Integrationspolitik 2020 – Zwischen Kontinuität und Kurskorrektur

12. Juni 2020

Österreich Gesellschaft ist von Zuwanderung geprägt. Hatten zu Beginn der 1960er-Jahre gerade einmal rund 1% der Wohnbevölkerung eine ausländische Staatsbürgerschaft, so gilt dies heute für mehr als 16%. Während die gesellschaftliche Entwicklung also sukzessive auf größere Diversität zusteuerte, reagierte die Bundespolitik nur verzögert mit integrationspolitischen Maßnahmen. 2010 wurde mit dem Nationalen Aktionsplan für Integration erstmals ein umfassender bundespolitischer Handlungsplan für das Politikfeld Integration von der Großen Koalition präsentiert; seine Maßnahmen in den Folgejahren entlang von sieben integrationspolitischen Handlungsfeldern umgesetzt.

Die Bildung einer türkis-blauen Koalitionsregierung bedeutete in dieser Entwicklung eine Zäsur: „Integrationspolitik kann falsche Einwanderungspolitik nicht reparieren“, schrieb das Regierungsprogramm im Jahre 2017. Integration sei eine Bringschuld der Zugewanderten, hieß es in den Regierungsverhandlungen. „Integrationspolitik auf dem Rückzug?“, fragte 2019 eine ExpertInnenanalyse im Auftrag von SOS-Mitmensch nach dem ersten Jahr der türkis-blauen Bundesregierung. Das vorzeitige Koalitionsende, die Neuwahl sowie die Bildung einer türkis-grünen Koalitionsregierung hat binnen kurzer Zeit die Karten neu gemischt. Nun fragen sich BeobachterInnen: Was wird sich durch den Koalitionswechsel integrationspolitisch verändern?


Dieser Frage geht ein aktueller ExpertInnenbericht im Auftrag von SOS-Mitmensch nach. Heimische ForscherInnen sowie PraktikerInnen aus dem Feld der Integrationsarbeit analysieren darin das Regierungsprogramm entlang der sieben Handlungsfelder „Demokratie & Anerkennung“, „Gleichbehandlung & Anti-Diskriminierung“, „Arbeitsmarkt & Sprache“, „Bildung“, „Soziales“, „Asyl & Grundversorgung“ sowie „Rechtsstaat & Fremdenrecht“. Das Ergebnis sind 28 integrationspolitische Ankündigungen, 14 relevante Leerstellen und sechs markante Nachwirkungen der abgelaufenen Regierungsperiode, die der Bericht im Regierungsprogramm ausmacht und bewertet (siehe Diagramm). Als integrativ werden im Bericht solche Ankündigungen verstanden, die Lebensperspektiven, Gleichberechtigung und Chancen sowie die aktive Teilhabe an Gesellschaft und Demokratie stärken.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Integrativer Überhang bei Anti-Diskriminierung, Arbeitsmarkt & Sprache sowie Sozialem

Die deutlichste Wendung in Richtung stärkerer Integration orten die befragten ExpertInnen im Bereich der Anti-Diskriminierung: Insbesondere die Ankündigung eines Nationalen Aktionsplans gegen Rassismus und Diskriminierung wird mit Blick auf das Vorbild Deutschland als integrativ hervorgehoben. Aber auch die Pläne stärkerer Rechtsextremismusprävention im Bildungsbereich, des stärkeren Schutzes vor Hass im Netz sowie der Schaffung einer eigenen Behörde für polizeiliche Misshandlungsvorwürfe unterstreichen einen Fokus, der im Programm der Vorgängerregierung weitgehend ausgespart geblieben war. Noch ambivalent wird hingegen die Ankündigung einer Dokumentationsstelle für religiös motivierten politischen Extremismus beurteilt: Zwar wird seitens der ExpertInnen eine solche Stelle grundsätzlich begrüßt, jedoch statt gleichwertiger Behandlung aller Formen des religiösen Extremismus eine ausschließliche Fokussierung der Einrichtung der Einrichtung auf den “politischen Islam” (er wird im Programm explizit angeführt) befürchtet, die etwa Volker Frey vom Klagsverband als gleichheitswidrig einstuft.

