Ende Mai gab es Schlagzeilen zu einer möglichen Abschaffung der Notstandshilfe und die Aufregung war groß: Nur über Umwege hat eine vom Finanzministerium beauftragte Studie zur „Simulation der Umlegung der Hartz-IV-Reform auf Österreich“ die Öffentlichkeit erreicht. Im Rahmen dieser Studie wurde geprüft, wie sich die Übernahme des deutschen Modells, das de facto eine Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung nach einem Jahr vorsieht, in Österreich auswirken würde. Der politische Vorstoß dazu ist nicht ganz neu; immer häufiger wird in Österreich von jenen, die mehr der freien als der sozialen Marktwirtschaft anhängen, die Abschaffung der Notstandshilfe gefordert.
Risiko Arbeitslosigkeit – Arbeitslosengeld und Notstandshilfe in Österreich
Im Falle von Arbeitslosigkeit sieht der österreichische Sozialstaat Leistungen vor, die eine gewisse Existenzsicherung gewährleisten und vor Armut schützen sollen. Im sogenannten ersten sozialen Netz, der Sozialversicherung, kann im Anschluss an das Arbeitslosengeld, das für Alleinstehende etwa 55 Prozent des Nettoeinkommens beträgt und abhängig von der Anzahl der Versicherungsjahre und vom Alter der sozialversicherten Person maximal bis zu zwölf Monate ausbezahlt wird, in Österreich bislang die Notstandshilfe bezogen werden. Diese ist zwar einige Prozentpunkte niedriger als das Arbeitslosengeld, wird aber nur „bei Bedarf“ gewährt, sprich wenn im Haushalt kein oder ein zu niedriges Partner_innen-Einkommen vorliegt. Die Notstandshilfe entspricht einer bedarfsgeprüften Versicherungsleistung und orientiert sich ebenso wie das Arbeitslosengeld am vormaligen Erwerbseinkommen. Die österreichischen Ersatzraten sind vergleichsweise niedrig und liegen unter dem OECD-Schnitt. Voraussetzungen für die Inanspruchnahme beider Leistungen sind sowohl Arbeitslosigkeit und Arbeitsfähigkeit als auch Arbeitswilligkeit.
Risiko Arbeitslosigkeit – Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II in Deutschland
In Deutschland gab es bis Mitte der 2000er-Jahre ein ähnliches System der Absicherung. Mit den Arbeitsmarktreformen, die den Namen des Leiters der Reform-Arbeitsgruppe, nämlich des ehemaligen VW-Managers Peter Hartz, tragen, wurde das System der Versicherungsleistungen umgestellt. Arbeitslose Personen erhalten zwar nach wie vor – wenn auch seit dieser Zeit deutlich verkürzt – das Arbeitslosengeld I, das sich wie in Österreich am früheren Einkommen orientiert. Die Ersatzraten sind höher als in Österreich, betragen für Alleinstehende ca. 60 Prozent und liegen über dem OECD-Schnitt. Gleichzeitig wurde die Arbeitslosenhilfe, die in etwa der österreichischen Notstandshilfe entsprochen hat, ersatzlos gestrichen. Die Arbeitslosenhilfe wurde nämlich 2005 in die Sozialhilfe integriert. Seither sind längerfristig arbeitslose und erwerbsfähige Menschen auf die „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ (Hartz IV) angewiesen, das Arbeitslosengeld II. Dieses fällt in den Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfe und ist hinsichtlich der Voraussetzungen mit dem österreichischen Pendant der Mindestsicherung vergleichbar. Realiter bedeutet dies, dass ein Bezug nur dann möglich ist, wenn (fast) kein Vermögen vorhanden ist. Langzeitig arbeitslose Menschen sind daher, auch wenn sie seit Jahrzehnten in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben, von bedarfsgeprüften Fürsorgeleistungen auf minimalem Niveau abhängig.
Die deutsche Politik der „Aktivierung“ und ihre Folgen – Wunsch und Wirklichkeit
Nicht wenige Sozialexpert_innen bewerten Hartz IV als eine der am meisten – im wahrsten Sinne des Wortes – einschneidenden Reformen in Deutschland. Unter dem Deckmantel der „Aktivierung“ wurde bei länger andauernder Arbeitslosigkeit die Ausgliederung aus dem Versicherungsprinzip (mit anderen Worten die aus der Zwischenkriegszeit bekannte Aussteuerung) vollzogen, gepaart mit beachtlichen Leistungskürzungen, rigiden Zumutbarkeitsbestimmungen und der Notwendigkeit der Vermögensverwertung; die Erhöhung des Verarmungsrisikos all inclusive.
