Ein Jahr nach den Schulschließungen: Lernrückstände – quo vadis?

10. Februar 2022

Die Pandemie-bedingten Schulschließungen liegen mehr als ein Jahr zurück. Schulen sind seitdem offen, und der Unterricht findet wieder im Klassenverbund statt. Haben damit auch Lernrückstände und psychische Belastungen unter Schulkindern, die im Zuge der Lockdowns in Österreich umfassend dokumentiert wurden, wieder abgenommen? Welche langfristigen Auswirkungen hinterlässt die COVID-19-Pandemie auf die Entwicklung von Schulkindern und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für die Bildungspolitik?

Lernrückstände nicht abgenommen

Der letzte Lockdown für Schulen liegt nun mehr als ein Jahr zurück. Seitdem sind Klassen und Schulen – sofern es die Infektionszahlen erlauben – durchgehend offen. Die Schule ist wieder zum primären Lernraum für Schüler:innen geworden. Mit Beginn 2021 wurden ebenfalls zwei zusätzliche Förderstunden pro Klasse in den Hauptgegenständen und Fremdsprachen eingerichtet, damit Schüler:innen potenzielle Lernrückstände, die durch lange Phasen des Homeschooling im Jahr 2020 entstanden sind, aufholen können. Folglich wäre zu erwarten, dass sich schulische Probleme im letzten Jahr deutlich reduziert haben.

Diese Erwartung wird nun durch Ergebnisse einer aktuellen Sonderbefragung der Arbeiterkammer zu den Auswirkungen der Corona-Krise widerlegt (Corona-Modul VI. der AK-Schulkostenstudie). Im Januar 2022 berichteten rund 39 Prozent aller befragten Eltern, dass ihre Kinder mit dem Lernstoff überfordert sind. Das entspricht einem Anstieg von 11 Prozentpunkten im Vergleich zum Beginn des Jahres 2021 – dem direkten Zeitpunkt nach den letzten Schulschließungen. Die Überforderung von Kindern und Jugendlichen mit dem Unterrichtsstoff spiegelt sich auch in durchschnittlich schlechteren Noten wider. Rund 38 Prozent der Schulkinder hatten im Januar 2022 zuletzt schlechtere Noten bei Schularbeiten und Tests als normalerweise (+12 Prozentpunkte im Vergleich zu Februar 2021). Zugleich belegen die aktuellen Zahlen erneut, dass Überforderungen mit dem Unterrichtsstoff überproportional häufig bei Kindern aus weniger privilegierten Familien auftreten (43 Prozent) – ein Trend, der sich seit Februar 2021 ebenfalls verstärkt hat.

Das lange Distance-Learning im Schuljahr 2020 hat bei vielen Kindern zu Schwierigkeiten mit dem Lernstoff geführt, die trotz zusätzlicher Förderstunden und einem erhöhten privaten Einsatz vieler (privilegierter) Eltern (Inanspruchnahme von Nachhilfe stieg um +10 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr) nicht nur anhalten, sondern sich sogar verstärkt haben.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Druck und Ängste

Schön früh wurden psychische Belastungen unter Schulkindern als Folge der COVID-19-Pandemie sichtbar. Die Ergebnisse früherer Corona-Sonderbefragungen zeigten, dass sich seit Beginn der Pandemie die psychische Gesundheit bei fast einem Drittel der Schüler:innen (subjektiv) verschlechtert hat. Ein Ergebnis, das konstant über alle Schultypen hinweg und unabhängig von der sozialen Stellung der Eltern beobachtbar war (Schnell & Larcher, i.E.).

Ein Jahr nach dem letzten Lockdown und nach einem Schuljahr mit offenen Schulen fühlen sich Schulkinder heute weniger einsam oder gereizt. Weiterhin stark ausgeprägt sind allerdings Verängstigungen. Rund 44 Prozent aller im Januar 2022 befragten Eltern gaben an, dass ihre Kinder heute verängstigter sind als vor Beginn der Pandemie. Besonders häufig besteht Angst vor Schularbeiten, die sich seit Februar 2021 leicht erhöht hat (+4 Prozentpunkte). Ergänzende Analysen zeigen, dass die Angst vor Prüfungen in der Schule steigt, je höher die empfundene Überforderung mit dem Lernstoff ist. Inhaltliche und fachliche Probleme im Unterricht wirken sich demnach negativ auf das subjektive Wohlbefinden von Schüler:innen aus. Für fast ein Drittel aller Schulkinder hat sich der Druck und die Angst in eine Art Distanz zur Schule umgewandelt – hin zu einem Ort, in den sie nunmehr ungern gehen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Förderprogramm langfristig verankern