Überwiegend integrative Impulse macht der Bericht auch in den Bereichen Arbeitsmarkt & Sprache sowie Soziales aus. So werden die Ankündigungen einer stärkeren Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit als Kriterium für die Personalrekrutierung bei der Polizei bzw. für das Pädagogikstudium positiv hervorgehoben – obgleich die Reichweite der Mehrsprachigkeitsförderung ambitionierter ausfallen könne, wie der Germanist Hans-Jürgen Krumm konstatiert. Ebenfalls integrativ bewerten die ExpertInnen die Stärkung von Diversitätskompetenz im Gesundheitssystem und in der Verwaltung. Integrativ aber unkonkret sei schließlich die Ankündigung eines regionalen, leistbaren, qualitativ hochwertigen und mit Kinderbetreuung begleiteten Deutschkursangebots, das auch berufsspezifischer Sprachkurse umfassen soll – Zweifel werden gerade deshalb angemeldet, da ähnliche Ankündigungen seit vielen Jahren zu vernehmen seien, jedoch nach wie vor ein Mangel an Kursen bestehe.

Ähnlich ambivalent wird die von den ExpertInnen begrüßte Stärkung des Gewaltschutzes für Frauen im Integrationskontext sowie für den Fokus auf die Arbeitsmarktintegration von Frauen eingeordnet. Beides berge integratives Potenzial, jedoch sei die Form der Umsetzung entscheidend: Es brauche einen „umfassenderen Zugang zu Frauen- und Gleichstellungspolitik, der nicht auf einer Kulturalisierung von Problemen und auf noch mehr Druck auf Frauen beruht“, fasst der Bericht die Einschätzungen zusammen. Skeptischer zeigen sich die befragten ExpertInnen bezüglich des weiteren Ausbaus des Österreichischen Integrationsfonds als zentraler Drehscheibe im Sprachbereich. Die weitere Zentralisierung, Überreglementierung und Monopolstellung erschwere eine flexible und innovative Angebotsentwicklung, merkt etwa Katharina Echsel vom Verein „Peregrina“ an. Den ÖIF auf unabhängige Beine zu stellen und mit einem weisungsfreien Beirat zu versehen, schlägt deshalb Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien vor.

Desintegratives Übergewicht in den Bereichen Asyl, Demokratie und Bildung

Gemischter erweist sich das Bild im Bereich Asyl und Grundversorgung. Dort werden zwar die Pläne einer Verbesserung der Verfahrensbedingungen für geflüchtete Minderjährige sowie der – mittlerweile geradezu obligatorische – Anspruch einer Beschleunigung der Asylverfahren als integrativ bewertet. Gerade letzteres ist jedoch wiederum stark von der Art der Umsetzung abhängig, denn eine Beschleunigung darf nicht auf Kosten der Verfahrensqualität gehen. In dieser Hinsicht orten die ExpertInnen auch konkrete desintegrative Tendenzen, da mit der weiterhin geplanten Verstaatlichung der Rechtsberatung für Asylsuchende in der Bundesbetreuungsagentur aber auch durch das Fortbestehen von Isolationsplänen gegenüber AsylwerberInnen die Bedingungen für Asylsuchende während des Verfahrens leiden, wie Christoph Riedl von der Diakonie, Lukas Gahleitner-Gertz von der asylkoordination und Andrea Eraslan vom Integrationshaus anmerken.

Vorwiegend ambivalent rangieren im Bericht die Ankündigungen im Bereich von Demokratie und Anerkennung sowie im Fremdenrecht: Lediglich die Qualitätssteigerung im Dolmetsch- und Sachverständigenbereich wird von den ExpertInnen als integrative Maßnahme eingestuft. Hingegen werden die Weiterführung der bisherigen Migrationsstrategie (mit ihrer starren Trennung von Zuwanderung und Asyl) sowie die neuerliche Reform der RWR-Karte für erleichterten Fachkräftezugang ambivalent bewertet, da damit die Sorge einer Absenkung von Gehaltsgrenzen verbunden ist, wie Gernot Mitter und Franjo Markovic von der Arbeiterkammer warnen. Auch der neuerliche Ausbau von Werte- und Orientierungsmaßnahmen gilt als ambivalent. Denn neben einem integrativen Orientierungswissen für Neuzugewanderte gehe damit, so Luzenir Caixeta vom Migrantinnenzrum „maiz“, auch eine Stigmatisierung von MigrantInnen als grundsätzlich demokratieinkompetent einher. Als klar desintegrativ wird in diesem Bereich schließlich die weiterhin geplante „Sicherungshaft“ (also einer Haft ohne Tatbegehung) eingeordnet.

