Im Frühjahr dieses Jahres entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Sonderklagerechte für Investoren innerhalb der Europäischen Union EU-rechtswidrig sind. Rechtsschutz und Auslegung von EU-Recht sind originäre Aufgaben der nationalen Gerichte und des EuGHs. Die Investor-Staat-Schiedsgerichte (ISDS) operieren aber außerhalb dieses EU-Rechtssystems. Daher ist die Anwendung von Schiedsklauseln im Binnenmarkt mit EU-Recht unvereinbar. Das Urteil ist eine Grundsatzentscheidung, die weitreichende Folgen auch für die europäische Investitionspolitik haben wird!
Auslöser war das ISDS-Verfahren „Achmea versus Slowakei“
Gegenstand des EuGH-Urteils in der Rechtssache Achmea (C 284/16) war eine Vorlagefrage des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH). Die Slowakische Republik hat auf Aufhebung des ISDS-Schiedsspruchs zugunsten von Achmea geklagt. Das Schiedsgericht, das diesen Spruch gefällt hatte, sei mit EU-Beitritt nicht mehr zuständig, da Schiedsklauseln aus bilateralen Investitionsschutzabkommen (BITs) im Binnenmarkt rechtswidrig seien. So die Argumentation der Slowakei. Der BGH legte die Frage nach der EU-Konformität wiederum dem EuGH vor. Dieser fällte sein Urteil durch die „Große Kammer“ (zwölf RichterInnen), weil es als besonders wichtig eingestuft wurde. Diese verwarf den Vortrag des Generalanwaltes, der die Zuständigkeit des Schiedsgerichtes bejahte und folgte der Rechtsmeinung der EU-Kommission: Sonderklagerechte für Investoren in EU-BITs sind vertragswidrig.
Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der niederländische Versicherungskonzern Achmea stieg anlässlich der Liberalisierung des slowakischen Krankenversicherungsmarktes im Jahr 2004 als private Krankenversicherung in den Markt ein. 2006 machte die Slowakei die Deregulierung teilweise rückgängig und verbot die Gewinnausschüttung privater Krankenversicherungen. Achmea klagte daraufhin auf Grundlage des slowakisch-niederländischen BIT. Der Konzern sah in dem Verbot eine enteignungsgleiche Maßnahme. Das BIT-Schiedsgericht sprach dann auch Achmea eine Entschädigungssumme von 22,1 Mio. Euro zuzüglich Zinsen zu. Gegen diesen Schiedsspruch ging die Slowakei vor, indem sie die Zuständigkeit des Schiedsgerichts hinterfragte.
Keine Paralleljustiz im Binnenmarkt
Der EuGH stellt in seinem Urteil fest, dass durch das ISDS-Verfahren im niederländisch-slowakischen BIT die Autonomie des Unionsrechts und die Einheitlichkeit von dessen Auslegung gefährdet sind. Er verweist dabei auf sein Gutachten zum Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (18.12. 2014), den er mit demselben Argument als unzulässig erklärte: Sein Rechtsprechungsmonopol wäre gefährdet, da sich die EU der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterwerfen würde. Auf Achmea gemünzt, hält der EuGH fest: „…Wenn eine Streitbeilegungsinstanz über europarechtliche Fragen entscheiden darf, ohne dazu verpflichtet zu sein, diese Frage dem EuGH vorzulegen…“, liege eine Unvereinbarkeit mit dem Vertag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) vor. Der EuGH geht aber noch weiter. Für ihn ist auch die Tatsache relevant, dass Rechtstreitigkeiten der nationalen Judikative entzogen und privaten Schiedsgerichten zugeführt werden. Hiermit wird auch das staatliche Gewaltmonopol beeinträchtigt.
Bilaterale Investitionsschutzabkommen aus Zeiten vor dem EU-Beitritt: Intra-EU-BITs
Das EuGH-Urteil bestätigt die Kommission vollinhaltlich. Sie hat von Anbeginn die Position vertreten, dass mit Beitritt der neuen Mitgliedstaaten (2004 bzw. 2007) die 196 Intra-EU-BITs rechtswidrig sind, weil EU-Recht Anwendungsvorrang genießt. Die Kommission ist in den letzten zehn Jahren nicht müde geworden, die Mitgliedstaaten aufzufordern, die Abkommen unverzüglich zu beenden. Doch nur die Vertragspartner können einvernehmlich BITs aufkündigen.
Die „alten“ Mitgliedstaaten, wie Deutschland, Frankreich, Österreich, Finnland, die Niederlande, feilschen wiederum seit Jahren um die Intra-EU-BITs. Sie fordern an deren Stelle alternative Mechanismen, weil ihre Wirtschaftsunternehmen angeblich Opfer von Rechtsschutzdefiziten in den neuen EU-Mitgliedstaaten sind. Diese Forderung ist jedoch äußerst fragwürdig. Investitionsschutzabkommen enthalten materielle Schutzstandards, wie den Schutz vor entschädigungsloser Enteignung, ein Diskriminierungsverbot sowie das Gebot der fairen und gerechten Behandlung. Mit dem Beitritt zur EU haben die neuen Mitgliedstaaten den EU-Besitzstand übernommen, der bereits all diese materiellen Garantien und Verfahrensgarantien enthält. Gegen die Nichteinhaltung dieser Grundsätze geht die Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren vor. Dass ein Investor aus einem anderen EU-Mitgliedstaat weiterhin Sonderklagerechte erhalten soll, ist daher nicht begründbar.
