Kein Pfusch am Bau! Verteilungspolitische Effekte der EU-Renovierungswelle

28. Februar 2023

Die EU-Mitgliedsstaaten sehen sich aktuell mit drei Krisen konfrontiert: der Klimakrise, einer Energiesicherheitskrise (als Konsequenz der russischen Invasion in der Ukraine) und einer sozialen Krise. Die soziale Krise meint zweierlei: zum einen die zunehmend von Energiearmut betroffene Bevölkerung und zum anderen Probleme für Haushalte infolge der gestiegenen Lebenskosten. Die EU-Renovierungswelle, wichtige Säule des Europäischen Green Deals und von NextGenerationEU, besitzt eine Schlüsselrolle bei den Antworten auf alle drei Krisen. Sie kann dieser Schlüsselrolle jedoch nur dann gerecht werden, wenn die Umsetzung der Renovierungswelle sozial fair erfolgt.

Was ist die Renovierungswelle?

We want everyone in Europe to have a home they can light, heat, or cool without breaking the bank or breaking the planet“, sagte der Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans zur Vorstellung der Renovierungswelle im Jahr 2020. Seine Aussage unterstreicht die soziale und ökologische Dimension des Gebäudesektors. Aus einer ökologischen Perspektive betrachtet verantwortet der Gebäudesektor rund 40 Prozent des Energiekonsums, und 36 Prozent der Treibhausgasemissionen der EU entfallen auf ihn. Aus einem sozialpolitischen Blickwinkel zeigt sich jedoch auch, dass trotz des hohen Energieverbrauchs, welcher die planetaren Grenzen übersteigt, in der EU immer noch zwischen 34 und 50 Millionen Einwohner:innen unter Energiearmut leiden. Die Ziele der Renovierungswelle müssen daher soziale und ökologische Lösungen für den Gebäudesektor beinhalten: die Dekarbonisierung vorantreiben UND Energiearmut bekämpfen. So soll die Renovierungswelle zu einer Verminderung der Treibhausgasemissionen von 60 Prozent bis 2030 und einer Verdoppelung der jährlichen Sanierungsrate über die nächsten zehn Jahre beitragen. Gerade im Angesicht der Bestrebungen, das Emissionshandelssystem ab 2026 auf den Gebäudebereich auszuweiten, ist eine sozial gerechte Umsetzung der Renovierungswelle zu einer wesentlichen Voraussetzung für einen sozialen und ökologischen Umbau geworden.

Warum renovieren?

Die Herausforderungen, die sich vor dem Hintergrund einer Umgestaltung hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft und den aktuell hohen Energiepreisen für das Thema Wohnen, Heizen und Leben ergeben, sind vielfältig. Eine energieeffiziente Renovierung des bestehenden Gebäudebestandes hilft Emissionen zu verringern und die Energiekosten zu senken. Gerade Letzteres ist in Zeiten volatiler Energiepreise für das alltägliche Leben der vielen besonders relevant und hilft, den finanziellen Druck zu mildern. Darüber hinaus wusste bereits John Maynard Keynes, dass im Gebäudesektor enormes Beschäftigungspotenzial schlummert. Berechnungen der EU-Kommission zur Renovierungswelle bestätigen den hohen Beschäftigungsmultiplikator von Sanierungen. Laut Kommission werden im Durchschnitt für eine zusätzlich investierte Million Euro 18 neue Arbeitsplätze geschaffen. Diese neuen Jobs entstehen vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen, welche in etwa 70 Prozent der Wertschöpfung im Bausektor erwirtschaften.

Mehr als nur Technik: eine verteilungspolitische und sozioökonomische Perspektive auf Europas Renovierungswelle

Diskussionen um die wirtschaftspolitische Umsetzung der Dekarbonisierung beschränken sich oft auf technische Fragen, z. B. nach der technischen Umsetzbarkeit, der Effizienz und hinsichtlich integrierter Systeme. Wenig beachtet werden hingegen die verteilungspolitischen Anforderungen und Wirkungen. Für eine erfolgreiche Umsetzung der Dekarbonisierung, gerade in einem so lebenswichtigen Bereich wie dem des Wohnens, sind sie jedoch entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung der Transformation im Gebäudesektor. Im Sinne einer sozialen und ökologischen Transformation muss die Umsetzung der EU-Renovierungswelle nicht nur dazu führen, dass der Gebäudebestand rasch saniert wird, sondern sie muss auch dazu beitragen, Energiearmut zu reduzieren und längerfristig die Energiekosten der Haushalte zu senken.

Besonders die Entwicklung von Kostenszenarien kann wesentlich dabei helfen, den verteilungspolitischen Auswirkungen der Renovierungswelle nachzuspüren und Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die folgenden Ergebnisse der quantitativen Kostenanalyse beleuchten die Auswirkungen der Renovierungswelle auf unterschiedliche Einkommensgruppen. Die Analyse wurde mittels Invert/EE-Lab-Simulationsmodells und auf Basis von Preis- (2021, 2022, 2021 + 30%, 2021 + 50%) und Renovierungsszenarien (Baseline- und „Fit for 55“-Szenario) für sechs Energieträger (Erdgas, Heizöl, Holz, Kohle, Strom und Fernwärme) durchgeführt:

Szenario A: Preise 2021                    

Szenario B: Preise 2022

Szenario C: Preise 2021 + 30% bis 2030

Szenario D: Preise 2021 + 50% bis 2030

EU-Renovierungswelle hat das Potenzial, Heizkosten erheblich zu senken

Die berechneten „Fit for 55“-Szenarien zeigen, dass die Umsetzung der Renovierungswelle das Potenzial besitzt, die Heizkosten in zwölf der europäischen Mitgliedsstaaten um mehr als 100 Euro zu senken. Durch die Renovierungswelle angestoßene Sanierungs- und Energieeffizienzmaßnahmen können, wenn sie gezielt für Haushalte mit niedrigem Einkommen verwendet werden, die finanzielle Belastung durch die anfallenden Energiekosten erheblich senken. Die Grafik zeigt die im „Fit for 55“-Szenario berechnete jährliche Kostenreduktion im 1. Quintil (20 Prozent der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen).

