Fit for 55! Hebt der europäische Grüne Deal nun ab?

16. Juli 2021

Am 14. Juli legte die Europäische Kommission in einem umfangreichen Gesetzespaket dar, wie sie die rasche Reduktion der Treibhausgase bis 2030 – „Fit for 55“ – und darüber hinaus erreichen möchte. Die Reichweite des Handels mit Emissionszertifikaten, die Besteuerung von Energie und die Rolle des Verbrennungsmotors – vieles soll sich grundlegend ändern.

Großer Zuspruch für ambitionierten Klimaschutz in der EU

Der europäische Grüne Deal ist die zentrale politische Strategie der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen, mit der Wirtschaftswachstum und Umweltschutz versöhnt werden sollen. Bereits als designierte Präsidentin hat von der Leyen im Herbst 2019 klargemacht, dass sie die weltweiten Klimaziele ernst nimmt – und Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen möchte. Die politische Stimmung zu dieser Zeit spielte ihr in die Hände. Erst im Frühjahr 2019 fand der erste weltweite Klimastreik der Fridays for Future statt. Der Brexit musste über die Bühne gebracht werden. Und die Pandemie zeichnete sich noch nicht ab. Es war die beste Zeit, um Europa hinter einem gemeinsamen Projekt zum Klimaschutz zu vereinen.

Die jüngst veröffentlichten Ergebnisse einer Eurobarometer-Sonderumfrage zeigen, dass auch die Pandemie an der großen Zustimmung zu ernsthafter Klimapolitik wenig geändert hat: 93 Prozent der befragten Europäer*innen (26.669 Bürger*innen aus unterschiedlichen sozialen und demografischen Gruppen in allen 27 Mitgliedstaaten) halten den Klimawandel für ein ernstes Problem, fast ebenso viele (90 Prozent) finden, dass die Emissionen massiv reduziert werden sollen, damit die EU bis 2050 klimaneutral ist. Auch ehrgeizige energiepolitische EU-Ziele werden von annähernd neun von zehn Europäer*innen mitgetragen. Die Hitzewellen und Unwetterkatastrophen der letzten Jahre dürften das Bewusstsein für die Gefahren des Klimawandels nachhaltig verändert haben.

Während sich beinahe zwei Drittel der EU-Bürger*innen bereits individuell um Klimaschutz bemühen, verweisen sie auf die Verantwortung der nationalen Regierungen (63 Prozent), der Industrie (58 Prozent) und der EU (57 Prozent), Strukturreformen zu ergreifen. Drei Viertel der befragten Bürger*innen sind der Meinung, dass Investitionen in den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft primär in grüne Bereiche fließen sollen. Eine große Mehrheit der Befragten erwartet sich davon auch wirtschaftliche Vorteile durch Innovation, gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen, neue Arbeitsplätze und einen Rückgang der Importe fossiler Brennstoffe.

Was bisher geschehen ist

In den letzten eineinhalb Jahren hat die Kommission unermüdlich daran gearbeitet, für die vielen Handlungsfelder, die auf dem Weg zur Klimaneutralität zu berücksichtigen sind, vorläufige Aktionspläne, Maßnahmen- und Legislativvorschläge zu erarbeiten. Den Anfang machten konkrete Vorschläge für einen Investitionsplan für Europa sowie für die Bereitstellung von Mitteln, um den Übergang zur Klimaneutralität möglichst gerecht zu gestalten („Just Transition Mechanism“). Fortgesetzt wurde der Marathon mit einer Vielzahl an Mitteilungen und Konsultationen, u. a. zu einem neuen Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft, einer europäischen Industriestrategie sowie Strategien für ein nachhaltiges Lebensmittelsystem oder eine Renovierungswelle.

Politisch akkordiert sind bisher insbesondere die Verschärfung des Klimaziels – nunmehr sollen die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 55 Prozent statt um 40 Prozent sinken – und das Budget des Fonds für einen gerechten Übergang (Just Transition Fund). Laut EU-Mobilitätsstrategie bedeutet das verschärfte Klimaziel beispielsweise im Verkehr, dass bis 2030 mindestens 30 Mio. emissionsfreie Pkw auf Europas Straßen unterwegs sind und auch der Linienverkehr auf Strecken bis 500 km klimaneutral abgewickelt wird. Auch den Gewerkschaften in der Automobilindustrie ist klar, dass damit der Löwenanteil der 2030 verkauften Neufahrzeuge bereits mit alternativen Antrieben unterwegs sein müssen.

Um gleichzeitig zu verhindern, dass Arbeitnehmer*innen in Regionen und Branchen, die im Zuge des Strukturwandels großen Anpassungsbedarf haben, besonders hart getroffen werden, sollen aus dem erwähnten Just Transition Fund gleichermaßen Investitionen in Forschung und Innovation oder Unternehmensgründungen wie die Weiterbildung und Umschulung von Beschäftigten unterstützt werden. Daneben wurde festgelegt, dass der europäische Grüne Deal auch als eine wesentliche Leitschnur für den „Aufbau“ der europäischen Wirtschaft nach der Pandemie dienen soll. Der österreichische Aufbau- und Resilienzplan wurde von der Europäischen Kommission bereits gebilligt.

Was kommt nun?

Mit der traditionell besonders heißen Phase des Sommers beginnt nun auch die erste besonders heiße Phase in der Umsetzung des europäischen Grünen Deals. Nun muss nämlich vereinbart werden, wie die wesentlich zügigere Reduktion des Treibhausausstoßes in der EU in den kommenden Jahren erreicht werden soll. Details dieses sogenannten „Fit for 55“-Pakets liegen seit Mittwoch auf dem Tisch und werden nun von allen Seiten eingehend geprüft. Aufgrund der vielen betroffenen Interessen kann der Einigungsprozess allerdings noch einmal geraume Zeit in Anspruch nehmen.

