nationalratswahl teilgenommen zu haben.