„Hier sind wir, Großbritannien im Chaos“, so fasst Frances O´Grady, Generalsekretärin des britischen Gewerkschaftsdachverbandes TUC, mit schwarzem englischem Humor die Lage des Vereinigten Königreichs zusammen. Der Beschluss des Gewerkschaftsvorstandes zur politischen Strategie fügt sich in diese Charakterisierung: Ja zu einem Referendum, aber keine Empfehlung zum Verbleib in der EU.
To Brexit or not to Brexit?
Das Damoklesschwert des harten Brexits am 31. Oktober 2019 lastet merklich über dem Kongress des Trades Union Congress vom 8. bis 11. September 2019, auch wenn der entsprechende Antrag dazu bereits am ersten Tag verabschiedet wurde. Hinter den Kulissen war dem Beschluss ein harter Kampf vorangegangen. Ursprünglich war ein Bekenntnis der Gewerkschaften für den Verbleib in der EU vorgesehen. Es hielt aber den innergewerkschaftlichen Diskussionen nicht stand. Einer der drei großen Gewerkschaftsverbände (zu denen Unite, UNISON und GMB zählen) wollte eine solch klare Haltung nicht mittragen. Es sei „zu früh“ dafür, man wolle noch die Wahlen und ein Referendum abwarten.
Das alles ist aber in den nicht einmal zwei verbleibenden Monaten bis zum harten Brexit nicht möglich. Daher fokussieren sich alle Hoffnungen auf Premierminister Boris Johnson: Er möge entsprechend dem Auftrag des britischen Parlaments auf dem Gipfel des EU-Rates am 17. und 18. Oktober 2019 einen Antrag auf Verlängerung der Austrittsfrist bis Januar 2020 stellen.
Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn stellt in seiner Kongressrede klar: Ein No-Deal-Brexit führt unweigerlich zu einem Handelsabkommen von Donald Trumps Gnaden. Er verspricht Neuwahlen, bei denen sich Labour zur Berücksichtigung des Ausgangs eines zweiten Referendums verpflichtet – mit glaubhaften Optionen für einen Austritt oder Verbleib.
Die Vision von einem Nachverhandeln des Austrittsabkommens und einem sozialeren Königreich ist für ihn offenbar weiterhin Realität. Ein Nachverhandeln des Abkommens setzt jedoch voraus, dass Labour im Falle von Neuwahlen gewinnt. Und noch wichtiger: Es bedarf des Langmuts der 27 europäischen Mitgliedstaaten, einer erneuten Verlängerung zuzustimmen, die für ein ambitioniertes Programm – Referendum und Neuwahlen – schon jetzt zu kurz erscheint. Und schließlich: Was, wenn Boris Johnson keine Fristverlängerung beantragt?
Der TUC als wichtiger politischer Partner und finanzielle Säule von Labour scheint diese Strategie als erfolgversprechend anzusehen. So endete die Tischrede der Generalsekretärin von TUC mit den optimistischen Worten: „So, brothers and sisters, let´s win.“
Ich hatte einen Traum …
Labour und TUC gehen davon aus, dass Neuwahlen im Königreich die Macht in die Hände der Beschäftigten zurückbringen würde. Jeremy Corbyn konkretisiert dies in seiner Rede vor dem Kongress mit Plänen für ein Ministerium für Arbeitsrecht, eine Agentur für Beschäftigtenschutz mit Hausdurchsuchungsrechten, flächendeckende Kollektivverträge, die Einführung einer ArbeitnehmerInnenmitbestimmung im Unternehmensvorstand, einen Mindestlohn von 10 Pfund/Stunde auch für junge Beschäftigte von 16 Jahren sowie ein Ende der Null-Stundenverträge. Und er verspricht den Widerruf des „Trade Union Acts“ – in dem die Gewerkschaftsrechte 2016 stark beschnitten wurden – innerhalb der ersten 100 Tage seiner zukünftigen Amtszeit.
Ähnlichen Schwerpunkten folgt die vom TUC vorgelegte Charta für ein neues Abkommen für arbeitende Menschen, eines „New Deal for Working People“ mit sechs Forderungen: mehr Mitbestimmung, bessere und gerechte Bezahlung, bessere Kontrolle von Arbeitszeiten, sichere, zufriedenstellende und würdige Arbeit, eine Verbesserung des öffentlichen Dienstes und schließlich ein fairer Deal für Beschäftigte auf der ganzen Welt auch mit Hilfe der ILO.
Gespaltene Gesellschaft – unterschiedliche Visionen
Im Vereinigten Königreich driften nicht nur die Vermögen auseinander, sondern auch die Einkommen und Arbeitsverhältnisse innerhalb der Gewerkschaftsmitglieder.
Dies lässt sich an verschiedenen Punkten festmachen: Der TUC schlägt ein Gesetz gegen Klassendiskriminierung vor. Es basiert auf dem Gedanken, dass Menschen aus dem Arbeitermilieu beim Einstieg in die Arbeitswelt im Durchschnitt 17 % weniger Lohn erhalten als privilegiertere Personen aus anderen Gesellschaftsschichten. Nach wie vor wird um die Einführung eines Rechts auf Arbeitsverträge mit mindestens 16 Stunden Beschäftigung gekämpft, also die Abschaffung der von Arbeitgeberseite immer populärer werdenden Null-Stundenverträge. Gleichzeitig liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, die Wochenarbeitszeit zu verkürzen, sodass der Donnerstag der neue Freitag wird – für solche Beschäftigte, die in den Genuss eines normalen Arbeitsvertrages kommen. Denn was früher Normalität war, ist heute zum Luxus geworden.
Klimawandel wird als soziale Frage verortet. Denn es werden die Beschäftigten sein, die ihre Arbeitsplätze durch die Transformation der Wirtschaft verlieren. Und es sind die Beschäftigten, die von Luft- und Wasserverschmutzung am meisten betroffen sind, von Klimakatastrophen und den dadurch verursachten Fluchtbewegungen. Ob aber der Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft mit oder ohne „saubere“ Atomenergie erfolgen soll und kann, ist eine offene Frage. So forderte Labour die Regierung auf, endlich den Ausbau der Atomkraft voranzutreiben. Unternehmen in der Atomindustrie werden als Musterarbeitgeber gelobt und die Lagerung von Atommüll taucht auf einem Kongressstand als neues Geschäftsmodell für progressive Gemeinden auf – mit der Aussicht auf Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Die Richtung, die Labour-Chef Corbyn vorgibt, ist klar: „We’re going after the tax avoiders; we’re going after the bad bosses; we’re going after the dodgy landlords; we’re going after the big polluters destroying our climate; because we know whose side we’re on.”
Viel Feinabstimmung scheint es allerdings noch zum „Wie“ zu geben.