Etwa 70 Prozent aller Arbeitslosen in Deutschland „stecken in Hartz IV fest“, nur mehr 30 Prozent aller Arbeitslosen in Deutschland beziehen Versicherungsleistungen. Entgegen den Wünschen und Erwartungen der Erfinder_innen dieser Regelung hat sich Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt, Hartz-IV-Bezieher_innen „sind immer länger arbeitslos“ (Die Zeit, 11.Juli 2017).
Unbestritten ist die deutlich über dem EU-Schnitt gelegene Arbeitslosigkeit in Deutschland in den letzten zehn Jahren eindrucksvoll zurückgegangen. Es braucht aber kein sozial- oder wirtschaftswissenschaftliches Fachwissen, um zu erkennen, dass das Ausmaß von Erwerbslosigkeit von makroökonomischen Faktoren bestimmt wird und mit globalen wirtschaftlichen Bedingungen korreliert, mitnichten aber von der Höhe der Lohnersatzleistungen abhängt. Wie sonst ist es wohl zu erklären, dass Arbeitslosigkeit in Österreich bei gleichbleibenden monetären Ersatzleistungen aus der Arbeitslosenversicherung in den letzten Jahren gestiegen ist.
Entgegen anderslautenden Behauptungen ist das Beschäftigungswachstum hier wie dort im letzten Jahrzehnt annähernd gleich hoch ausgefallen. Ausgewählte Indikatoren verdeutlichen, dass sich Österreich beim Vergleich nicht verstecken muss: weniger Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient), geringerer Anteil von Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung, insbesondere auch bei Arbeitslosigkeit, niedrigerer Anteil an Langzeitarbeitslosigkeit. Dem gegenüber steht, dass sich die prekären Dimensionen des deutschen Arbeitsmarkts vervielfacht haben. Sie lassen sich beispielsweise aus einem höheren Anteil der Working Poor sowohl bei Vollzeit als auch bei Teilzeit gleichermaßen wie aus dem höheren Anteil von Arbeitnehmer_innen mit befristeter Beschäftigung ableiten (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1: Ausgewählte Indikatoren zu Armut und Arbeitsmarkt in Deutschland und Österreich
2015 | Deutschland | Österreich |
Gini-Koeffizient
| 30,1% | 26,7% |
Arbeitslosenquote | 4,6% | 5,6% |
Anteil der Langzeitarbeitslosen an den Erwerbspersonen | 2,0% | 1,7% |
Armuts- und Ausgrenzungsgefährdungsquote | 20,0% | 18,3% |
Armutsgefährdung arbeitsloser Menschen | 69% | 55% |
Anteil der Arbeitnehmer_innen mit befristetem Arbeitsverhältnis | 13,2% | 9,2% |
Erwerbsarmutsgefährdung bei Vollzeit | 7,1% | 5,9% |
Erwerbsarmutsgefährdung bei Teilzeit | 14,5% | 11,1% |
Quelle: Eurostat, Datenbank; Abfrage Juli 2017
Die vergleichsweise geringere deutsche Arbeitslosenquote wird von einem anderen Phänomen begleitet. Einer neuen WSI-Studie zufolge verzeichnete Deutschland im Vergleich zu den übrigen EU-Ländern den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut von 2004 bis 2014, versursacht durch die Zunahme von atypischer Beschäftigung, die Kürzung von Geldleistungen und strikte Zumutbarkeitsregeln. Die hohe deutsche In-Work-Poverty ist durch die politisch forcierte Ausbreitung des Niedriglohnsektors offensichtlich hausgemacht.
Zu den Auswirkungen des Umstiegs zu Hartz IV in Österreich
Die Berechnung zu den Auswirkungen eines Umstiegs analog der deutschen Hartz-IV-Reform – von einer aus dem Sozialversicherungsprinzip abgeleiteten Notstandshilfe hin zu einer Transferleistung der Sozialhilfe / Mindestsicherung – stellte jedenfalls eine gewisse Herausforderung für die Studienautor_innen dar. Zum einen hat das Auslaufen der Vereinbarung nach Art. 15a B-VG über eine bundesweit einheitliche bedarfsorientierte Mindestsicherung diese neuerlich zur Spielwiese der einzelnen Bundesländer gemacht, mit Leistungskürzungen für ungeliebte Gruppen. In Niederösterreich und Oberösterreich wurde beispielsweise eine Deckelung der Richtsatzleistung auf 1.500 Euro implementiert, was besonders Mehrkindfamilien trifft. Zum anderen gibt es keine validen Angaben über das verwertbare Vermögen der Gruppe der Notstandshilfebezieher_innen.
