Protest oder Verhandeln? Gewerkschaftliches Handlungspotenzial im Plattformkapitalismus

10. Dezember 2019

Im Kontext von Digitalisierung und prekärer Beschäftigung reorganisieren Plattformen die Erwerbsarbeit: wenig Verantwortung, aber volle Kontrolle über die Beschäftigten. Das Eröffnen neuer Räume schafft einen Vorteil für gewerkschaftliche Organisierung.

Die breite Palette an Plattformarbeit

Man unterscheidet zwischen zwei großen Bereichen, in denen Plattformen Arbeit vermitteln und gestalten: Zum einen sind das all jene Tätigkeiten, die im weitesten Sinne immateriell sind, also deren Arbeitsprodukt sich über das Internet verschicken lässt. Die ortsunabhängige Plattformarbeit umfasst Dinge wie Übersetzungen, Softwareentwicklung oder Kreativarbeit, aber auch „einfachere“ Tätigkeiten wie das Beschlagworten von Produkten oder das „Säubern“ von Facebook und Google. Schaut man sich die globale Verteilung an, sieht man: Diese Jobs sind mehrheitlich in Regionen angesiedelt, die aufgrund der niedrigeren Lohnkosten für Auftraggeber_innen aus den kapitalistischen Zentren profitabel sind. Es gibt also globale Zentren der virtuellen Plattformarbeit.

Aufträge mittels virtueller Plattformen © A&W Blog
© A&W Blog

Und dann gibt es die ortsabhängige Plattformarbeit, also die Jobs, die an einen konkreten Raum gebunden sind. Transport, Zustellung und auch die Pflege von Menschen kann man nicht von überall aus erledigen.

Plattformen und prekäre Arbeit

Der Fall eines Münchner Plattformarbeiters vor ein paar Tagen zeigt: Das Geschäftsmodell Plattform ist nicht dazu da, um langfristig soziale Sicherheiten für die Beschäftigten zu gewährleisten. Würden sie das garantieren, dann wäre das Geschäftsmodell nicht mehr profitabel, wie auch Geschäftsführer von Plattformunternehmen eingestehen. Doch was zeichnet die Jobs aus, wenn wir von Plattformarbeit sprechen?

Am Beispiel der Essenszustellung lässt sich dies exemplarisch darstellen. Die Fahrer_innen bekommen ihre Aufträge, sobald Kund_innen bestellen (on demand). Meistens setzt sich ihr Entgelt dann aus den erledigten Aufträgen zusammen (= Stücklohn). Sie fahren mit den eigenen Fahrrädern, nutzen die eigenen Telefone und ihre eigenen mobilen Daten (eigene Arbeitsmittel sind gratis für die Plattform). Das Arbeitsverhältnis spannt sich zwischen Restaurant/Kund_in – Plattform – Fahrer_in auf (triangulär). Ohne die Plattform als vermittelnde Instanz würde die Herstellung der Dienstleistung gar nicht erst zustande kommen (digitale Intermediation). Über den spezifischen Einsatz von Technik im Rahmen von Ratings oder Algorithmen wird zudem eine möglichst große Kontrolle über den Arbeitsprozess hergestellt.

Warum braucht es Gewerkschaften in dem Feld?

Die Start-up-Ideologie bröckelt. Immer mehr dringt ins öffentliche Bewusstsein, dass diese Jobs einem sozialpolitischen Seiltanz gleichen. Deshalb erfordern Plattformen nicht nur steuerpolitisch eine Regulierung. Die Verbreitung von Stücklohn ist für das Plattformunternehmen eine lukrative Geschichte, für die Arbeitskraft hingegen eine existenzielle Gefahr. Denn pro erledigten Job bezahlt zu werden heißt auch: kein Entgelt, wenn mal wenig los ist. Ein weiterer Punkt ist die Arbeitszeitunsicherheit. Deshalb fordern protestierende Kolleg_innen auf Plattformen auch ein garantiertes Stundenausmaß. Zuletzt ist die Vereinzelung ein Thema, weil sie den Austausch mit Kolleg_innen erschwert. Kommunikationsräume für die Arbeitskräfte werden von den Plattformen nicht aktiv gefördert bzw. unterbunden, wodurch die Organisierung der Arbeiter_innen behindert wird. Arbeiter_innen schaffen dann oftmals selbstorganisiert diese Kanäle.

Ortsunabhängige Plattformarbeit: Foren und Austausch

Ortsunabhängige Arbeit spannt ein transnationales Netz an Arbeitsbeziehungen auf. In diesem Kontext grenzüberschreitender Produktionsnetze ist die virtuelle Plattformarbeit angesiedelt. Beteiligung ist von den virtuellen Plattformunternehmen nur dann gewünscht, wenn es dem Funktionieren des Arbeitsablaufs hilft. Die Organisierung der Arbeiter_innen ist nicht nur aufgrund des fehlenden gemeinsamen Arbeitsortes schwierig, sondern auch weil die Jobs im Vergleich zu den lokalen Arbeitsmärkten tatsächlich zu einem guten Einkommen führen können. Daher sind es in dieser Sparte der Plattformarbeit vor allem (Selbsthilfe-)Foren und -Gruppen in sozialen Medien, in denen sich Formen von Selbstorganisierung manifestieren.

