Digitaler Wandel darf nicht zu digitaler Krise werden

25. Februar 2021

Die COVID-19-Krise hat der Digitalisierung der Arbeitswelt einen Schub gegeben. In Österreich arbeitet jede bzw. jeder Fünfte in der Krise erstmals im Homeoffice. Viele Organisationen mussten ihre Prozesse rasant umstellen. Arbeiten auf/in der „Cloud“ ist nicht mehr Science-Fiction, sondern für viele mittlerweile Arbeitsalltag. Auch bei Tätigkeiten, die normalerweise keine Arbeit am Computer erfordern (z. B. im Sozialbereich) erfolgen administrative Schritte wie Zeiterfassung oder Urlaubsanträge nun auf digitalem Weg. Damit kann der Arbeitsalltag für viele zwar einigermaßen aufrechterhalten werden, diese Entwicklungen schaffen aber auch neue Hürden. Damit Digitalisierung eine positive Rolle als Treiberin des Strukturwandels in Arbeit und Wirtschaft einnehmen kann, braucht es politische Debatten und den Willen zur Gestaltung.

Digital Gap: Die Digitalisierung nimmt nicht alle mit

Die Bewältigung der Pandemie zeigt uns, dass der Zugang zu digitaler Infrastruktur sowie digitale Kompetenzen Voraussetzungen sind für gesellschaftliche Teilhabe – ob in der Bildung oder der Arbeit, in Wirtschaft, Kultur, Kunst oder Freizeitgestaltung. Wer mit den technologischen Entwicklungen nicht mitkann, ist sozial und wirtschaftlich ausgegrenzt.

Diese Chancen und Risiken der Digitalisierung sind jedoch ungleich verteilt, und zwar entlang der bestehenden Ungleichheiten durch Geschlecht, Alter oder Bildung, wie Stella und Laura Zillian zeigen. Diese „digitale Kluft“ liegt erstens an unterschiedlich gutem Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologie. Laut den Daten der Statistik Austria sind 90 Prozent der österreichischen Haushalte bereits mit einem Internetzugang ausgestattet, und 88 Prozent der Bevölkerung sind aktive Nutzer*innen. Aber Frauen und ältere Menschen nutzen das Internet deutlich weniger, so haben fast 40 Prozent aller Frauen über 65 noch nie das Internet verwendet! Zweitens sind auch die digitalen Kompetenzen ungleich verteilt. Hier spiegelt sich wider, dass Bildung in Österreich allgemein vererbt wird und Kompetenzen sich entlang der Dimension Geschlecht und stereotyper Rollen ungleich entwickeln. So „produzieren“ junge Männer eher digitale Anwendungen als junge Frauen.

Entgrenzung und Entsolidarisierung durch das Homeoffice

Mit dem rasanten Zuwachs an Homeoffice wurde ein großer Teil der Arbeitsorganisation digitalisiert. Damit wurde für viele Menschen die Arbeit in den privaten Bereich verlagert. Ganz buchstäblich mussten viele Arbeitnehmer*innen ihr privates Equipment verwenden, ihre Wohnung zum Arbeitsplatz umfunktionieren. Wie eine im Auftrag der AK durchgeführte Umfrage zeigt, wurden mehr Überstunden geleistet, eine Mehrheit der Arbeitnehmer*innen würde im Homeoffice eher nicht in den Krankenstand gehen und abends, auch spätabends oder am Wochenende arbeiten.

Es geht aber nicht nur um eine materielle Verlagerung in den privaten Bereich, sondern auch um eine soziale: Die Arbeit im Homeoffice führt zu Vereinzelung, die nicht nur psychisch belastend sein kann. Mit der Auflösung von physischen Betriebsstrukturen und der Verlagerung von Abläufen und Kommunikation in digitale Sphären lösen bzw. verändern sich auch soziale Netzwerke. Im schlimmsten Fall hat die Isolation im Lockdown eine Entsolidarisierung zur Folge, da die Möglichkeiten zur betrieblichen Mitbestimmung stark eingeschränkt sind.

Auf der Unternehmensebene werden Arbeitsabläufe rasant digitalisiert, die Arbeitnehmer*innen-Mitbestimmung ist hier gefordert mitzuziehen. Digitale Lösungen wie virtuelle Betriebsversammlungen, Kollaborationstools oder Abstimmungstechniken müssen erprobt  und auf eine solide rechtliche Grundlage gestellt werden. Eine Menge dieser Organisationsarbeit passiert über informelle Sozialkontakte, die sich über Jahre etabliert haben.

Die derzeit herausfordernden Rahmenbedingungen zur betrieblichen Mitbestimmung bedeuten letztlich auch weniger kollektive Verhandlungsmacht von Arbeitnehmer*innen. Diese wäre gerade in der aktuellen Krisensituation aber besonders gefordert. Organisierung oder gar Streiks sind teilweise nur schwer möglich. Der Druck auf den Arbeitsmarkt erfordert neue, dislozierte digitale Arbeitskampfformen, zum Beispiel mit einem Fokus auf Arbeitsabläufe oder Lieferketten.

Überwachungspotenziale und Plattformarbeit nehmen zu

Digitale Tools wie die Stopp-Corona-App haben in der Krise bereits für Aufsehen gesorgt. In der Arbeitswelt ist die Privatsphäre durch das Betriebsverfassungsrecht gut geschützt. Trotzdem steigt das Bestreben, die Produktivität von Menschen im Homeoffice zu überwachen: von Software, die prüft, ob regelmäßig geklickt oder getippt wird, über Arbeitgeber, die verlangen, dass ihre Mitarbeiter*innen durchgehend ihre Kameras einschalten. Solche Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre der arbeitenden Menschen müssen dringend bekämpft werden.