Die Ankündigungen im Bildungsbereich stuft der Bericht schließlich als überwiegend desintegrativ ein. Zwar sei der Plan einer Ausbildungsoffensive für PädagogInnen in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) wie auch der Ausbau von Schulsozialarbeit integrativ zu bewerten. Dem stehe allerdings aus Sicht von ForscherInnen der Universität Wien wie Stefan Hopman und Inci Dirim sowie PraktikerInnen wie Heidi Schrodt die Beibehaltung der separierenden Deutschförderklassen, die Fortführung und Vertiefung des frühzeitig selektierenden Schulwesens, die Ausweitung des Kopftuchverbots an Schulen und die – neuerliche – Verschärfung der Sanktionen bei Verletzung elterlicher Pflichten gegenüber. Das vertiefe die desintegrativen Entwicklungen der letzten Jahre. Und während diese Punkte im Programm bereits sehr konkret formuliert seien, blieben die als integrativ bewerteten Ankündigungen noch eher unkonkret formuliert.

Nachwirkungen und Leerstellen

Ankündigungen zeigen freilich stets nur eine Seite der integrationspolitischen Medaille. Erst der Blick auf deren Rückseite, d.h. auf die unbearbeiteten Nachwirkungen vergangener politischer Maßnahmen sowie die Leerstellen des derzeitigen Programms komplettieren das Gesamtbild.

Die größten Leerstellen machen die ExpertInnen dabei im Bereich Demokratie und Anerkennung aus: Sie kritisieren die nach wie vor fehlende Wertschätzung für Minderheiten, was deren Mehrsprachigkeit oder auch das vielfältige religiöse Erbe betrifft. Vor allem aber unterstreichen z.B. Rainer Bauböck vom Europäischen Hochschulinstitut Florenz oder Gerd Valchars von der Universität Wien die fortgesetzte politische Exklusion aufgrund fehlender Teilhabechancen an Wahlen sowie der Verfestigung eines der restriktivsten Einbürgerungsregimes Europas als eine Leerstelle, die mehrheitlich als desintegrativ bewertet wird.

Im Hinblick auf das Fremdenrecht sowie Asyl identifiziert der Bericht als die größten Lücken das Fortbestehen des „Fremdenrechts-Dschungels“, das Ausbleiben eines erweiterten Bleiberechts für nachhaltig Integrierte sowie die fehlende Stärkung des Menschenrechts auf Familien- und Privatleben. Generell zeige sich eine Abwehr-Perspektive in den Fremdenrechtsbehörden und der Integrationsausschluss von AsylwerberInnen als markantaste Nachwirkung der letzten Jahre.

Daran knüpfen auch die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Nachwirkungen der abgelaufenen Regierungsperiode an. Denn deren sozialpolitische Kürzungen, die Einschränkungen beim Deutschkursangebot für Asylsuchende oder die Zugangsbeschränkungen zum gemeinnützigen Wohnbau für Drittstaatsangehörige würden unverändert fortbestehen. Das Programm verabsäume auch, so das Fazit, Maßnahmen gegen die Dequalifizierung von MigrantInnen, zur stärkeren Förderung und Nutzung der vorhandenen Mehrsprachigkeitspotenziale aber auch zur Stärkung des (rechtlichen) Diskriminierungsschutzes zu setzen.

Fazit

Fünf Monate ist die neue Legislaturperiode inzwischen alt, überschattet von den Entwicklungen der Covid 19-Pandemie. Gerade diese hat jedoch eindringlich die systemrelevante, eigentlich “systemkonstitutive”, Rolle von Menschen mit Migrationshintergrund vor Augen geführt. Die britische Kampagne #YouClapForMeNow hat dies eindrucksvoll festgehalten und erinnert, dass der abendliche Applaus für die HeldInnen der Corona-Krise (oft eben mit Migrationshintergrund) in Kontrast zur sonst häufig kritischen bis ablehnenden Haltung ihnen gegenüber steht. Wenn statt „Integrationsverweigerung“ vielmehr die höchstintegrale Rolle Zugewanderter für das Fortbestehen des Dienstleistungs-, Infrastruktur- oder Sozialsystems augenscheinlich wird, dann ist daran auch die Integrationspolitik zu messen. Die Ankündigungen und Leerstellen des Regierungsprogramms stellen nach ExpertInneneinschätzung dahingehend sowohl integrative (v.a. in den Bereichen Anti-Diskriminierung, Arbeit, Soziales sowie Sprache) als auch desintegrative Tendenzen (mit Blick auf Demokratie, Bildung und Asyl/Fremdenrecht) in Aussicht – was davon letztlich realisiert wird und ob die aktuellen Entwicklungen zur Neugewichtung dieser Pläne beitragen werden, bleibt abzuwarten.

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