Die bekannteste und meistbeforschte Initiative dabei ist Turkopticon, eine Browser-Extension, die es Microworker_innen erlaubt, Kund_innen zu bewerten, und so zu Transparenz beiträgt. Eine andere Initiative sind die Guidelines for Academic Requesters. Hier wird gefordert, dass Wissenschafter_innen, die über die Microwork-Plattform Amazon Mechanical Turk (AMT) ihre Survey laufen lassen, sich zu bestimmten Minimumstandards (wie z. B. einer fairen Entlohnung) verpflichten. Die „Guidelines“ sind eine der wenigen Versuche, direkt mit Konsument_innen der Dienstleistungen in Kontakt zu treten, um bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. Auch die Letter Writing Campaign an Jeff Bezos (CEO von Amazon und damit AMT) ist ein Versuch, Arbeiter_innen aus der Unsichtbarkeit herauszuholen. AMT-Arbeiter_innen sollen dabei an Bezos schreiben, um über ihre Situation als Arbeiter_innen auf der Plattform zu berichten. FairCrowd.work ist ein Projekt, an dem auch die AK und der ÖGB beteiligt sind. Auf der Website werden Plattformen auf Basis von Bewertungen durch Plattformarbeiter_innen bewertet.

Ortsabhängige Plattformarbeit: Protest und wilde Streiks

Die ortsabhängige Plattformarbeit ist ebenso durch eine Vereinzelung der Arbeitskräfte charakterisiert, und für einen Großteil sind das Übergangsjobs. Das stellt ein strukturelles Problem für gewerkschaftliche Organisierung dar. Trotzdem lassen sich zahlreiche Beispiele von Selbstorganisierung und Protest finden.

In den USA gründeten Arbeiter_innen der Taxiplattformen Uber und Lyft die App-based Drivers Association mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen auf diesen Plattformen zu verbessern. Ähnlich der Letter-Campaign versuchen sie ihre Geschichten in den politischen Diskurs zu holen und mit #DearUber und #DearLyft auf Social Media sichtbar zu machen.

In Belgien organisiert das Collectif des coursier-e-s/KoeriersCollectief Plattform-Essenszusteller_innen, in den Niederlanden die Dutch Riders Union („Deliveroo: delicious food, badly delivered“). In beiden Ländern kam es im Jänner 2018 auch zu Streiks. Während in Italien das Deliverance Project und die Riders Union Bologna Kolleg_innen organisieren, gründeten die Fahrer_innen der Plataforma Riders X Derechos BCN aus Barcelona gleich eine eigene App und Kooperative, mit dem Ziel, faire Entlohnung und eine längerfristige Perspektive für Kuriere zu ermöglichen. Auch in Finnland gibt es mit den Justice4Couriers eine Interessenvertretung für Fahrer_innen.

Zwar sind unabhängige und selbstorganisierte Zusammenhänge noch immer die zentrale Organisationsform, wie beispielsweise in Großbritannien das IWW Couriers Network und die IWGB Kuriere oder die FAU im Rahmen der Deliverunion in Deutschland. Trotzdem entdecken etablierte Gewerkschaften die Plattformjobs als potenzielles Interventionsfeld.

In manchen Regionen zeigt sich eine engere Zusammenarbeit zwischen Kollektiven von Arbeiter_innen und den großen Gewerkschaftsbünden. Das französische Colectif des Livreurs Autonomes Parisiens beispielsweise arbeitet eng mit etablierten Gewerkschaften zusammen. Fahrer_innen in Bordeaux traten der Confédération générale du travail bei. In Deutschland unterstützt die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Plattformarbeiter_innen in der Essenszustellung. In Österreich wiederum die Dienstleistungsgewerkschaft vida, die erst kürzlich den weltweit ersten Kollektivvertrag für Fahrradkuriere ausverhandelte.

Besonders spannend sind die sektor- und grenzüberschreitenden Aktionen. Als sich in Großbritannien Arbeiter_innen der Fastfood-Restaurants McDonald‘s, TGIF und Wetherspoons entschieden, in den Arbeitskampf zu gehen, wurden sie von Arbeiter_innen der Plattformen UberEats und Deliveroo im Rahmen des Fast Food Shutdown unterstützt. Mit der Transnational Couriers Federation wurde wiederum im Oktober 2018 ein internationales Kurier-Netzwerk gegründet. Der Uber & Lyft Driver Strike im Mai 2019 setzte ein eindrucksvolles Zeichen, was Selbstorganisierung alles leisten kann. Als das Kollektiv Ridshare Drivers United einen Aufruf zirkulieren ließ, dass Fahrer_innen am 8. Mai 2019 die Transportplattformen Uber und Lyft bestreiken sollen, hätte wohl niemand gedacht, dass das in einen derart großen kollektiven Protest mündet. Fahrer_innen in großen US-amerikanischen Städten, von Los Angeles über Chicago bis nach New York City, legten an diesem Tag die Arbeit nieder und forderten faire und gute Arbeitsbedingungen.

Gewerkschaften sind Bündnispartner_innen der Arbeiter_innen

Die größten Chancen für Gewerkschaften liegen in der ortsgebundenen Plattformarbeit, weil hier die Möglichkeit lokaler Regulierung am meisten gegeben ist. Gewerkschaften haben mehrere Ebenen, auf denen sie einen Einfluss auf die Gestaltung von Erwerbsarbeit nehmen können. Sie können Arbeiter_innenmacht über institutionalisierte Kanäle, wie beispielsweise über Kollektivverträge, ausüben. Ein anderer Punkt ist Organisationsmacht, also Arbeiter_innenmacht, die aus einer Kollektivität entsteht. Gerade in lokaler Plattformarbeit ist das ein Faktor, der bedeutend ist. Dafür braucht es zukünftig ein Hinlenken in der gewerkschaftlichen Organisationskultur zu mehr Selbstorganisierung von Arbeiter_innen und der Unterstützung dieser Prozesse.