Die vorliegenden Legislativvorschläge betreffen neben dem Ausbau der erneuerbaren Energieträger und der Steigerung der Energieeffizienz unter anderem die Ausgestaltung des europäischen Emissionshandelssystems und die Besteuerung von Energie. Auch die Abgasvorschriften für die europäischen Neuwagenflotten sollen im Lichte der strengeren Klimaziele noch einmal verschärft werden. Und um die Verlagerung von Teilen der emissionsintensiven EU-Industrie in Drittstaaten („Carbon Leakage“) sowie insgesamt Wettbewerbsnachteile der europäischen Wirtschaft zu verhindern, wird die Einführung eines Systems zum Ausgleich unterschiedlicher CO2-Preise in der EU und anderswo („Carbon Border Adjustment Mechanism“) vorgeschlagen.

Vom Handel mit Emissionszertifikaten waren beispielsweise bisher die Strom- und Wärmeerzeugung, die energie- bzw. emissionsintensive Industrie (bspw. Stahlerzeugung) und die gewerbliche Luftfahrt innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums umfasst – Sektoren, die rund 40 Prozent der Treibhausgasemissionen der EU verursachen. Nun sollen auch Bereiche, die bisher größtenteils der nationalen Klimapolitik in den Mitgliedstaaten unterworfen waren – Gebäude und Verkehr –, in naher Zukunft in den Emissionshandel einbezogen und damit stärker europäisch geregelt werden. Zur Abmilderung der negativen sozialen Folgen durch Preissteigerungen ist die Zweckwidmung von Teilen der CO2-Erlöse zur Unterstützung der Haushalte vorgesehen, unter anderem durch die Einrichtung eines eigenen EU-Fonds.

Wo liegen die Herausforderungen?

Schon im Vorfeld der Veröffentlichung des größten Gesetzespakets, das die Europäische Kommission je im Klima-, Energie- und Verkehrsbereich präsentiert hat, berichtete beispielsweise die „Wiener Zeitung“ über die Herkules-Aufgabe Klimaneutralität, und der ORF betonte die Skepsis auf unterschiedlichen Seiten und strich die umkämpften Punkte hervor: Während dem Europäischen Umweltbüro (EEB) unter anderem die geplante Ausweitung des Emissionshandels auf Verkehr und Gebäude große Sorgen bereitet, weil damit die Transformationskosten übermäßig den Konsument*innen aufgebürdet werden, fürchtet BusinessEurope – als Lobbying-Verband der Industrie –, dass mit der Einführung einer CO2-Grenzabgabe und dem Ende der bisher praktizierten Gratiszuteilung von einem Teil der Emissionszertifikate der europäischen Wirtschaft große Wettbewerbsnachteile entstehen werden. Das Ziel, bis 2050 klimaneutral zu wirtschaften, wird dabei aber nicht infrage gestellt.

Auch die Interessenvertretungen der europäischen Arbeitnehmer*innen unterstützen die klimapolitischen Ambitionen und tragen insofern auch die wesentlichen Zielsetzungen des europäischen Grünen Deals mit. Sie wollen aber dafür sorgen, dass der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern sozial gerecht gestaltet wird. Der Verteilungsdimension muss im Sinne der Beschäftigten und Konsument*innen besonderes Augenmerk geschenkt werden, unabhängig davon, ob es um die Ökologisierung des Steuersystems oder die Dekarbonisierung der Industrie geht. Menschen mit geringen Einkommen sollten tendenziell sogar von der Transformation profitieren. Das gelingt dann, wenn nicht nur die Umwelt- und Gesundheitsbelastung durch schädliche Emissionen sinkt, sondern die Europäer*innen auch auf ein besseres Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgreifen können, in thermisch sanierten und angenehm temperierten Wohnungen leben und es in ausreichender Zahl gute Arbeitsplätze mit Zukunftsperspektiven gibt.

Um das zu erreichen, sind selbstredend Maßnahmen zur Gestaltung der Transformation und zur Abfederung ihrer sozialen Folgen erforderlich, unter anderem in der Industrie- (Einbindung in nachhaltigere Wertschöpfungsketten), Arbeitsmarkt- (Qualifizierung, Arbeitsstiftungen) oder Sozialpolitik (Bekämpfung von Energiearmut). Darüber hinaus verdeutlicht aber auch die Klimakrise, dass die großen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit Planung, Dialog, Zusammenhalt und einen handlungsfähigen öffentlichen Sektor benötigen. Wer sicherstellen möchte, dass die breite Mehrheit der Bevölkerung die Klimaziele weiterhin mitträgt, muss dafür sorgen, dass die wesentlichen Bedürfnisse der Europäer*innen auch in Zukunft (klimaschonend) befriedigt werden. Ohne eine leistungsfähige öffentliche Daseinsvorsorge – öffentlicher Verkehr, Energieversorgung, Schulen und Krankenhäuser, Kultur- und Freizeiteinrichtungen etc. – und einen Sozialstaat, der für alle da ist und dabei auch von Millionär*innen, großen Konzernen und Digitalisierungsgewinner*innen mehr als bisher finanziert wird, wird sich der Wandel nicht sozial gerecht bewältigen lassen.

Der aktuelle Schwerpunkt der „Wirtschaft & Umwelt“ wirft einen interessenpolitischen Blick auf den europäischen Grünen Deal.

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