Vergesst nicht die Mitbestimmung, wenn ihr über Nachhaltigkeit sprecht!

06. April 2022

In einer atemberaubenden Geschwindigkeit mehren sich regulative Initiativen zur Förderung der Nachhaltigkeit in der Unternehmenspolitik. Einige dieser Regulierungen zielen auf die Finanzmärkte, einen Bereich, der bisher nur selbstreguliert verschiedenste Standards setzte. Die Bandbreite reicht von der EU-Taxonomie-Verordnung über den Richtlinienvorschlag zur Nachhaltigkeitsberichterstattung bis hin zum Deutschen Corporate Governance Kodex. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist klar: Ökologische Klassifizierung von Finanzprodukten ohne soziale Kriterien ist ebenso wenig Erfolg versprechend wie der Strukturwandel auf Kosten von Beschäftigung und Mitbestimmung.

Die Trendwende zur Einbeziehung von Finanzwesen und Unternehmenspolitik in regulatorische Nachhaltigkeitspolitik ist unbedingt notwendig, damit die sozial-ökologische Transformation gelingt. Was Gewerkschafter*innen schon lange wussten, verdeutlicht auch eine aktuelle – von der EU-Kommission beauftragte – Studie. Deren Ergebnissen zufolge haben sich börsennotierte Unternehmen in der Europäischen Union in den letzten 30 Jahren tendenziell eher auf kurzfristige Vorteile für die Aktionär*innen als auf das langfristige Unternehmensinteresse konzentriert, mit spürbar negativen Auswirkungen auf die soziale und ökologische Nachhaltigkeit.

Wir wollen im Folgenden einen Überblick über diese Initiativen geben. Und wir wollen problematisieren, warum gerade die Institution ausgeblendet wird, die erwiesenermaßen für eine nachhaltige Unternehmenspolitik steht: die gesetzliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer*innen. Ihre positive Wirkung auf die Nachhaltigkeit soll im Folgenden vorgestellt werden.

Die gesetzliche Mitbestimmung als Motor für eine nachhaltige Unternehmenspolitik

Die Mitbestimmung ist aus Sicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) das demokratische Gestaltungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft. Sie macht „Arbeitnehmer*innen zu Bürger*innen im Betrieb“ (so der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann). In Deutschland unterscheiden wir zwischen der betrieblichen Mitbestimmung durch den Betriebsrat (bzw. den Personalrat im öffentlichen Dienst) und der Unternehmensmitbestimmung durch den mitbestimmten Aufsichtsrat. Die Bekämpfung des Klimawandels und die Herstellung einer sozial gerechten Transformation werden nur mit und nicht gegen die Beschäftigten gelingen. Eigentlich ein Allgemeinplatz, der sich aber auch in den Nachhaltigkeitszielen (insbesondere Ziel 8) der Vereinten Nationen niederschlägt.

Aktuelle Studien bestätigen, dass Unternehmen mit einem mitbestimmten Aufsichtsrat ökonomisch erfolgreicher sind, nachhaltiger wirtschaften und besser durch Krisen kommen. Unternehmen mit starker Unternehmensmitbestimmung nutzen weiterhin – im Vergleich zu Unternehmen mit schwacher oder ohne Mitbestimmung – deutlich seltener aggressive Steuervermeidung. Weitere wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass Unternehmen mit starker Mitbestimmung mehr ausbilden, ein höheres Maß an Arbeitsplatzsicherheit bieten, mehr Frauen in den Aufsichtsrat und Vorstand berufen und die Vorstandsvergütung häufiger an Nachhaltigkeitsziele koppeln. Mitbestimmung im Aufsichtsrat erhöht zusätzlich die Chance, dass sich Unternehmen glaubhaft zur Einhaltung sozialer oder ökologischer Ziele verpflichten. Außerdem fördert ein sozialpartnerschaftliches Handeln den nachhaltigen Umbau von Produktionsprozessen, wie zum Beispiel der von der EU geförderten Kreislaufwirtschaft. Schließlich wissen die Beschäftigten an der Werkbank am ehesten, wo Ressourcen eingespart werden können und wo nicht.

