Gleiches Recht für alle: Keine Paralleljustiz für Konzerne in der EU!

05. August 2022

Bereits 2018 setzte der Europäische Gerichtshof der Paralleljustiz für Konzerne in der EU in bilateralen Investitionsschutzabkommen ein Ende. Seither machte die Wirtschaftslobby Druck für neue Sonderklagerechte. Die EU-Kommission gab nach und startete eine Initiative, die die Errichtung eines eigenen EU-Investitionsgerichtshofes vorsah. Gewerkschaften und Zivilgesellschaft kritisierten diesen Vorstoß gegen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie heftig. Mit Erfolg: Beinahe unbemerkt ließ die EU-Kommission nun verlauten, dass nach Abwägen aller Argumente kein legislatives Tätigwerden gerechtfertigt sei. Ein Etappensieg.

Post-Achmea: Let the lobbying begin

Der Aufruhr in Wirtschaftskreisen war groß, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2018 in der Rechtssache Achmea die Paralleljustiz für Konzerne in bilateralen Investitionsschutzabkommen (BIT) innerhalb der EU für unionsrechtswidrig erklärte. BITs ermöglichen es europäischen Investor:innen, EU-Mitgliedstaaten vor privaten Schiedsgerichten zu verklagen, wenn sie sich beispielsweise aufgrund der Einführung neuer Gesetze zum Schutz von Arbeitnehmer:innen oder Umwelt um künftige Gewinne gebracht fühlen. Aus dem EuGH-Urteil ergab sich für alle Mitgliedstaaten die Verpflichtung, ihre jeweils bestehenden BITs mit anderen EU-Staaten zu beenden. Österreich (aber auch andere EU-Mitgliedstaaten) hat es bis dato nicht geschafft, alle seine zwölf bestehenden Intra-EU-BITs zu beenden – bis Ende des Jahres soll es jedoch endlich so weit sein.

Erst im vergangenen Jahr dehnte der EuGH seine Rechtsprechung auf den multilateralen Energiecharta-Vertrag (ECV) aus. Dies ist besonders bedeutsam, weil auf Basis dieses Vertragswerks bis dato bereits über 90 Verfahren zwischen EU-Investor:innen und EU-Mitgliedstaaten (sogenannte Intra-EU-Verfahren) eingeleitet wurden. Zuletzt haben etwa die deutschen Großkonzerne RWE und Uniper zwei Verfahren gegen die Niederlande eingeleitet, weil dort Kohlekraftwerke aufgrund des Ausstiegs aus der Kohleverstromung bis 2030 aufgelassen werden müssen. Wie soeben erst verkündet wurde, wird Uniper seine Klage nun aber aufgrund des Noteinstiegs des deutschen Staates zurückziehen müssen.

Die aktuellsten Zahlen der Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD zeigen, dass Intra-EU-Verfahren in der Praxis noch nicht der Vergangenheit angehören: 2020 waren rund 15 Prozent der insgesamt 68 neu eingeleiteten und bekannten Investitionsschutzklagen Intra-EU-Fälle. Von diesen neun Fällen betrafen fünf BITs und vier den ECV.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Seit dem Achmea-Urteil übt die Wirtschaftslobby massiven Druck auf die EU-Kommission aus, um wieder Sonderklagerechte 2.0 für Konzerne auf EU-Ebene einzuführen. Wiewohl die EU-Kommission noch 2018 in ihrer Mitteilung zum Schutz EU-interner Investitionen ausführlich dargelegt hat, dass Investor:innen in der EU umfassend geschützt sind, schwenkte sie in weiterer Folge um und leitete eine Initiative über den Schutz grenzüberschreitender Investitionen am Binnenmarkt ein, die auch die Einrichtung eines eigenen EU-Investitionsgerichtshofs vorsah. Die damalige österreichische Wirtschaftsministerin Schramböck war eine der offensivsten Unterstützerinnen eines Sonderregimes für Konzerne, das bereits im Herbst 2021 hätte präsentiert werden sollen.

Gleiches Recht für alle sicherstellen!

Gewerkschaften und Zivilgesellschaft kritisierten das Vorhaben und sprachen sich klar gegen eine Wiedereinführung eines Sonderregimes für Investor:innen aus. Mit der Beendigung der Intra-EU-BITs wurde ein wichtiger Schritt gesetzt, um die Ungleichbehandlung Rechtssuchender am Binnenmarkt zu beenden. Statt Konzerne mit üppigen Sonderrechten auszustatten, sollte die EU den gleichen Zugang zum Recht für alle sicherstellen. Und genau hier zeigt die Praxis ganz andere strukturelle Problemfelder auf.