Folglich wurden von den Studienautor_innen verschiedene Szenarien berechnet, die allesamt nahelegen, dass mit der Übernahme von Hartz IV in Österreich merkbare Effekte erzielt werden können. Fuchs u. a. (2017) erläutern, dass eine der errechneten Basisvarianten ohne Vermögenstest die gesamten Ausgaben für die Notstandshilfe um etwa 673 Mio. Euro verringern würde. Bei einer Deckelung (wie derzeit in NÖ und OÖ) könnte sich dies sogar auf mehr als eine Milliarde Euro erhöhen.
Diesen potenziellen Einsparungen bei arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Ausgaben stehen massive Einschränkungen der Existenzsicherung von längerfristig arbeitslosen Menschen gegenüber. Mit einer Verringerung des Haushaltseinkommens wären immerhin 81–95 Prozent aller Notstandshilfe-Haushalte konfrontiert; höhere Einkommensungleichheit, die sich an einem steigenden Gini-Koeffizient festmachen lässt, wäre konsequenterweise die Folge.
Berechnungen, mit welchen administrativen Kosten die Erhebung der Vermögensverwertung verbunden ist, liegen keine vor. Immerhin müssten – wie derzeit bei der Mindestsicherung – sämtliche Geld- und Sachwerte, die ca. 4.300 Euro übersteigen, vor der Inanspruchnahme verbraucht oder veräußert werden.
Die möglichen Einsparungen, so räumen die Studienautor_innen abschließend ein, hätten somit einen „beträchtlichen Anstieg der Armutsgefährdung“ sowie „deutliche Änderungen der Einkommensverteilung“ zur Folge. Ferner machen sie auf schwierig zu quantifizierende, aber unweigerlich eintretende gesellschaftliche Folgekosten durch den Anstieg von Armut aufmerksam.
Kein Sozialabbau auch nach den Wahlen!
Dass die Abschaffung der Notstandshilfe und deren Ablöse durch die Mindestsicherung schon seit längerem auf der politischen Agenda steht, wurde vom Auftraggeber der Studie, dem Bundesministerium für Finanzen, umgehend dementiert. Offensichtlich sind derart einschneidende Szenarien zum Sozialabbau in Vorwahlzeiten sogar jenen Protagonist_innen politisch zu heikel, die schon im schwarz-blauen Regierungsprogramm der 2000er-Jahre eine Zusammenlegung von Sozialhilfe und Notstandshilfe vereinbart hatten.
Es bleibt abzuwarten, was nach den Wahlen im Herbst diesbezüglich verhandelt wird. Einfache Rezepte lassen sich in der Regel gut verkaufen. Die niedrigere Arbeitslosenquote in Deutschland und die Chancen auf Einsparungen im Sozialbereich werden – wider besseres Wissens – in einen linearen Zusammenhang gebracht, um Sozialabbau voranzutreiben. Es wäre nicht das erste Mal, dass drastische Kürzungen zulasten von sozial Schwachen erfolgen. Durch das Phänomen der sozialen Entgrenzung von Arbeitslosigkeit, das tief in die Mittelschicht hineinreicht, wäre aber auch diese rasch mit den verheerenden Auswirkungen von Hartz IV in Österreich konfrontiert. Verfestigung von Armut und Langzeitarbeitslosigkeit wären – wie in Deutschland auch statistisch belegbar ist – die Folge. Die Verhinderung der Verlängerung der Harmonisierung der Mindestsicherung war offensichtlich nur der erste Schritt. Der Angriff auf die Arbeitslosenversicherung ist der nächste, um auch hier einzelne benachteiligte Gruppen zu spalten, mit dem Ziel den Niedriglohnsektor auch in Österreich auszubauen. Zu befürchten ist, dass über kurz oder lang die derzeitig bewährte Form der sozialstaatlichen Sicherung insgesamt infrage gestellt wird. Der Kampf gegen den Sozialabbau ist spätestens jetzt eröffnet!
Zum Nach- und Weiterlesen:
Die Zeit (2017): Hartz-IV-Empfänger sind immer länger arbeitslos.
Michael Fuchs, Katarina Hollan, Katrin Gasior (2017): Simulation der Umlegung der Hartz-IV-Reform auf Österreich. Europäisches Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung. Im Auftrag des Bundesministeriums für Finanzen. Wien.
Dorothee Spannagel, Daniel Seikel, Karin Schulze Buschoff, Helge Baumann (2017): Aktivierungspolitik und Erwerbsarbeit. WSI Report Nr. 36, Juli 2017.