Vor diesem Hintergrund spräche vieles dafür, die gesetzliche Mitbestimmung im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation zu stärken und damit auch die drohende Erosion der deutschen Unternehmensmitbestimmung zu stoppen. Diesbezüglich gibt es sehr positive Absichten aus dem Koalitionsvertrag der deutschen Ampel-Parteien, leider jedoch wenig Konkretes aus Europa. Im Gegenteil verstärkt sich unseres Erachtens der Eindruck, dass die EU-Kommission das Thema der Mitbestimmung nicht oder nur mit „sehr spitzen Fingern“ anfassen will, wird diese doch in den oben genannten europäischen Initiativen kaum oder gar nicht angesprochen.

Ermutigend ist jedoch eine im Dezember letzten Jahres vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit verabschiedete Resolution, die die EU-Kommission u. a. dazu auffordert, eine Rahmenrichtlinie zur Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung der Arbeitnehmer*innen einzuführen.

Nachhaltiges Finanzwesen

Die Expert*innengruppe der „Plattform für nachhaltiges Finanzwesen“ schlägt in ihrem Abschlussbericht zur „Sozialen Taxonomie“ ein Kriteriensystem für sozial nachhaltige Investitionen vor. Der Bericht ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer sozialen Erweiterung der EU-Taxonomie, ein Element diverser Initiativen für eine nachhaltigere Finanzwirtschaft im Rahmen des sozial-ökologischen Umbaus der europäischen Wirtschaft. Ökologische Klassifizierung kann ebenso wenig von sozialen Kriterien getrennt werden, wie der Strukturwandel auf Kosten von Beschäftigung, Geschlechtergerechtigkeit und Mitbestimmung gelingen kann.

Im Wesentlichen dient die EU-Taxonomie zwei Zwecken: Zum einen soll sie Transparenz und Einheitlichkeit am Finanzmarkt herstellen. Denn die enorme Nachfrage nach Finanzprodukten, die nachhaltige Kriterien garantieren, ging in den letzten Jahren einher mit einem Wildwuchs an privat gesetzten Standards und Ratings, die sich zum Teil widersprechen und keine Markttransparenz garantieren. Eine Studie der Bürger*innenbewegung Finanzwende zeigt, dass der Markt für nachhaltige Finanzprodukte ein strukturelles Problem hat: Zu häufig würden nachhaltige Fonds in Unternehmen investieren, die sozialen und ökologischen Kriterien nicht ausreichend genügen. Ölkonzerne sind in nachhaltigen Portfolios ebenso vertreten wie Firmen, die massiv Mitbestimmungsrechte missachten oder für eine aggressive Politik der Steuervermeidung bekannt sind. Die EU-Taxonomie soll diese Betrügereien, wie „green washing“ und „social washing“, verhindern.

Zum anderen hat sie das Potenzial, ein Steuerungsinstrument privater und öffentlicher Finanzströme zu werden, womit sie einen wichtigen Beitrag für die sozial-ökologische Transformation und den Wirtschaftsstandort Europa als Vorreiter der Nachhaltigkeit leistet.

Eine Reihe aktueller Gesetzesinitiativen (etwa zur Nachhaltigkeitsberichterstattung bei Unternehmen sowie zur Emission grüner Anleihen) sind mit der Taxonomie-Verordnung verbunden. Auch die Europäische Investitionsbank wendet die Taxonomie als Orientierungsrahmen bei Finanzierungsentscheidungen an. Es ist davon auszugehen, dass sich auch zukünftige EU-Förderprogramme an der Taxonomie orientieren werden. Mit der geforderten Erweiterung der Taxonomie um eine soziale Dimension wird einem ganzheitlichen Begriff von Nachhaltigkeit Rechnung getragen. Es geht darum sicherzustellen, dass nachhaltige Finanzprodukte auch im sozialen Bereich anspruchsvollen Kriterien genügen. Für die Gewerkschaften ist die soziale Taxonomie eine Möglichkeit, Arbeitnehmer*innenrechte über den Weg der Finanzmärkte zu stärken. Es liegt jetzt an der EU-Kommission, die Ergebnisse des Berichts in einen Gesetzestext zu fassen und Standards zu setzen, die weder den Betrug an Mensch noch an der Natur zulassen.