Anfang 2021 wurde das „Förderstunden-Paket“ seitens der Bundesregierung eingeführt, um mögliche Lernrückstände aus dem „COVID-Schuljahr“ über zusätzliche Unterrichtsstunden bis Sommer 2022 abzubauen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese einzelne Fördermaßnahme nicht ausreicht, um die Folgen der Schulschließungen zu bekämpfen. Das Förderstunden-Paket sollte nicht nur budgetär und im Umfang erhöht, sondern für einen längeren Zeitraum verankert werden. Das würde zu mehr Planungssicherheit an Schulstandorten beitragen. Über längerfristig angestellte Lehrer:innen könnten konkrete Maßnahmen für individuelles Lernen angeboten werden – was gerade für Schüler:innen an „Halbtagsschulen“ wichtig ist, um Lernrückstände abzubauen.

In Anbetracht der angestiegenen psychischen Belastungen und Ängste unter Schüler:innen sollte auch das psychologische Personal an Schulstandorten deutlich erhöht werden. Auch wenn gegenwärtig eine Aufstockung um 20 Prozent vorgesehen ist, kommen immer noch rund 5.300 Kinder auf eine:n Schulpsycholog:in. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderungen wird sich das Betreuungsverhältnis damit nur unmerklich verbessern.

Nicht zuletzt sollten (vorübergehend) Lernzielanpassungen – ähnlich wie gegenwärtig bei der Matura – für alle Schüler:innen in verschiedenen Schulformen vorgenommen werden. Damit könnten Ängste und der angestiegene Leistungsdruck im Schulsystem zeitweise gemildert werden.

Schwachstellen im Bildungssystem beheben

Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen vor große Herausforderungen gestellt, sie hat auch das österreichische Bildungssystem insgesamt einem Stresstest unterzogen. Dabei werden die Schwachstellen schnell deutlich:

Neben der fehlenden digitalen Ausstattung, die zu Beginn der Pandemie eine große Hürde darstellte, zeigen unsere aktuellen Ergebnisse vor allem, dass der starke Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungs(miss-)erfolg von Schüler:innen maßgeblich durch die Struktur des Bildungssystems mitgeprägt und verstärkt wird. Aufgrund des vorherrschenden Halbtagssystems mussten Schüler:innen schon vor der Pandemie verhältnismäßig viel Lernzeit außerhalb der Schule verbringen. Dadurch werden familiär bedingte Ungleichheiten verstärkt. Die Folgen der Pandemie zeigen nun: Erhöht sich die Lernzeit zu Hause, nehmen diese familiär bedingten Ungleichheiten noch weiter zu.

Hinzu kommt, dass die frühe Selektion am Ende der Volksschule dazu beiträgt, dass diese Ungleichheiten kaum abgebaut werden können. Die vier gemeinsamen Volksschuljahre aller Kinder vor dem ersten Selektionszeitpunkt schienen schon vor der Pandemie nicht auszureichen, um die unterschiedlichen familiären Startbedingungen von Schüler:innen in der Schule auszugleichen. In Anbetracht der Zunahme von Lernrückständen – besonders in weniger privilegierten Familien – wird die frühe Selektion die herkunftsbedingten Bildungsungleichheiten noch verstärken.

Schüler:innen in Österreich sind zusätzlich in hohem Ausmaß räumlich nach sozio-ökonomischer Herkunft getrennt. Das ist problematisch, denn je höher der Anteil weniger privilegierter Schüler:innen an Schulstandorten ist, desto schwieriger ist es, sie zu einem erfolgreichen Bildungsabschluss zu bringen. Die Schulstandorte mit ohnehin großen Herausforderungen sind aufgrund der aufgegangenen Lernschere nun mit noch größeren Schwierigkeiten konfrontiert. Diese Schulen brauchen spätestens jetzt zusätzliche Mittel für mehr Schulentwicklung und bessere Rahmenbedingungen, um jedes Kind optimal zu fördern.

Die Lehren aus der Pandemie über die Schwachstellen des österreichischen Bildungssystems sollten jetzt als Gelegenheit genutzt werden, um alte Barrieren abzubauen. Dazu braucht es dringend grundlegende Bildungsreformen. Eine gemeinsame Schule, ganztägige schulische Betreuungsangebote und eine faire Schulfinanzierung nach dem AK-Chancen-Index sollten auf jeden Fall dazugehören.

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