Intra-EU-BITs sind die Rechtsgrundlage für eine massive Klagewelle gegen Mitgliedstaaten. Mehr als zwei Drittel der ISDS-Klagen (146 von 213 ISDS-Fällen) gehen auf Intra-EU-BITs zurück. Verklagt werden die neuen Mitgliedstaaten sowie Griechenland, Spanien und Italien (143 der ISDS-Klagen). Konsequenterweise sind diese Länder auch Verbündete der Kommission und treten vehement für die sofortige Kündigung der Abkommen ein.
Aber nicht nur die Intra-EU-BITs sind Einfallstor für ISDS-Klagen, sondern auch die Energiecharta, ein multilaterales Investitionsschutzabkommen für den Energiesektor. Spanien sieht sich derzeit mit 39 und Italien mit zehn ISDS-Klagen europäischer Investoren konfrontiert. Auch die vor der Entscheidung stehende Causa Vattenfall gegen Deutschland (Schadenersatzforderung: 4,3 Mrd. Euro) fällt in diese Kategorie. Derzeit steht die Reform der Energie Charta zur Diskussion. Die Kommission vertritt in der Sache die Rechtsposition, dass die Energiecharta gegenüber Drittstaaten EU-konform ist. Nur die Anwendung innerhalb der EU sei rechtswidrig.
Österreich hat mit allen „neuen“ Mitgliedsländern bis auf Zypern Intra-EU-BITs abgeschlossen (zwölf von den insgesamt 67 BITs Österreichs). Dahinter stehen wirtschaftliche Interessen, denn von den insgesamt 18 bekannten ISDS-Klagen österreichischer Investoren haben sieben Klagen ein Intra-EU-BIT als Grundlage. Auch die bisher einzige ISDS-Klage gegen Österreich hat ein Intra-EU-BIT möglich gemacht: Das österreichische Traditionsunternehmen Meinl Bank klagte über eine Briefkastenholding in Malta.
Welche Folgewirkungen hat das EuGH-Urteil?
Das EuGH-Urteil ist vor diesem Hintergrund politisch von großer Bedeutung. Unmittelbare Konsequenzen hat es für die 196 Intra-EU-BITs, die vergleichbare Schiedsklauseln enthalten. Übertragbar dürften die Grundsätze des Urteils aber auch auf unionsinterne Streitigkeiten auf Grundlage der Energiecharta sein.
Die EU-Kommission hat Vertragsverletzungsverfahren – u. a. gegen österreichische Intra-EU-BITs – wiederholt angedroht und wird diese wohl jetzt auch einleiten. Bis es soweit ist, werden zwei bis drei Jahre vergehen. Bis dahin bleiben die BITs in Kraft. Es ist zu befürchten, dass zahlreiche Investoren noch das Zeitfenster für Entschädigungsforderungen nützen und entsprechende Klagen einbringen. Die Mitgliedstaaten wiederum wollen die Kommission in die Pflicht nehmen, mehr Druck auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den neuen Mitgliedstaaten auszuüben.
Die Frage, ob Schiedsklauseln in Investitionsschutzkapiteln in Drittstaatsverträgen betroffen sind, ist offen. Sie ist aber Gegenstand des EuGH-Gutachtens, das Belgien zu der Schiedsklausel des Freihandelsabkommens zwischen EU und Kanada (CETA) beim EuGH beantragt hat. Das Ergebnis des CETA-Gutachtens wird maßgeblich für die Modalitäten der ISDS-Klausel „Investment Court System“ (ICS) in bilateralen EU-Abkommen sein.
Aber auch die von der Kommission mit Vehemenz betriebene Initiative, ein multilaterales Investitionsschiedsgericht (MIC) zu errichten, ist auf ihre Rechtskonformität hin zu hinterfragen. Das MIC soll ein permanentes Schiedsgericht sein und zu ISDS-Klagen entscheiden. Hierzu wird es auch nationales und EU-Recht auszulegen haben. Die BITs mit Drittstaaten sehen in der Regel keinerlei Bestimmungen vor, die dies ausschließen. Der EuGH aber weist in seinen Urteilen und Gutachten wiederholt darauf hin, dass sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, alles zu unterlassen, was die Autonomie des Unionsrechts beeinträchtigt. Auch den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention hat er mit dieser Begründung als EU-rechtswidrig eingestuft. Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen.
Gewerkschaften und Zivilgesellschaft, die in unermüdlicher Öffentlichkeitsarbeit die Sonderklagerechte von Konzernen zu einem heiß umstrittenen Thema gemacht haben, ist es gelungen, die Legitimität des ISDS-Regimes in der breiten Öffentlichkeit nachhaltig zu hinterfragen. Die demokratie- und machtpolitischen Argumente gegen das ISDS-Regime hat eine Reformdebatte in der EU losgetreten, konnte aber bislang kein Investitionsschutzabkommen verhindern. Gerichtsentscheidungen bestätigten aber diese Anliegen: Das „Achmea“-EuGH-Urteil legt klare Grundsätze für die EU fest. Und es besteht berechtigte Hoffnung, dass in Sachen Investitionsschutz die Konzerninteressen auch außerhalb der EU auf ein demokratiepolitisch akzeptables Niveau zurückgestutzt werden.