Wie das EU-Justizbarometer 2022 festhält, sind Personen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze beim Rechtszugang stark benachteiligt. So gibt es in manchen Mitgliedstaaten kein System der Verfahrenshilfe, welches Personen mit niedrigen Einkommen von der Tragung der Prozesskosten befreit. In anderen EU-Ländern ist so eine Befreiung nur partiell vorgesehen. Besonders bedenklich erscheint vor diesem Hintergrund, dass Gerichtsgebühren gerade bei Verfahren mit niedrigen Streitwerten in einigen Mitgliedstaaten angehoben wurden und im Verhältnis zu Verfahren mit hohen Streitwerten proportional weit höher ausfallen. Wie in den Schlussfolgerungen des EU-Justizbarometers klar festgehalten, kann dies dazu führen, dass insbesondere Personen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze davon abgehalten werde, den Rechtsweg zu beschreiten.

Kein Geheimnis ist weiters, dass die Rechtsstaatlichkeit in manchen EU-Mitgliedstaaten in den letzten Jahren stark unter Druck geraten ist. Eine nachhaltige Antwort auf diese Problematik kann aber nur darin liegen, Maßnahmen zu setzen, um die Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen zu stärken. Denn wir alle sind auf eine funktionierende EU-Gerichtsbarkeit angewiesen. Ein Zwei-Klassen-Rechtssystem bewirkt indes genau das Gegenteil.

Etappensieg für die Rechtsstaatlichkeit

Was nach der Lancierung der Initiative der EU-Kommission folgte, war eine lange, auffällige Stille. Nun wurde von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt der Aktionsplan zur Kapitalmarktunion aktualisiert und eine bereits im Jänner 2021 fertiggestellte Impact-Assessment-Studie zum Investitionsschutz in der EU veröffentlicht. In der Aktualisierung des Aktionsplans hält die EU-Kommission ausdrücklich fest, dass Bedenken von verschiedenen Stakeholdern im Hinblick auf eine Sonderbehandlung für Investor:innen im Gegensatz zu anderen Gruppen wie Arbeitnehmer:innen und Verbraucher:innen anzuerkennen seien. Zudem, so die EU-Kommission, müssten die Interessen von Investor:innen öffentlichen Interessen gegenübergestellt und abgewogen werden.

Damit gibt die EU-Kommission im Grunde die von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft vorgetragenen Argumente wieder. Laut EU-Kommission gebe es keine ausreichende materielle Evidenz, die ein legislatives Tätigwerden rechtfertigen würde. Zu guter Letzt kommt die bereits erwähnte Impact-Assessment-Studie zum Ergebnis, dass die Einführung eines EU-Investitionsgerichtshofs im Vergleich zu allen anderen angeführten Vorschlägen in einem Kosten-Nutzen-Vergleich bedeutend schlechter abschneidet.

Erfreuliches Fazit daraus: Das beharrliche Engagement von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft hat dazu geführt, dass die EU-Kommission standhaft geblieben ist. Es wird keinen EU-Investitionsgerichtshof geben.

Schlägt das Imperium (erneut) zurück?

Vorsicht bleibt jedoch geboten. Denn es werden nun vorbereitende Maßnahmen getroffen, die einem neuerlichen Versuch zur Einführung von Sonderrechten den Weg bereiten könnten: So werden etwa seit heuer im EU-Justizbarometer Unternehmen über ihre Wahrnehmungen in puncto Vertrauen in die Gerichte und Effektivität von Gerichten in Investitionsschutzangelegenheiten befragt. So soll über Jahre eine Evidenzbasis dafür geschaffen werden, wie es um die Rechtsstaatlichkeit in Investitionsschutzverfahren bestellt ist.

Dieser Ansatz ist stark zu hinterfragen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass objektive Parameter wie die durchschnittliche Verfahrenslänge, Anzahl der geführten Verfahren und deren Ausgang etc. herangezogen werden müssten, um eine tatsächliche Evidenz für eine allfällige systemische Benachteiligung zu liefern.

In der Sache ist aber auch hier die Prioritätensetzung der EU zu hinterfragen. Keine andere selektive Gruppe wird im Justizbarometer zu ihren Wahrnehmungen befragt. Gerade vor dem Hintergrund der steigenden Inflation und Preise bedarf es jedoch eines engagierten Vorgehens, um sicherzustellen, dass die strukturell benachteiligte und größer werdende Gruppe von Personen unterhalb der Armutsgrenze einen effektiven Zugang zum Recht bekommt.

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