Üblich sind solche Eingriffe in der Gig Economy, deren Logiken – kurzfristig zugeteilte Aufträge, dezentrale, algorithmusbasierte Steuerung – sich aktuell auch auf andere Berufe und Branchen ausbreiten. Gerade in der COVID-19-Krise werden viele Aspekte des Alltags aufgrund von Ausgangssperren, der Schließung von Gastronomie und weiten Teilen der Dienstleistungsbranche online organisiert. Arbeit, die über Plattformen abgewickelt wird, nimmt zu, unter oftmals rechtlich unklaren und sozial unsicheren Umständen. Plattformarbeiter*innen haben das Gefühl, keine Kontrolle über ihre Arbeit zu haben und den Algorithmen hinter den Plattformen ausgeliefert zu sein: Das betrifft nicht nur Crowdwork, sondern auch das Erbringen von Übersetzungsleistungen oder Grafikarbeiten, das Zuteilen und Ausführen von Boten- und Reinigungsaufträgen, die COVID-19-Probeneinholung, aber auch die Pizzabot*innen und Essenslieferant*innen, die das Stadt- und Straßenbild wie nie zuvor prägen. Hier besteht dringender Regulierungsbedarf, zumal anzunehmen ist, dass der Trend zur Plattformarbeit im Neben- oder Haupterwerb zunimmt.

Digital Gender Divide

Im Zuge der COVID-19-Krise fällt im Kontrast zu vergangenen Wirtschaftskrisen auf, dass Frauenarbeitslosigkeit nicht nur rasant zunahm, sondern auch langsamer zurückging. 85 Prozent jener Menschen, die durch Corona ihren Job verloren haben, sind Frauen. Deutsche Studien zum Homeoffice zeigen außerdem, dass die Annahme stark ausgeprägt ist, dass Frauen im Homeoffice weniger produktiv sind, weil sie von Kindererziehung und Haushaltsarbeit vereinnahmt werden. Auf die Wahrnehmung von Männern hat Homeoffice hingegen kaum einen Einfluss; Väter beteiligen sich auch nicht wesentlich mehr an Sorgearbeit. Ganz im Gegenteil, die ungleiche Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern hat zugenommen.

Die Auswirkungen auf den Arbeitsalltag sind massiv: Frauen kommen in Krisenzeiten seltener zum Zug, wenn gute Projekte verteilt werden oder Beförderungen anstehen. Mehrfachbelastung und der Druck auf Frauen sind in der COVID-19-Krise generell enorm gestiegen. So gaben in der schon zitierten Studie 60 Prozent der Befragten an, eher vom Homeoffice aus zu arbeiten, als Pflegefreistellung in Anspruch zu nehmen, wenn Kinder oder nahe Angehörige erkranken. Die unbezahlten Arbeitszeiten von Frauen, vor allem Alleinerziehende und Frauen in Hetero-Paarhaushalten mit Kindern, schnellten noch weiter in die Höhe. All das erklärt, warum Frauen – wieder vor allem Alleinerziehende und Frauen in Hetero-Paarhaushalten mit Kindern – angeben, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert hat.

Soziale Digitalisierung

Digitalisierung wird oft mit Arbeitsplatzverlusten assoziiert. Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung als Antwort auf die Beschäftigungskrise sind sinnvoll und leistbar. Wenn man sich die Beschäftigungsentwicklung des 20. Jahrhunderts ansieht, gab es trotz beispiellosen technischen Fortschritts langfristig keine steigende Tendenz der Arbeitslosigkeit. Die Arbeitszeit zwischen 1870 und 2000 halbierte sich. Durch Digitalisierung fallen nicht nur oft belastende, repetitive Arbeiten weg, es entstehen auch einige ganz neue Berufe. Es braucht also eine gerechte Verteilung von vorhandener Arbeit und eine Aufwertung von lebenswichtiger Care-Arbeit.

Relevant ist dabei die Spannung zwischen digitalisierbaren, automatisierbaren und hochproduktiven Wirtschaftszweigen (z. B. Produktion) und arbeitsintensiven, körperlichen, aber im Verhältnis weniger produktiven Wirtschaftszweigen (z. B. Handel, Gesundheits- und Sozialwesen, körpernahe und persönliche Dienstleistungen). Während Erstere eher männlich dominiert sind, arbeiten in Letzteren deutlich mehr Frauen. In den weiblich dominierten Bereichen sind Effizienzsteigerungen oder gar zusätzliche Produktivitätsgewinne durch Digitalisierung und Automatisierung nicht zu erwarten. Das heißt, dass die arbeitsintensiven Tätigkeiten im Verhältnis immer kostenintensiver werden, aber gleichzeitig immer relevanter.

Bei der Aus- und Weiterbildung im Zuge der Corona-Arbeitsstiftung müssen diese Aspekte des Strukturwandels mitgedacht werden. Nachhaltige Umschulungen orientieren sich an Wohlstand, guter Arbeit und Lebensqualität. Damit der digitale Wandel nicht zur digitalen Krise wird, muss Digitalisierung als sozialer Prozess konzipiert werden. Nur mit dem Menschen als zentrales Moment kann eine umfassendere sozial-ökologische Transformation gelingen.

Hinweis

Mit dem Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0 legt die AK Wien deshalb einen Fokus auf gerechte Gestaltung und soziale Regulierung von digitaler Arbeitsorganisation in und nach der Krise. Wir treten Tendenzen der Entsolidarisierung und Entdemokratisierung in Betrieben und Gesellschaft durch Digitalisierung bewusst entgegen und fördern Ideen, Projekte und soziale Innovationen, die gesellschaftliche Teilhabe und qualitätsvolle Arbeit trotz oder gerade durch den digitalen Wandel ermöglichen.