Es zeigen sich darüber hinaus auch deutliche Unterschiede im Kosteneffekt über die einzelnen Mitgliedsstaaten. Die unterschiedliche Ausprägung des Renovierungseffekts kann einerseits auf den unterschiedlichen nationalen Energiemix, unterschiedliche Energiepreise sowie meteorologische Bedingungen zurückgeführt werden. So wird beispielsweise für Malta und Portugal von einem geringen Heizbedarf und damit relativ niedrigeren Heizkosten ausgegangen, wohingegen für Polen ein höherer Energiebedarf mit vergleichsweise niedrigeren Energiepreisen angenommen wird.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Die Konsequenz des Krieges: Energiearmut ein wachsendes Problem

Während das Szenario A in seiner Analyse noch von der Preisentwicklung 2021 ausgeht, änderte sich die Preis- und Kostendynamik im Jahr 2022 dramatisch. Der Krieg in der Ukraine hatte auch für die Europäische Union verheerende Auswirkungen auf eine sichere Versorgung mit leistbarer Energie. Energie ist jedoch kein Gut wie jedes andere. Ohne Zugang zu leistbarer und sauberer Energie wird die Teilhabe am modernen gesellschaftlichen Leben unmöglich. Enorme Preissprünge stellen daher nicht nur eine energiepolitische Herausforderung dar, sondern sie führen in eine veritable soziale Krise und zu weiteren Wohlstandsverlusten.

Kann eine zielgerichtete Umsetzung der Renovierungswelle die soziale und die ökologische Frage verbinden?

Gerade Haushalte mit niedrigem Einkommen stehen bei Fragen der Sanierung, sofern es in ihrer Hand liegt und sie darüber bestimmen können, vor nicht zu bewältigenden Herausforderungen. Steigende Energiepreise durch einen zu langsamen Ausbau erneuerbarer Energien und eine bestehende hohe strukturelle Abhängigkeit von fossilen Energieträgern erschweren den Umbau hin zum klimaneutralen Europa weiter. Um einen sozial gerechten Umbau hin zum ersten klimaneutralen Kontinent zu schaffen, Energiearmut effektiv zu bekämpfen und eine stabile und leistbare Versorgung mit nachhaltigen Heizsystemen sicherzustellen, braucht es enorme Anstrengungen im Bereich der Sanierung und Renovierung. Die EU-Renovierungswelle kann zu diesem Generationenprojekt einen wesentlichen Anstoß leisten.

Zu alldem soll der Emissionszertifikate-Handel (ETS) ab 2026 in allen Mitgliedsstaaten zu einheitlichen Preisen umgesetzt sein und auch für den Gebäudebereich gelten. Um eine zielgerichtete Abfederung der dadurch entstehenden finanziellen Belastungen zu gewährleisten, ist es besonders wichtig, einkommensschwache Haushalte mit den nötigen finanziellen Mitteln auszustatten, um zum einen an der Renovierungswelle teilhaben und zum anderen temporär höhere Energiekosten überbrücken zu können. Braungardt und Kolleg:innen berechneten den Investitionsbedarf der EU-Mitgliedsstaaten für einen vollständigen Ersatz der bestehenden Heizungsanlagen für fossile Brennstoffe durch Wärmepumpen, wobei sie davon ausgehen, dass der Social Climate Fund (SCF) 100 Prozent der Ersatzkosten für Haushalte mit niedrigen Einkommen abdecken würde. Allerdings würde es selbst im optimistischsten Renovierungsszenario 14 Jahre dauern, um Wärmepumpen für alle Haushalte mit niedrigen Einkommen zu installieren. Deswegen, argumentieren die Autor:innen, bräuchten die Haushalte in diesen Jahren zusätzlich zur Investitionsförderung auch direkte finanzielle Unterstützung. Prinzipiell reicht das Volumen des SCF aus, um sowohl die Investitionskosten für Wärmepumpen als auch direkte Einkommensbeihilfen für Haushalte des ersten Quintils zu decken. Jedoch sind die Mittel des SCF noch nicht prozentual zugeteilt und es ist wahrscheinlich, dass viele andere Interessengruppen ebenfalls SCF-Mittel erhalten möchten.

Neben der europäischen Aktionsebene braucht es auch zielgerichtete nationale Maßnahmen im Kampf gegen Energiearmut und für eine rasche und sozial gerechte Umsetzung der Energiewende. Auch wenn die Bausteine für eine soziale und ökologische Wende des Heizens und Wohnens bereits vorhanden sind, bleibt noch viel zu tun, und die Zeit ist knapp. Einen Beitrag zur Wende kann, wenn sie entsprechend genutzt wird, die EU-Renovierungswelle leisten.

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