Nachhaltigkeitsberichterstattung

Die EU-Kommission legte einen Vorschlag zu einer Richtlinie über Nachhaltigkeitsberichterstattung vor, der die bisherigen Vorgaben zur „nichtfinanziellen Berichterstattung“ erweitert. Gewerkschaften bedauern allerdings die unpräzise Definition der Sozialfaktoren. Der DGB kritisierte u. a., dass der Richtlinienvorschlag weder die Unterrichtung und Anhörung noch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer*innen thematisiert. Dies bleibt unverständlich, sind Arbeitnehmervertreter*innen im Betriebsrat und im mitbestimmten Aufsichtsrat doch anerkanntermaßen DIE Expert*innen für gute Arbeit im Unternehmen. Diesbezüglich droht sogar ein Rückschritt gegenüber den bisherigen Vorgaben zu nichtfinanzieller Berichterstattung.

Immerhin hat der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments am 15. März 2022 eine progressive Definition der Belange der Beschäftigten beschlossen und spricht sich zudem dafür aus, dass die betriebliche Interessenvertretung in die Ausgestaltung der Berichte einbezogen werden muss. Freilich müssen diese Vorgaben noch im sogenannten Trilog mit der EU-Kommission und der Ratspräsidentschaft verhandelt werden – mit ungewissem Ausgang.

Deutscher Corporate Governance Kodex

Am 21. Januar 2022 hat die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex den Entwurf eines überarbeiteten Kodex in eine Stakeholder-Konsultation gegeben. Als geradezu klassisches „Soft Law“ müssen die Unternehmen den Empfehlungen des Kodex nicht folgen, börsennotierte Gesellschaften müssen aber eine Abweichung davon begründen („comply or explain“). Die Kodex-Reform schlägt nunmehr vor, dass „bei der Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen die ökologische und soziale Nachhaltigkeit berücksichtigt werden“.

Aus Sicht des DGB sind die Vorschläge für Änderungen am Deutschen Corporate Governance Kodex ein wichtiger, aber insgesamt noch zu zaghafter Schritt in die richtige Richtung einer zeitgemäßen Orientierung an der Nachhaltigkeit. Die Vorgaben sollten daher präzisiert und – z. B. mit Blick auf die Vorstandsvergütung – auch operationalisiert werden. Außerdem sollte der Kodex – auch mit Blick auf die Zielgruppe der internationalen Investor*innen – um Hinweise zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer*innen ergänzt werden.

Fazit und Ausblick

Nachhaltigkeit darf auch mit Blick auf Finanzmärkte und Unternehmensverfassung nicht länger eine leere Worthülse bleiben. In den vergangenen Jahren mehren sich regulative Initiativen, die erkennbar auf eine nachhaltigere Unternehmenspolitik abzielen. Bislang fokussieren diese Initiativen jedoch stark auf den Bereich der Berichterstattung und übersehen dabei, dass Transparenzvorgaben letztlich unverbindlich sind. Anstelle klarer regulativer Vorschriften für wirtschaftliches Handeln setzen Offenlegungspflichten auf die Marktsteuerung durch kritische Aktionär*innen, Verbraucher*innen sowie Beschäftigte und stoßen daher an Grenzen, z. B. durch Informationsasymmetrien. Umso wichtiger sind echte regulative Vorgaben, wie sie z. B. das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und sein geplantes europäisches Pendant vorsehen. Diese und weitere Initiativen sollten noch stärker auf dem in vielen Studien belegte Potenzial der gesetzlichen Mitbestimmung aufbauen und ihre weitere institutionelle Stärkung beinhalten. Wichtige Punkte im Rahmen der bis Mai 2022 laufenden Konferenz zur Zukunft Europas, die Gewerkschaften und Beschäftigte als Plattform für ihre Reformvorschläge nutzen.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung